58

Auf dem Schreibtisch des Büros der Habenicht-Schule stapelten sich Anträge, Papiere und diverse Bewerbungsschreiben. Auf einen der zahllosen Haufen hatte Berta Dorotheas silbernen Aschenbecher gestellt, zum Beschweren. Die Fenster standen weit offen. Es war warm, und der August zeigte sich von seiner schönsten Seite. Stirnrunzelnd saß Berta an ihrem Schreibtisch und studierte ein Anschreiben, dessen oberste Zeile die Überschrift Aufforderung zur Mitarbeit für die Erarbeitung von Richtlinien titelte.

Als ob ich nicht schon genug zu tun hätte“, stöhnte sie. „Aber Arbeit gibt ja bekanntlich Kraft.“

„Was denn für Richtlinien?“, fragte Dorothea, die eben aus der Küche gekommen war. Im Gegensatz zu Baldur mussten die beiden Hunde unter der Fensterbank fressen.

Maßnahmen zur körperlichen Ertüchtigung innerhalb der Provinz Hannovers“, erwiderte Berta und seufzte entnervt.

„Was soll das bedeuten?“

„Noch mehr Arbeit.“

„Ja, das sagtest du bereits. Von wem kommt das?“

„Wie immer.“

„Die da oben?“

Berta nickte. „Die da oben“ war inzwischen ein Synonym für alles geworden, was mit neuen Änderungen, Bestimmungen oder Aufforderungen verbunden war. Es hatte sich zu einem geflügelten Wort zwischen ihnen entwickelt und war zwangsweise an das unvermeidliche Ausführen von Dingen geknüpft. Meist behördlicher Natur.

„Bis wann?“

Hat Zeit. Aber es macht den Stapel noch höher.“

„Worum geht es?“

„Um eine Mitarbeit für ein neues Blatt. Neue Normen.“

„Alles neu macht die Partei. Und wozu diesmal?“

„Sie wollen der Unübersichtlichkeit aller frei florierenden Gymnastikschulen entgegenwirken und einheitliche Regeln mit uns zusammen erstellen. Vorschriften, nach denen sich alle Schulen auszurichten haben.“

„Hm.“

„Aber die Anordnung 48 scheint mir doch ein wenig überambitioniert.“

„Warum?“

„Die Reichstheaterkammer will einen allgemeingültigen Bewegungskanon für alle Tänzer.“

„So.“

„Wir würden dann eine Anerkennung als Ausbildungsstätte mit eigener Schulgruppe bekommen. Und Förderungen natürlich. Es gäbe auch keine Bevorzugung mehr für einzelne Schulen.“

„Nicht schlecht.“

„Vor allem würde dann endlich der tausendjährige Hickhack aufhören“, dachte Dorothea laut, „dieses Gerangel um ‚wer hat den besseren Ansatz‘, ‚welche Atemtechnik ist förderlicher‘ und ‚wer tanzt am modernsten‘. Dieser ganze zerfaserte und zerfressene Eigenwille um jeden Preis.“

Nachdenklich wiegte Berta den Kopf.

„Vermutlich könnte dich dann auch niemand mehr denunzieren, meine Liebe, nur weil du hin und wieder ein klein wenig nach der Laban-Technik unterrichtest … Nanu, was ist das denn?“ Überrascht zog Dorothea einen schmalen Umschlag unter den Stapeln der Amtsschreiben hervor. „Warum hast du ihn denn wieder zugeklebt?“

„Wovon redest du?“

„Na hier, der Brief von Ada.“ Dorothea reichte ihr den unversehrten Umschlag.

„Das ist nicht der Brief von Ada.“

„Da steht aber kein Absender drauf.“

Misstrauisch besah sich Berta den Umschlag. Dann griff sie zu ihrem silbernen Brieföffner und schlitzte den Brief auf. Neugierig beugte sich Dorothea über ihre Schulter. Aufmerksam lasen sie gemeinsam die holprigen Verse. Berta ließ den Brief sinken.

„Die kleine Drecksdaube! Das ist ja wohl das Allerletzte.“ Aufgebracht stiefelte Dorothea im Salon auf und ab und wusste nicht, wohin mit ihrer Empörung.

„Es ist nicht ihre Schrift“, sagte Berta betont ruhig. Sie erinnerte sich noch zu gut an die rundliche, leicht schräg gestellte, brave Handschrift ihrer ehemaligen Seminaristin. Den flammenden Liebesbrief hatte das Mädchen in seiner Verzweiflung damals zwar mitgenommen, aber schließlich besaß Berta noch diverse alte Unterlagen. Allerdings war das über zehn Jahre her. Gerade vor kurzer Zeit hatte sie etliche Papiere ausgemistet.

„Ich schau noch einmal nach“, erklärte sie. „Irgendwo habe ich ihre Examensarbeit sicher noch.“ Und während sich Berta auf die Suche begab, den riesigen Aktenschrank öffnete und auf den Knien in den hintersten Fächern wühlte, besah sich Dorothea noch einmal das Schreiben. Kalt war es ihr soeben den Rücken hinuntergelaufen. So explizit ausgesprochen oder gar aufgeschrieben hatte noch nie jemand den Verdacht, dass Berta und sie ein Liebespaar waren. Natürlich hatte das Biest den Schund verfasst. Niemand anderes hätte Grund dazu.

„Du hättest dich nicht anlegen sollen mit einer, die du selber stark gemacht hast. Das ist Selbstmord“, lamentierte sie.

Inzwischen hatte Berta gefunden, was sie suchte. Lieselottes Examensarbeit. Ebenmäßig und nach der linken Seite gerichtet – so war die Handschrift ihrer ehemaligen Seminaristin. Rund und bieder, genau wie sie es in Erinnerung hatte. Dem Schriftbild der verstörenden Verse ähnelte es nun ganz und gar nicht. Das waren eher spitze, dynamische Schwünge. Sie flossen nicht, sondern schossen wie kantige Pfeile steil nach oben.

„Haben wir etwas von ihr zu befürchten?“, wimmerte Dorothea. Sie war all ihrer Fassung beraubt. Sofort erinnerte sich Berta, dass ihre Freundin genau diese Frage schon einmal gestellt hatte, damals, kurz, nachdem Lieselotte so überstürzt ihren privaten Salon verlassen hatte. Das Mädchen war seit jeher eine tickende Bombe, dachte Berta, Dorothea hatte leider recht behalten. Sie blickte auf. Inzwischen hatte sich Dorothea an der Hausbar bedient. Auch für Berta stand ein Glas auf dem Tischchen: bis zum Rand mit Campari voll. Während Berta sich in den Sessel niedersinken ließ, nahm Dorothea einen großen Schluck.

„Vielleicht war es ja auch irgendeine von der Ortsgruppe“, murmelte Berta. „Aber die kennen uns eigentlich gar nicht.“

„Meinst du, es wird ernst?“

Berta schüttelte den Kopf. „Nein! Hör auf, dir Sorgen zu machen. Es gibt überhaupt keine Indizien gegen uns. Das hier geht doch glatt als haltlose Verleumdung durch. Weder habe ich Die Freundin abonniert noch bin ich offiziell im Bund für Menschenrechte.“

„Gibt’s beides sowieso nicht mehr“, sagte Dorothea und stürzte ein zweites Glas hinunter.

Berta beobachtete sie und versuchte gelassen zu klingen, als sie sagte: „Und dass wir nur Frauen unterrichten, ist nichts Verwerfliches. Hörst du? Damit kann uns niemand ans Bein pinkeln. Beruhige dich doch bitte.“ Doros Unruhe hatte sich inzwischen auf die Hunde übertragen, die aus der Küche kamen und aufgeregt an ihr hochsprangen.

„Was sollen wir nur tun?“, stöhnte Dorothea immer wieder.

„Wir konzentrieren uns auf unsere Arbeit. Wie immer.“

„Der Campari ist alle“, schluchzte sie.

„Im Keller ist noch Henkel“, erwiderte Berta. „Trocken.“ Dann ging sie nachdenklich zu ihrem Schreibtisch zurück, setzte sich hin und zog ein Formular hervor, welches sie vor wenigen Tagen an unterster Stelle ihrer Ablage postiert hatte. Noch einmal warf sie einen kurzen Blick auf ihre desolate Freundin und begann das Papier zu studieren: den Antrag für die Aufnahme in die NSDAP.