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Berta und Dorothea betraten den Hausflur, Dorothea die beiden Terrier im Schlepptau und Berta mit der Zeitung und einem Stapel Briefen unter dem Arm. Der Postkasten platzte aus allen Nähten. Es war wieder Bewerbungszeit. Außerdem kamen täglich neue Verordnungen ins Haus geflattert. Tanzzeitschriften hatten entweder ihre Namen oder ihre Herausgeber gewechselt oder gleich beides zusammen. Bertas Schule wurde mit neuen Richtlinien zugeschüttet, mit Sonderdrucken der deutschen Kulturwacht, die versprachen, dem Wildwuchs und dem Dilettantismus in der Tanzlandschaft endlich ein Ende zu setzen – was Berta sogar begrüßte –, und hin und wieder waren auch Anträge dabei, bei denen ihr gar nichts weiter übrigblieb, als sie schleunigst auszufüllen, weil wieder irgendein Verband, in dem sie Mitglied war, in einen anderen überführt wurde. Wie es sich abzeichnete, mündete und plätscherte letztlich sowieso alles in das große Freizeitbecken Kraft durch Freude. Hauptsache, sie würde nicht geprüft werden, ob sie die „erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung“ besaß. Nichts wäre erniedrigender für sie, als geprüft zu werden wie ein Schulmädchen – als gestandene Frau, die sie war!

Genervt begann sie die Post zu sortieren und drückte Dorothea die Zeitung und ein paar Briefe in die Hand. Neue Bewerbungsschreiben: eins aus Hamburg, drei aus Hannover und eins aus Bremen, zwei Rechnungen, mehrere Informationsblätter und ein hübscher Brief ohne Absender.

Dorothea fischte ihn als Erstes heraus und wandte sich ab. Mit hochgezogenen Augenbrauen studierte sie die Schrift. Vera Grünbaum war es nicht, dachte sie erleichtert, außerdem standen ja auch beide Namen auf den Umschlag. Also unverdächtig.

„Was schaust du so?“, erkundigte sich Berta, der der misstrauische Blick ihrer Gefährtin nicht entgangen war.

„Die Zeit der anonymen Briefe bricht wohl wieder an“, murmelte ihre Gefährtin.

Zeig mal her!“ Unwirsch riss Berta Dorothea den Umschlag aus der Hand und musterte ebenso stirnrunzelnd wie Dorothea zuvor die Adresszeilen.

„Das ist Adas Schrift“, sagte sie. „Gott sei Dank, endlich ein Lebenszeichen.“ Oft musste sie in letzter Zeit an sie denken. Erst gestern wieder, als Dorothea von der „Flammenübergabe“ berichtete.

„Bücher“, rief ihre Gefährtin immer wieder aus. „Man hat Bücher verbrannt! Theo Lessings Schriften allen voran.“ Alles sträubte sich in Berta bei diesem Gedanken.

Oben angekommen warf sie den Inhalt des Postkastens auf die Mitte des Salontisches und ließ sich in ihren Sessel nieder, um das Schreiben von Ada aufzureißen. Dorothea zog sich den Mantel aus, gab den Terriern zu fressen und setzte sich gegenüber von Berta, um ihre Zeitung zu studieren. Es wurde still. Nur noch das Schmatzen der Hunde und das Rascheln der Zeitung waren zu hören. Berta vertiefte sich in den Brief.

Liebe Berta,

es tut mir so furchtbar leid, dass unser Abschied so kühl und „wie abgeschnitten“ verlaufen ist, aber es war der Situation geschuldet. Zudem stand ich noch unter Schock. Ich wusste nicht mehr, wem ich was hätte anvertrauen dürfen. Deshalb fehlt bei diesem Schreiben auch der Absender. Ich weiß, dass es uns nicht schützen wird, denn falls sie diesen Brief abfangen, ist ja sowieso alles offensichtlich. Fast alles. Hoffentlich bringt er euch nicht in Schwierigkeiten. Aber so viel kann ich dir sagen: Wir sind Hals über Kopf weg. Erst über Prag, dann immer weiter, und nun sitzen wir in einer hübschen Villa mit einem blumigen Namen hoffentlich vorerst gut geschützt vor Verleumdungen und Schlimmerem. Mein Mann ist ja schon in Hannover gewarnt worden. (Ein Freund bei der Polizei) Er sprach sogar von einem Attentat. Wir haben ihm ohne Weiteres geglaubt nach den vielen Pöbeleien auf dem Gehweg an den Tagen zuvor. Und nicht nur das. Berta, ich mag dir gar nicht schreiben, was sie mit unserem Haus in Anderten angestellt haben … hinterher jedenfalls war es unbewohnbar. Man konnte es kaum eine Stunde drin aushalten. Es stank nach Exkrementen, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Wie Hunde haben sie gewütet, und eine Jauchewüste ist uns geblieben. Mein Mann war Gott sei Dank weg, als es passierte. Ich habe mit R. ein paar persönliche Dinge – seine Schriften und das viele Papier! – in vier Kisten zusammengepfercht. Nun stehen sie hier herum, halboffen. Wann ich es schaffe, sie auszupacken und in die hellen, hübschen Regale einzusortieren, das weiß ich selbst nicht. Gerade bin ich wie gelähmt. Irgendwann, wenn alles wieder ruhiger geworden ist … dann vielleicht. Aber das wird es wohl nicht mehr. Gestern stand hier in der Zeitung, dass eine Jagdprämie auf T. festgesetzt ist. 80.000 Reichsmark. Auf seinen Kopf. Ich habe es ihm vorgelesen. Er hat gelacht und gemeint, endlich hätten sie den Wert seines Geistes begriffen, das hätten sie ihm mal an der Uni zahlen sollen. Da hatte er schon den gleichen auf seinem Hals gehabt. Sein Galgenhumor tut not. Gestern Abend, als wir von unserem Balkon in das Abendrot hineinsahen, fassten wir den Beschluss, in diesem hübschen Haus, das für uns beide viel zu groß ist, demnächst ein Landschulheim für Kinder zu eröffnen, für Knirpse aus Familien, denen es so ergangen ist wie uns. Eine Art „Zwischenhausen“. Ach, Berta, wenn die Umstände nicht so verstörend wären. Dieses Anwesen ist ein Traum! Es würde dir gefallen, und wenn – wie jetzt – das ahnungslose Abendlicht durch die hohen Fensterscheiben auf seinen Schreibtisch fällt und die letzten Strahlen ein Tänzchen mit den Rauchfäden von T.s Havanna veranstalten, und wenn das emsige Anschlagen der Tasten seiner Reiseschreibmaschine durch das hohe Zimmer klappert, dann könnte man meinen, wir leben in einem unzerstörbaren Idyll. Es ist so schrecklich und ich habe Angst. Unsere Tochter ist bereits auf dem Weg zurück nach Hannover. Sie ist erst zwanzig. Du weißt ja, dass sie am gleichen Tag wie ihr Vater Geburtstag hat? Ist das nun ein gutes oder ein schlechtes Omen? Ich grüße dich und Dorothea aus bangem und vollstem Herzen. Passt auf euch und eure Schule auf. Eure A.

PS: Ich bin damals übrigens nicht nur aus dem P. ausgeschlossen, sondern auch aus der V. entlassen worden. In der Zeitung haben sie dann behauptet, dass ich mein Amt niedergelegt habe. Es ist so erbärmlich. Nur, dass du Bescheid weißt.

„Ich wusste es, ach, meine arme, liebe Ada“, stöhnte Berta leise. Dorothea blickte auf. Sie wagte kaum zu fragen. Ihre Gefährtin erwiderte ihren besorgten Blick. Wortlos reichte Berta Dorothea den Brief, während Dorothea ihr die Zeitung gab, und Berta las die fettgedruckten Nachrichtenzeilen, den Beitrag zum Gesetz, das Schuld daran war, dass Ada, Theo und Bernhard aus dem öffentlichen Dienst getilgt worden waren, las, dass in Zukunft große Unterstützungen für Bewegungsschaffende zu erwarten waren, aber nur jene, die wirklich etwas konnten und deren Verhalten nicht gegen elementare Normen der Gesellschaft verstieße.

Berta vermochte sich nicht mehr zu konzentrieren. Die einzelnen Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, und die Zeilen und Spalten der Textblöcke verwandelten sich in Stäbe und Gitter. Der Raum dahinter öffnete sich. Er wurde groß und weit und spannte sich zu einer bedrohlichen Leinwand auf, über die Bilder ohne Ton liefen: Ada in der Tür mit zwei schwarzen Reisetaschen. Bernhard in Großaufnahme mit zitternden Lippen unter dem grauen Bart, die verstörten Gesichter ihrer Seminaristen Ruth und Ilse, als sie davon erfuhren, dass auch vor Bertas Schule eines von diesen Mannskindern mit Schild gestanden hatte.

„Mir fehlen die Worte“, hörte sie Dorothea seufzen. Traurig nickte Berta.

Auf dem Tisch lag noch immer der Stapel der vielen, ungeöffneten Schreiben, und beiden war entgangen, dass es einen weiteren Brief ohne Absender gab.

Zur gleichen Zeit schaute Lotte aus dem Küchenfenster. Im Innenhof stand eine kleine Gruppe von Tänzern und Laiendarstellern. Sie scharten sich um Erwin, einige davon rauchten. „Dezente Dienstbesprechung für das neue Tanzstück“ hatte er es genannt, aber Lotte wusste, dass die Scheiterhaufen auf den Maschwiesen vor zwei Tagen ausschließliches Thema der kleinen Runde waren. Erst vorgestern hatte sich Else in die Wiesen geschlichen und von Weitem zugeschaut. Sie wollte nicht mitten unter „denen“ sein.

„Als wären die Farben gestorben“, sagte sie Lotte, als sie zurück war. „Nur noch braun und gleißendes Orange. Dauernd schrien alle von Reinigung, während der Himmel voll schmutzigem Qualm war. Kein Stern war mehr zu sehen! Nicht lange gefackelt haben die – alles Papier auf einmal rein!“

Lieselotte hatte ihrer Freundin beim Ausziehen der Sachen geholfen und ihr schnell heißes Wasser zum Waschen aufgesetzt. Alles an Else stank penetrant nach kaltem Rauch. Als sie sich auszog, fiel Lotte auf, dass Else abgenommen hatte. Ihre Schlüsselbeine traten sichtbarer hervor denn je. Danach musste Else dringend weg. „Etwas Wichtiges klären.“

Unten im Hof stand Artjom neben Erwin, Else tauchte auf und fasste Artjom bei der Schulter. Sofort wandte sich Erwin ab und verließ die Runde. Auf der anderen Seite der Schule, vor der Tür, die zur Langen Laube hinausführte, warteten bereits die ersten Kinder mit ihren Eltern auf die nächste Probe des Zauberrings. Im Moment schien alles drunter und drüber zu gehen, sogar die „Spritztour“ nach Berlin rückte in eine weite Ferne.

Lotte hatte sich zu ihrem Geburtstag eine Veranstaltung aussuchen dürfen, hatte geliebäugelt mit einem der jährlichen Tanzkongresse unter der Leitung von Rudolf Laban. Kolossale Treffen, auf denen sich die Crème de la crème des neuen deutschen Tanzes versammelte. Mary Wigman, Claire Eckstein, die Palucca, die Skoronel und natürlich – Laban! Das würde nun warten müssen. Sie verspürte jedoch große Lust, ihren alten Meister wieder einmal in persona zu erleben. Die Abende lockten mit Tanzdarbietungen, die Tage mit Disputen und Vorträgen. Auch Erwin war für die Kongressidee Feuer und Flamme, doch das müsste nun bis mindestens zum nächsten Jahr warten. Eigentlich störte es Lieselotte nicht im Geringsten, dass sie sich noch gedulden musste. Im Gegenteil: Ein Schimmer am Ende eines langen, dunklen Tunnels würde sie erwarten, ein Lichtblick, auf den man sich freuen und an dem man sich wärmen konnte. Nur Else hatte enttäuscht geseufzt: „Und ich hatte mich schon so auf Berlin und die Rolltreppen gefreut!“