„Denkt mehr an das Körperliche. Weniger an euer Gesicht“, erklärte Berta Habenicht den Mädchen in der Vortanzgruppe. Sie hatten die Bühneninspektion im Künstlerhaus beendet, danach gegenüber der Oper etwas gegessen und waren nun wieder auf dem Weg zurück ins Foyer.
Als Berta mit ihren Mädchen die Stufen des Künstlerhauses am steinernen Löwen hinaufeilte, kam ihnen Lieselotte Daube entgegen. Ihre Miene verriet großen Zorn, als sie ihre ehemalige Lehrerin erblickte. Ohne auszuweichen, hielt sie auf die Mitte der Gruppe zu und lief die Treppen hinab. Wäre Berta ihr nicht ausgewichen, hätte Lotte sie umgerannt. Berta schüttelte nur den Kopf und wies ihre Seminaristinnen an, sich zu beeilen.
Eine Stunde blieb ihnen noch. Aber die Garderoben waren gerade durch die Gellert-Daube-Gruppe besetzt worden, und so waren sie gezwungen, im Foyer auszuharren. Mit unterdrückter Aufregung warteten die Seminaristinnen in der kühlen Halle, während Berta hier und da innehielt und einige Kunstwerke erklärte. Vor der Karikatur eines gebeugten Akademikers blieb sie stehen.
„Auch der Leib kann durch zu viel Geist dicht werden, nicht nur das Gesicht, wie man hier sieht“, dozierte sie. „Da gehen Leute, so wie heute, auf eine Kunstausstellung, kaufen sich schöne Akte von anmutigen Leibern in Öl. Geben ihnen einen Platz an der Wand statt im eigenen Körper!“, spottet sie. Die Tänzerinnen tuschelten.
„Das muss ausgerechnet sie sagen“, ereiferte sich Ilse. Trude stieß ihr mit dem Ellenbogen in den Oberarm. „Fülle hat rein gar nichts mit Haltung zu tun, du Dummchen.“
Berta beobachtet zwar, dass die Mädchen nicht bei der Sache waren, aber sie ging nicht weiter darauf ein, sondern bemühte sich, die Wartezeit zu überbrücken.
„Die Welt, meine Damen, beschwört ganze Geisteskriege in der Beurteilung der Kunst herauf. Finden Sie nicht, man sollte die Zeit, welche man im Bewerten von Kunstwerken vergeudet, lieber dazu verwenden, die Stellungen der schönen Akte nachzuüben? Warum soll eine Kollektion schöner Gesten nicht ebenso wertvoll sein wie eine Porzellansammlung?“
Trude nickte eifrig, und die blonde Valeria schaute sich ständig um. Berta hatte davon gesprochen, dass ihre Sprungfotos aus den Gärten ausgestellt sein würden, aber sie konnte nichts entdecken, außer Malerei und Plakatkunst.
Langsam wurde Berta die Unruhe zu viel.
„Valeria, was recken Sie so den Hals? Erwarten Sie etwa jemanden? Es dauert noch, bis das Publikum eingelassen wird.“
„Sie sucht die Fotos vom Herrn Hauschild“, erklärte Ilse, als Valeria errötete. Die Ungeduld der Jugend, dachte Berta. Und ausgerechnet den Eitlen fehlt es an Disziplin. Eine Verschwendung von Schönheit, diese Valeria. Stark in der Ausführung, aber schwach beseelt. Ilse, das ganze Gegenteil, schlampige Ausführung, aber genial in ihren Ideen. Nur Trude hatte beides. Leider nur nicht das dazu passende Gesicht.
„Sie hängen dort hinten!“ Berta wies in Richtung eines Flures.
„Dürfen wir sie ansehen?“ Den bittenden Mädchen stand die Ungeduld ins Gesicht geschrieben.
„Ab, Marsch!“, erlaubte Berta. „In fünf Minuten seid ihr wieder hier und auf dem Weg zu den Garderoben.“ Noch bevor sie die letzten Worte ausgesprochen hatte, stürmten die Mädchen los. An ihren kleinen Jauchzern erkannte Berta, wie sehr es ihnen gefiel. Jetzt, wo die Fotos im Passepartout nebeneinander aufgereiht und gut beleuchtet waren, wähnte sich Berta stolz und zufrieden. Ein seltenes Gefühl, wie sie sich eingestehen musste.
„Warum stehen hier noch andere Bilder auf dem Boden herum?“, hörte sie Gertrude laut fragen. Berta blickte um die Ecke. Unter den aufgehängten Hauschild-Fotos standen weitere Abbildungen an die Wand gelehnt.
„Frau Habenicht, ich denke, sie öffnen hier in einer Stunde? Warum haben die Aussteller nicht fertig gehängt?“, wunderte sich Gertrude.
„Räumt sie rasch zusammen, stapelt sie übereinander und bringt sie weg!“, ordnete Berta an.
„Wohin damit?“, fragten die Mädchen, als sie alle Bilder aufgesammelt hatten.
„Folgt mir“, befahl Berta. Und hübsch hintereinander stiegen die Mädchen mit ihrer Lehrerin die Treppe hinab in die Kellerräume, wo ihnen Berta eine Ecke zuwies, in der ein kleiner, alter Schreibtisch stand, auf den sie die Bilder stapelten.
„Das sind alte Fotos. Sie haben sie vermutlich vergessen, nach dem Abhängen wegzustellen. Dann klatschte sie in die Hände.
„So, nun wird es Zeit!“ Die Mädchen parierten. Endlich waren die Garderoben frei.
Die Eröffnung hatte bereits begonnen, aber die Ankündigungsreden zogen sich in die Länge. Noch immer standen alle im Foyer des Künstlerhauses herum. Unzählige Begrüßungsworte strapazierten ihre Geduld. Unausgeschlafen stand der Leiter des Sportamts Hannover neben dem Gauleiter der Fachschaft Sport, Gymnastik und Tanz. Nachdem sich drei Redner unerträglich lange über den Begriff „der deutschen Gymnastik an sich“ ausgelassen hatten, taten den Mädchen die Beine vom Stehen weh. Auch Berta und Dorothea rollten mit den Augen, während sie die Stimme des Redners über sich ergehen ließen.
„Nein, die Frau soll nicht aus dem Beruf gedrängt werden! Aber sie muss zurück zu ihrem Ursprung finden. Politik und die Wehrhaftigkeit gehören zum Manne“, schmettert er. „Leider hat der sich zunehmend verweiblicht und die Frau vermännlicht. Die Schöpfung jedoch gibt uns alles, was wir brauchen. Eine Frau ist von Natur aus schön, wenn sie gesund ist. Sie sehen es alle an den Bildern hier. Sie braucht keine Hilfsmittel dazu.“ Streng sah der Mann in die Runde und beobachtete, wie sich einige Mädchen hastig den Lippenstift an ihren Handrücken abwischten. Hauptsache, das Zeug landet nicht auf den Tanzkitteln, dachte Berta. Wieder erhob der Redner die Stimme. „In diesem Sinne bewundern wir gleich nach den Lyrikvorträgen die Anmut und Schönheit unserer Tänzerinnen.“ Er nickte erst in Richtung Berta und erwies dann auch Lieselotte seine Ehrerbietung durch einen angedeuteten Diener.
„Die Bewegungsschulen Habenicht und Daube-Gellert zeigen ab fünfzehn Uhr erarbeitete Schaubilder und Tanzpoeme aus ihren Ausbildungen.“
„Wenn die Daube-Gellert-Kompagnie so missmutig tanzt, wie sie gerade schaut, dürfen wir uns über einen amüsanten Nachmittag freuen“, raunte Dorothea Berta zu.
„Du hast übrigens die Bilder stehenlassen“, entgegnete Berta leise.
„Ich weiß. Die Hunde sind mir entwischt! Ich hätte mich noch darum gekümmert.“
„Ich frage mich nur, wann?“
„Scht, sei leise, Die Gedichtvorträge beginnen!“ Berta schaute ihre Gefährtin von der Seite an, deren Profil höchste Erwartung verriet. Eines der Poeme stammte aus Dorotheas Feder. Das kleine Kunstgedicht hatte es vor einigen Wochen sogar in die Tageszeitung geschafft, und Dorothea war stolz darauf. Leider zog sich der erste Beitrag quälend in die Länge und der schlecht gesprochene Text sorgte für leichte Unruhe bei den Zuschauern.
„Warum lässt man, bitte schön, so exzellente Autoren als grauenhafte Vorleser auf die Bühne?“, beschwerte sich Dorothea.
„Weil es lediglich auf den künstlerischen Gehalt ankommt, meine Liebe“, erwiderte Berta ironisch lächelnd. „Du sollst eben wach bleiben und dich anstrengen beim Zuhören.“ Da verstand Dorothea jedoch keinen Spaß. Schließlich hatte sie selbst darauf verzichtet, persönlich zu lesen und den Vortag einer Professionellen überlassen.
„Wenn es um die Erziehung der Hörerschaft gehen soll, dann kann man die Zuhörer gleich während der Lesung an eine Sprossenwand hängen und sie Bauchmuskelübungen absolvieren lassen! Hätte denselben Effekt.“
Bei dieser Vorstellung musste sich Berta das Lachen verkneifen. Im Übrigen war sie bestens gelaunt, denn sie war sich sicher, die Habenicht-Mädchen würden ihre Sache gut machen. Während ihres Vor- und Nachspiels, das lediglich von Geräuschmusik untermalt wurde, hatten die Turnerinnen gleich fünf Handgeräte auf einmal in Beschlag genommen. Das war ein Novum! Danach würden sie eine Variation zu einem Thema von Haydn tanzen, die Irma Dorn auf dem Klavier begleitete. Berta hatte unter den Anwesenden die Presse entdeckt und war schon sehr gespannt auf die Kritiken. Mit heimlicher Freude registrierte sie auch, dass Irma eine hübsche, schwarze Brosche an ihrer Bluse trug.