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Erwin tigerte durch die Straßen. Er musste einen klaren Kopf bekommen, aber aus zweierlei Gründen. Bei Else Marie konnte er nicht mehr unterschlüpfen. Vor zwei Tagen hatte sie das gemeinsame Schweigegelübde gebrochen und ihm gesagt, dass es aus war mit ihren Donnerstagabenden. Es gab also nie wieder einen Grund, Else nach Hause zu begleiten. Jedes Mal, wenn er in den letzten beiden Tagen allein war, ging es ihm hundsmiserabel. Seit ihre heimlichen Treffen ein jähes Ende gefunden hatten, fühlte er sich leer – an einer ganz bestimmten Stelle seines Körpers, irgendwo zwischen Herzgegend und Magen. Dennoch nahm er den Weg durch die Straßen in Richtung Elses Wohnung.

Vorsichtig umrundete er ein paar Häuser in ihrem Viertel und schaute nach, ob Licht in ihrer Stube brannte, aber er fand alles dunkel vor und schlich sich zurück nach Hause. Vielleicht ist es besser so, redete er sich ein. Noch hatte Lotte nichts bemerkt. Im Grunde bewunderte er die Unabhängigkeit seiner Frau von Dingen und Menschen. Manchmal wirkte sie sogar, als ob sie auch ohne ihn recht zufrieden sein könnte. Aber ob sie tatsächlich ganz ohne ihn leben könnte, wenn die Schule nicht wäre? Das hatte er sich schon mehr als einmal gefragt. Oder auch, was wäre, wenn er zum Beispiel stürbe?

Die Antwort wollte ihm nicht einfallen. Nur eines wusste er: Lotte war eisern und unabhängig. Dafür liebte er sie.

Als er sich leise in das gemeinsame Schlafzimmer schlich, sich auszog und zu Lotte ins Bett legte, hörte er sie flach atmen.

„Schläfst du schon?“, fragte er.

Träge wandte sie sich um, schob zur Antwort ihre warme Hand unter seine Bettdecke und legte sie dorthin, wo er dieses ominöse Loch verspürte. „Sie werden uns nichts tun“, flüsterte sie. „Schlaf jetzt.“

Er atmete tief ein und spürte ihrer ruhigen Wärme auf seiner Haut nach.

„Man kennt sich in diesen Zeiten einfach nicht mehr aus, wo etwas beginnt und wo etwas aufhört“, murmelte Lotte schläfrig. „Alles überschneidet sich, alle Grenzen verschwimmen und niemand weiß mehr, was richtig und was falsch ist.“

„Ja“, erwiderte Erwin. Mehr sagte er nicht und schob seine Finger unter die ihren. So schliefen sie ein, eine Hand in der des anderen.

Else Marie lag längst noch nicht im Bett. Zu Hause angekommen, hatte sie sich heißes Wasser zum Baden aufgesetzt. Auf die verwunderte Frage ihrer Mutter erklärte sie, dass die Probe übermäßig anstrengend gewesen war und dass sie sich erkältet fühle. Ihrem Vater hingegen gab sie etwas später zu verstehen, weshalb sie so desolat zur Tür hereingestürzt war. Das unvermittelte Auftauchen des Hospitanten hatte ihr Angst eingeflößt. „Ich brauche Wärme von innen“, sagte sie.

Ihr Vater hatte genickt und sich dann mit Artjom ins Raucherzimmer zurückgezogen. Lieselotte hörte sie gedämpft reden, denn die Mutter sollte davon nichts erfahren. Auf dem Weg nach Hause hatte Artjom, um Else aufzuheitern, eine große Rose aus einem fremden Vorgarten stibitzt. Sie war gerade voll erblüht und die orangefarbene Mitte duftete herrlich. Else legte sie auf den Wannenrand und wartete, bis das Wasser kochte. Endlich war es so weit, und sie goss es ins Becken. Dampfend vermischte es sich mit dem kalten in der Wanne. Langsam entkleidete sie sich, ließ die Sachen auf den Boden gleiten, stieg hinein und erschauderte. Zu heiß. Schnell drehte sie den Hahn auf, setzte sich wieder auf den Wannenrand und betrachtete die Rose. Sie hätte sie auch Erwin schenken und als geheimes Zeichen mit einer Botschaft in seinen Trainingssachen verschwinden lassen können.

Rosen mochte Erwin, das wusste sie. Immer wenn er Lotte Blumen besorgte und genug Geld in der Tasche hatte, waren es Rosen. Sie hätte auf einen passenden Moment warten können. Morgen. Während der Arbeit an der Schule. Aber nun hatte sie kurzerhand alldem selbst ein jähes Ende gesetzt. Sie musste ihn loslassen. Ein paar ersehnte Küsse, ein paar heißhungrige Nächte. Das war genug gewesen. Nichts weiter sollte sie sich erhoffen. Es war vorbei und alles Weitere gefährlich. Ihre Liebe war eine Handgranate, die endlich entschärft werden musste. Wenn sie es nicht tat, würde sie alles in die Luft sprengen.

Traurig sah Else Marie dem prasselnden Wasser zu, nahm die Rose und zerpflückte sie bedächtig. Vor einem Monat noch hätte sie mit dem Finger in die Luft schnippen und alles Unbill wegwünschen wollen. Auch Lotte. Heute war es genau anders herum. Langsam glitt sie bis zu den Ohren in das warme Bad hinein und spürte, wie das Wasser ihrem unteren Haaransatz die Schwere nahm und sich wie ein flüssiges Kissen um den Hals legte. Die Blütenblätter schwammen im warmen Wasser. Else sank tiefer und tiefer bis über die Ohren in die Wanne. Die Blätter schlingerten herum und trieben leise schaukelnd vor ihren Augen.

„Wir wollen ja niemanden umbringen, nicht wahr?“ sagte sie leise. Ihre Worte schlugen Wellen und die Rosenblätter nickten. „Von jetzt an müssen wir aufpassen. Überall“, flüsterte sie. Ihre Beine wurden weich und eine Erschöpfungswelle nahm sie mit. „Bestimmt werde ich nie wieder einen Mann anfassen.“ Die Rosenblätter klebten am Rand. „Nie wieder.“ Sie tauchte ganz unter. Gleich würde ihre Mutter klopfen; ihre schwache Blase. Besonders nachts. Oder sie brauchte ihr Nerventonikum, das auf dem Bord vor dem Spiegel stand. Sie merkte ohnehin, was los war, auch wenn man ihr nicht alles sagte.

Ihre Mutter war ein Seismograf, ein Indikator aller Stimmungen, die in der Luft hingen, und wenn es an der Badezimmertür klopfte, würde sie gezwungen sein, die Wärme und das Rosenblätterbad zu verlassen. Noch einmal tauchte sie unter und genoss die gedämpfte Stille. Das warme Wasser verschloss ihre Ohren, und während Else am Badewannengrund ausatmete, perlten die Luftblasen nach oben und versetzten die versprengten Blätter ins Schaukeln. Inbrünstig wünschte sie sich, der nächste Impuls zum Luftholen möge Ewigkeiten dauern. Sie schloss die Augen und die Erinnerung tauchte wieder auf …

Nach einigen Wochen mit Erwin hatte ihr Geheimnis undichte Stellen bekommen. Artjom musterte sie eindringlicher als gewöhnlich. Ihr Vater stellte verwirrende Fragen, denn die Unruhe in den Donnerstagnächten war ihm nicht entgangen, und jemand aus der Gruppe lächelte immer dann süffisant, wenn sie beide zu nahe beieinanderstanden. Die Sache war aus dem Ruder gelaufen, die Situation gekippt und ihr selbstbestimmtes, leichtes Gefühl bekam Risse.

„Nein, bitte nicht abbrechen, Else!“ Erwin flehte sie an, als sie ihr gemeinsames stummes Vermächtnis mit den drei endgültigen Worten brach. „Es ist aus.“ Es hatte ihr selbst so wehgetan, vor allem, ihm dabei in die Augen zu sehen.

Er versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu halten. Dann bildete sich Schweiß auf seiner Stirn. Seine Hände wurden feucht, und er fasste nach ihren. „Wir haben das im Griff, Else. Wir können das kontrollieren. Ich werde uns schützen, das verspreche ich dir.“ Sie schwieg. Die Stille zwischen ihnen wurde kühl. „Else …“

„Es geht nicht“, erwiderte sie mit fester Stimme.

Er sah ihr noch immer in die Augen. „Bitte!“ Aber die ersehnte Antwort blieb aus. Schluchzend brach er vor ihr zusammen.

„Erwin!“, sagte sie leise. „Nicht doch!“ So hatte sie ihn noch nie gesehen. Geschockt nahm sie ihn in den Arm. Als er versuchte, sie abermals umzustimmen, blieb sie hart. Es war ihr so schwergefallen. Die ganze verfluchte Abhängigkeit, die Macht der Sirenen, die da so herrlich sangen, so dicht und doch meilenweit entfernt, das lockende Lied, welches hinter ihrem eigenen Nein erklang, die wunderbare Melodie hinter dem Schweigen der Nächte … das alles loszulassen, war schier unerträglich.

Else tauchte auf und sog tief die kühle Abendluft ein. Ihre Mutter hatte seltsamerweise nicht geklopft. Das Wasser begann sich abzukühlen.

„Es ist ja doch nur Badewasser …“, tröstete sie sich selbst, als sie aus der Wanne stieg, „… mit ein paar Rosenblütenblättern drin. Und morgen ist schon alles wieder in der Gosse.“