„Was tust du da?“, fragte Lotte überrascht, als sie Käthe schreibend am Küchentisch vorfand. Das Mädchen schreckte auf, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Eimer.
„Schreibübungen“, erwiderte sie rasch. „Nichts Besonderes.“
An ihrem ertappten Blick erkannte Lotte sofort, dass sie log. Schnurstracks ging sie zum Eimer, fischte das Blatt heraus und las. Käthe sackte zusammen und wurde dunkelrot. Sie sah so elend aus in ihrer Kleinmädchenscham, dass Lotte meinte, gleich sonst etwas zu lesen zu bekommen. Einen Liebesbrief vermutlich oder ähnliches. Ihre Augen überflogen die dahingekritzelten, teils durchgestrichenen, teils neu überschrieben Zeilen und ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkeln. „Hattest du gerade nichts zu tun?“
Erleichtert blickte Käthe auf, schon weniger kläglich. Ihre Lippen bebten, als sie Lieselotte erklärte: „Ich sollte doch warten, Frau Daube-Gellert, auf den Herrn Otto mit dem Kohlekarren für die letzte Bestellung. Aber der ist gar nicht gekommen und da habe ich angefangen, dieses kindische Zeug aufzuschreiben. Aus Langeweile.“ Belustigt hob Lotte die Augenbrauen. Käthe hatte sich einer Reimerei bedient, die sie in einer der Atemgymnastikstunden aufgeschnappt hatte.
„So dumm finde ich es gar nicht. Es ist sehr amüsant. Was hältst du von einer spontanen Veröffentlichung?“ Ungläubig weiteten sich Käthes Augen. Sie meinte, sich verhört zu haben, aber Lotte fuhr fort: „Ich denke natürlich an eine exklusive Veröffentlichung, eine Publikation für eine einzige Person.“ Noch immer starrte Käthe sie verwirrt an.
„Schreib das doch bitte noch einmal sauber ab.“
Hatte sie richtig verstanden? Käthe begriff nicht. „Wie meinen Sie das?“, stammelte sie hilflos.
„Wie ich es sagte. Wir schicken deine Verse der Dame mit dem toten Hund.“ Dem Mädchen schienen die Augen aus dem Gesicht zu fallen. Machte Frau Daube-Gellert einen bösen Scherz? War sie vielleicht so wütend auf sie, dass sie sie verhöhnte? Wortlos starrte Käthe Lieselotte hinterher, als ihre Arbeitgeberin schnurstracks in ihr Büro ging und einen Umschlag samt Briefmarke holte. Als sie zurückkehrte, lächelte sie immer noch freundlich. „Nur eine kleine Revanche, Kind. Mehr ist es nicht. Ich finde, das hat sie verdient. Einmal mehr, nach dem, was du mir berichtet hast.“ Jetzt erst begriff Käthe, dass Frau Daube-Gellert es ernst meinte.
„Aber ist das nicht kriminell? Das ist doch Verleumdung?“
„Mag sein. Aber ohne einen Absender? Wer soll es je herausbekommen?“ Höhnisch lachte sie auf. „Außerdem: Was die Habenicht getan hat, war das etwa rechtens?“ Verächtlich schüttelte sie den Kopf. „Außerdem kennt sie deine Schrift gar nicht, und jetzt starr keine Löcher mehr in die Luft und schreib. Wer A sagt, muss auch B sagen – Damit du nicht umsonst gedichtet hast.“ Sie lächelte milde.
Käthe zögerte, aber als sie sah, dass Lotte sich von ihr abwandte und in ihrem Büro die Bewegungsnotation der nächsten Unterrichtsstunde überarbeitete, begab sie sich an den Küchentisch, überwand ihre Scheu und übertrug in gestochener Schönschrift ihre spontan gereimten Verse auf ein Blatt weißes Büttenpapier.
Warte, warte nur ein Weilchen
in den Beeten blühn die Veilchen
Im Gesicht und an den Armen
blühn sie auch! Ohn’ ein Erbarmen.
Einstmals wollten zwei Ameisen
sich ihr Kleid vom Leibe reißen,
schamlos alle Hände strecken nach
den Mädchen u n d den Recken,
Unzucht treiben wild und wilder
Ehre stehlen und auch Bilder.
Wer auf solchem Boden ruht
ist von schändlich schlimmem Blut.
„Ich habe es fertiggeschrieben“, meldete sich Käthe nach zehn Minuten.
„Dann pack es ein! Die Adresse kennst du ja“, erklang prompt die Antwort aus dem Nebenraum.
Käthe tat wie geheißen, faltete das Blatt, schob es in den Umschlag, feuchtete die Marke an und machte den Brief versandfertig.
Lotte trat aus dem Nebenraum und besah sich zufrieden das kleine Werk ihrer Vergeltung.
„Jetzt geht es mir deutlich besser“, sagte sie zu Käthe und streichelte ihr über den Kopf. „So etwas braucht der Mensch manchmal für sein Gleichgewicht.“
Käthe stand noch immer im Bann ihrer Sprachlosigkeit, aber im Grunde fand sie diesen kleinen, bösen Scherz nur angemessen, zumal ihr Frau Daube-Gellert erzählt hatte, dass die Habenicht trotz dieses Vergehens noch immer im Vorstand bleiben durfte und lediglich eine Verwarnung bekommen hatte.
„Soll ich ihn gleich einwerfen?“, fragte sie eifrig.
„Ja, aber vorher schaust du bitte noch bei Herrn Otto vorbei, wegen der verpassten Lieferung, und falls er da ist, machst du einen neuen Termin.“
„Ja.“ Käthe trat, nachdem sie aus dem Fenster geschaut und sich in der Diele eine Pelerine angezogen hatte, von einem Bein auf das andere.
„Was ist? Du bist doch nicht aus Zucker. Hast du etwas vergessen?“
„Ja … also ich wollte … also, darf ich Sie vielleicht noch etwas fragen?“
Lotte nickte. „Nur zu.“ Aber das Mädchen schwieg betreten. „Was ist denn?“
„Und Sie sind mir auch wirklich nicht böse, wenn ich diese Frage stelle?“
„Nein, spuck’s aus. Was brennt dir unter den Nägeln?“
Käthe holte tief Luft, nahm Haltung an und stieß hervor: „Warum hat die Frau Habenicht Sie eigentlich enterbt?“
„Wie bitte?“ Lotte lachte schrill auf. Hatte sie Käthe richtig verstanden? Das Mädchen war zusammengezuckt.
„Ich meine … ich weiß nicht … vielleicht habe ich es auch falsch verstanden“, stotterte sie. Frau Daube-Gellert trat bedrohlich nah an sie heran und Käthe bekam es mit der Angst zu tun. Dieser Blick! Sie hätte die Frage lieber für sich behalten sollen.
„Was hast du da gehört, Mädel?“ Ihr Griff an den Schultern tat weh. Käthe wimmerte fast.
Energisch schob sie das Mädchen zurück in die Küche und drückte es auf einen Stuhl nieder. „So, noch einmal ganz von vorn!“, befahl sie. „Was ist das für ein himmelschreiend dummes Gerücht?“
„Also“, begann Käthe, „in der Galerie, als ich vor den Bildern stand, da haben sie es beide gesagt.“
„Was haben sie da gesagt?“
„Die Bragge hat die Habenicht gefragt … nein … die Bragge hat der Habenicht vorgeworfen, dass Sie beinahe ihre Erbin gewesen wären.“
Als Lieselotte nichts erwiderte, raffte Käthe all ihren Mut zusammen.
„Wären Sie sonst etwa die Nachfolgerin an der Habenicht-Schule, Frau Daube-Gellert?“, fragte sie voller Ehrfurcht. Lotte wurde kurz schwarz vor Augen, sie musste sich setzen. Angesichts dieser Behauptung war sie sprachlos. Ganz sicher hatte Käthe da etwas missverstanden. Sie brauchte jetzt unbedingt ein paar Minuten, um sich zu sammeln.
„Ja“, stieß sie leise und beherrscht hervor. „Da hast du tatsächlich eine ganze Menge durcheinandergebracht.“ Trotz ihrer Erregung versuchte sie möglichst gelassen zu klingen.
„Geh nun schnell zu Herrn Otto, bitte.“
„Ja!“, rief Käthe erleichtert, sprang auf und eilte zur Tür.
„Der Brief!“
„Ach ja, entschuldigen Sie bitte!“ Schon klappte die Tür und Käthe Pfeiffer war verschwunden. Die plötzliche Stille war lauter als alles vorher. Was hatte sie da eben gehört? Sie als mögliche Erbin? Unmöglich! Lotte schnaufte. Mühsam versuchte sie sich an Fetzen von Gesprächen von damals zu erinnern, zu Schulzeiten, zu Aufführungszeiten oder als sie bei der Habenicht in der Wohnung gewesen war. Langsam kehrten einzelne Bilder zurück, aber sie ergaben kein schlüssiges Bild. Erklärte das etwa, weshalb Berta ihr anfangs so zugetan war und sie nach ihrer dümmlichen Offenbarung so übermäßig brüsk von sich gestoßen hatte? Hatte sie in ihr tatsächlich eine Nachfolgerin gesehen? Nein! Das konnte sie nicht glauben. Damals waren Scham, Schmerz, Wut und Verzweiflung in ihr gewesen. Alles durcheinander. Nichts hatte sie damals begriffen. Ein junges, dummes Huhn war sie gewesen. Ihre Stärke und das, was sie bis heute geleistet hatte, waren ihr noch gar nicht bewusst gewesen, ja, sie hätte es sich noch nicht einmal vorzustellen gewagt. Aber Berta … hatte sie das in ihr gesehen?
Zusammengesunken hockte Lieselotte auf ihren Küchenschemel. Nein, dachte sie immer und immer wieder, das ist ein krankes Hirngespinst, entfacht durch ein dummes Gerücht, bestehend aus lauter Halbwahrheiten. Käthe musste sich verhört haben. Sie atmete noch einige Male tief ein, schob die beängstigenden Gedanken beiseite, stand auf, wankte in ihr Büro und widmete sich wieder ihrer Schreibarbeit. Als sie zwischendurch aufblickte und aus dem Fenster schaute, entdeckte sie, dass am blauen Himmel ein halber Mond stand. Es war vier Uhr nachmittags.