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Es war Herbst geworden. Lotte mochte das Changieren der Farben in den Bäumen, das mit einem satten Grün begann, bald darauf die Spitzen erreichte, heller und heller wurde und sein Farbenspiel über lichtes Gelb bis zum flammenden Orange versprengte. Sie stellte sich dann immer vor, dass die Natur die kühle Nässe mit feurigen Farben auszugleichen versuchte. Wenn sie so in Gedanken versunken den orangefarbenen, blätterbedeckten Weg der Eilenriede in Richtung Oststadt entlanglief, raschelte es unter ihren Schritten. In der Mittagspause erlaubte sie sich oft einen kleinen Freigang und freute sich jetzt schon auf die Kartoffelsuppe, die Else in der Zwischenzeit zubereitete. Ihre Freundin half ihr jetzt öfter in der Schule aus. Vor einigen Wochen hatte sie ihre Anstellung verloren wie fast jeder dritte in Hannover, aber Lieselotte war sich ziemlich sicher, dass Else bald wieder etwas finden würde, und so lange konnten sie und Erwin ein wenig Unterstützung gebrauchen, denn die kleine Käthe war wegen Krankheit länger ausgefallen.

In der Tat hatte sich Else noch immer keinen Verehrer angeschafft. Ganz geheuer war Lieselotte diese neue Laune nicht, aber ihr sollte es nur recht sein, so konnte sie sich auf Else verlassen. Gespart wurde gerade an allen Ecken und Enden. An ihrer Schule jedoch waren sie erfinderisch. Wenn es ihnen aufgrund des neuen Zulaufes an Medizinbällen oder Hanteln mangelte, taten es bei ihnen auch mit Sand gefüllte Säcke in allen möglichen Größen. Erwin war einem regelrechten Säckewahn verfallen. Er schaufelte, wog und füllte, und sie nähte. Im Grunde eine praktische Angelegenheit, vor allem hatten die Beutel den Vorteil, dass man das Gewicht selbst bestimmen konnten. Außerdem zerstörten sie beim Herunterfallen nicht das Parkett wie die Eisengewichte, und solange das schöne Fischgrätenmuster noch in Ordnung war, brauchten Erwin und Lotte nicht an Linoleum zu denken.

Erwins Kurse liefen inzwischen richtig gut. In seinen Gruppen tummelte sich einiges quer durch alle sozialen Stellungen. Ganz selten waren mal Berufskünstler mit von der Partie, so wie Artjom. Da kamen sogar Laboranten, Beamte, Handwerker, Tippfräuleins, Wäscherinnen und Lehrlinge zu ihm. Erwin war stolz darauf und konnte gar nicht oft genug betonen, wie wichtig es wäre, dass diese Menschen nur um der Sache willen ihrer künstlerischen Nebenbeschäftigung dienten. Gerne prahlte er damit, dass keiner von seinen Schülern auf die Idee kommen würde, das Tanzen zu einem Brotberuf zu machen. Es gehe ihnen nicht ums Geld. Deshalb könne man seine Laienkurse gar nicht hoch genug bewerten. Sie seien der Fingerzeig in eine neue Gesellschaft. Lotte schmunzelte nur darüber, aber es lief wirklich gut.

Sie beschleunigte ihren Schritt in Richtung Schule in der Lange Laube, denn ein unangenehmer Nieselregen setzte ihr zu. Von allen Seiten trieb er ihr die Nässe in den Überzieher.

„Es ist draußen so widerlich!“, rief sie laut in Richtung der kleinen Küchenzeile, als sie ihren Mantel ablegte und die Tür verschloss, deren Scharniere schon seit Längerem lose waren. „Man könnte meinen, es regnet von unten! Hallo?“ Rasch zog sie die Schuhe aus und wischte sich mit dem Schal das Gesicht trocken. Sie wunderte sich, dass ihr niemand antwortete.

„Else?“, rief sie in Richtung Küche, aus der ein würziger Suppenduft strömte. Sie lauschte, aber niemand antwortete ihr. Besorgt eilte sie zum Herd und erschrak. Dort stand der Topf auf dem Feuer. Sie bückte sich, öffnete die Ofenklappe und stellte mit Erleichterung fest, dass das Feuer bereits erloschen war. Keine Else weit und breit! Die Suppe war heiß, eigentlich genau richtig. Wo blieb Erwin? Normalerweise wäre er längst in der Küche gewesen, zusammen mit Artjom, der inzwischen aus der Schülerriege in die künstlerische Leitung aufgestiegen war.

Lieselotte zog sich die Gymnastikschuhe über, stellte vier Teller zum Anwärmen auf die heiße Ofenplatte und lief die Treppe hinauf zu den Übungsräumen. Laut und deutlich hörte sie Erwins Stimme hinter der Tür zum Tanzraum streiten. Sie diskutierten gerade die neueste Studie. Manchmal konnte Lotte kaum noch unterscheiden, ob sich Erwin in einer KPD-Versammlung oder einem Probegespräch befand. Er war viel aggressiver geworden und verlor sich oft in einem Tunnelblick. Abgekämpft und angespannt kam er dann abends nach Hause und teilte Menschen nur noch ein in die, die sich „der Sache“ verschrieben hatten, und die, die kein Hirn im Kopf, dafür aber schöne schwarze Stiefel besaßen; unerbittlich zog ihr Mann eine harte Trennlinie zwischen denen, die noch tanzen durften, und denen, die schon marschierten. Manchmal jagten ihr seine fiebrige Augen Furcht ein, besonders, wenn er vom Sturz des Kapitalismus sprach, nötigenfalls auch mit Gewehr und Handgranaten. Das klang nach Krieg. Davon wollte sie nichts hören. Was hatte ihr Tanzen mit dem Ränkespiel machtbesessener Meuten zu tun? Nichts. Zersetzendes Parteigeklüngel gehörte nicht auf die Bühne ihrer Schule, denn es verschmutzte die Reinheit der Kunst. Man machte sich dadurch nur zur Dienerin irgendwelcher Ansichten. Es reichte schon, dass Berta sich in irgend so einem linken Kunstverbund engagierte und sogar bei Linksran! mitmischte. Erwin übertrieb es mit seinem Eifer, die Welt gut zu machen.

In Berlin, so hatte er letztens berichtet, seien allein Tausende Tänzer und Sänger bei einer KPD-Veranstaltung aufgetreten. Und seit Kurzem hatte er sich auf einen Mann eingeschossen, der Harald Kreutzberg hieß und bei der Wigman gelernt hatte. Sein neues Idol war ihm unglaublich wichtig, weil er mit Arbeiterchören arbeitete. Harald hier und Harald da, dachte sie, als sie ihn drinnen über „die Festidee im täglichen Leben“ debattieren hörte. Die Suppe wird gerade kalt, und ich habe gleich noch drei Gruppen. Beherzt stieß sie die Tür auf und rief ihrem Mann zu: „Ich werde jetzt essen.“

Erwin, der inmitten seiner Laientänzer auf dem Boden hockte, sah nur kurz auf, nickte, nahm aber keine weitere Notiz von ihr. Zu tief war er mit seinen Gedanken in die Debatte verstrickt. Jetzt ärgerte sie sich doch. „Hast du Else Marie gesehen?“, fuhr sie ohne Rücksicht in das Probengespräch.

„Nein“, erwiderte er ungehalten. Dennoch, bei Nennung des Namens ihrer Freundin schaute er sie endlich an. Merkwürdig. „Warum?“, hakte er nach. Elses Verbleib scheint ihn einen winzigen Bruchteil mehr zu interessieren als unser gemeinsames Mittagessen, dachte sie plötzlich.

„Sie ist nicht da. Du bist nicht da. Aber die Suppe steht auf dem Ofen“, sagte sie unmissverständlich.

„Nimm sie doch runter. Ich bin gleich bei euch.“ Damit wandte er sich wieder seinen Leuten zu und fuhr mit der Ansprache fort. Sie mochte sein Gerede nicht mehr hören, sie fand es geradezu lächerlich, wie sie an seinen Lippen hingen, wenn er wieder einmal eine seiner Visionen entwarf, die er Tanzkrieg nannte.

„Die Russen und die Bayern machen das ja in ihren Volkstänzen schon, nur viel rudimentärer, aber ich denke da an eine neue Art …“

Zornig knallte Lotte die Tür ins Schloss, stiefelte nach unten, setzte sich an den wackligen Tisch und aß ihren Teller leer. Dann begab sie sich in die Umkleideräume und versuchte ihre Verstimmung über Erwin und Else wegzudrängen. Rasch zog sie sich um und begab sich in den kleinen Gymnastiksaal. Nur wenige Minuten später trafen ihre Schüler und Schülerinnen ein. Das muntere Geplapper der Kinder verstummte, als sie zur Handtrommel griff. Einige verzogen schon die Gesichter, bevor sie sich bückten. Das Klappsche Kriechen war nicht sonderlich beliebt, aber für Rückenschwächlinge unabdingbar, wollten sie später nicht einen hässlichen Buckel bekommen.

Im Nu war die Stunde verflogen. Sie schickte die Kinder hinaus und öffnete die Läden. Auf dem Parkett hatten sich kleine Pfützen gebildet. Das Holz war undicht und die Fenster schlossen nicht mehr. Irgendwann müsste sie sich auch darum kümmern. Seit einem Jahr hieß es mal wieder, das Geld zusammenzuhalten, der schwarze Freitag hatte eine neue Zeit eingeläutet, die Lotte nur allzu bekannt vorkam. Hoffentlich nicht wieder dieser schreckliche Preisverfall, dachte sie, während sie die Treppe hinunterstieg. Als sie die Küche betrat, erschrak sie. Da stand Erwin in enger Umarmung mit Else Marie. Ihre Freundin atmete heftig und klammerte sich an ihn, während Erwin versuchte, sie ruhig zu halten. Als er Lotte in der Tür stehen sah, wich er von Else zurück, die ein jämmerliches Bild bot.

„Was ist los?“, fragte Lotte kühl.

„Bei uns zu Hause wurde eingebrochen!“, schluchzte Else.

„Eingebrochen?“, höhnte Erwin. „Warum lügst du?“

Lotte war verwirrt. Diebe bei Else? War sie deshalb so plötzlich verschwunden? War die Polizei hier gewesen und hatte Else von einem Einbruch benachrichtigt? Weshalb hatte dann niemand die Schupo vor ihren Fenstern bemerkt?

„Kannst du mir bitte sagen, was genau passiert ist?“, forderte sie, ohne Erwin eines Blickes zu würdigen. Aber ihre Freundin war außerstande, einen klaren Satz herauszubringen. „Meine Mutter hatte angerufen …“ Mehrfach setzte sie zum Sprechen an, kam aber nicht zu Wort, weil ein erneuter Weinkrampf sie schüttelte. Erwin wagte es nicht mehr, sie anzurühren, und auch Lotte hielt sich zurück, sie in den Arm zu nehmen, jedenfalls so lange, bis sie nicht genau erfahren hatte, was los war.

„Im Geschäft ihres Vaters sind die Scheiben eingeschlagen worden. Kein Einbruch, das war Terror“, sagte Erwin.

„Haben sie etwas gestohlen?“

Else vergrub nur ihr Gesicht in den Händen. Langsam wurde Lotte mulmig. Seit Jahrzehnten führte ihr Vater sein gutgehendes Uhrengeschäft. Früher, in der Schulzeit, hatte Else Lieselotte oft mitgenommen. Die vielen goldenen und silbernen Schmuckstücke! An Elses Arm fühlte sie sich wie die gehobene Gesellschaft höchstpersönlich. Der Uhrmacher hatte ihre Hand ergriffen und sie galant begrüßt. In seinen Augen war immer ein Funkeln. Er vergoldet die Zeit, dachte sie damals. Und jetzt?

„Nichts gestohlen. Nur kaputtgemacht. Weiß beschmiert. Und alles ist voller Glas“, brachte Else hervor.

„Terror“, wiederholte Erwin vor Wut. „Brauner Terror.“

„Aber wieso?“, fragte Lotte. Else schüttelte den Kopf und brachte kein Wort mehr heraus. Es dauerte, bis Lotte endlich begriff. Dann ging sie auf Else zu und nahm sie in den Arm.

„Wir brauchen Hilfe beim Aufräumen, meine Mutter ist nicht in der Lage…“, weinte Else.

Ist ja gut“, flüsterte Lotte und wiegte sie sanft hin und her. Lieselotte wollte nicht glauben, dass ausgerechnet Else, dem immer fröhlichen Schmetterling, etwas Böses zugestoßen war. Dass der Uhrmacher ganz ohne Grund überfallen wurde, erschütterte sie in ihrem Glauben an das Überleben der Tüchtigen. Die Welt zerbröckelte, und je länger sie lebte, umso grauenhafter gebärdete sich die Wirklichkeit. Dabei war sie noch nicht einmal siebenundzwanzig.