Sie fand ihn auf den Treppenstufen vor dem Eingang der Schule. Bleich sah er aus. Seine Hände waren ineinander verkrampft, sodass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er zitterte, obwohl noch Hochsommer war. Die Tür zur Schule stand halboffen.
„Mein Gott, Erwin, was ist passiert!“ Lotte war vom Einkaufen zurückgekommen, stellte die Körbe mitten auf dem Gehsteig ab und stürzte auf ihren Mann zu, dessen Gesicht eine besorgniserregende Starre zeigte.
„Tot“, sagte er leise und ohne den Kopf zu heben.
Lotte erschrak. „Wer?“, rief sie und nahm seine Hand. „Sieh mir in die Augen. Bitte. Was ist passiert? Wer ist tot?“
Erwin schüttelte den Kopf. „Jetzt geht es los. Das war nur ein Startschuss.“ Seine Stimme hörte sich leer an.
„Mein Gott, Erwin, sprich doch in ganzen Sätzen. Wer ist gestorben?“ Sie hockte sich direkt vor ihn, nahm ihn bei den Schultern, zwang ihn, sie anzusehen.
„Einfach abgeknallt“, sagte er.
Sie hielt es nicht länger aus. „Wer denn?“, flehte sie ihn an. In ihr begann sich bereits alles zu drehen. Als Erstes dachte sie an Else, dann an Elses Vater, dann an Artjom. „Wer? Erwin, jetzt sprich doch endlich.“
Er hob den Kopf und sah sie an. „Theodor Lessing“, sagte er tonlos. Im ersten Moment fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sie ließ sich neben ihn auf die Treppe sinken und atmete unmerklich auf. Wenigstens kein Straßenkampf, dachte sie, bei dem es Verletzte und Tote gab, wenigstens kein neuer Überfall bei den Försters, wenigstens das nicht. Der Verlust von Artjom oder der Tod von Else Marie wären für sie unvorstellbar gewesen.
„Lass uns hineingehen, ich mache dir einen starken Kaffee“, schlug sie vor, aber Erwin machte keine Anstalten, sich zu erheben. „Komm schon.“ Beherzt griff sie nach seinem Arm. Unter seiner Starre fühlte sie die angespannten Muskeln. Die Nachricht vom Tod des Professors machte aus ihrem resoluten Mann einen apathischen Zementsack. Erwin stand langsam auf und sie gingen hinein.
Auf dem Küchentisch lag noch die aufgeschlagene Niederdeutsche. Lotte beugte sich über den Bericht und erfuhr aus wenigen Zeilen, dass der Philosoph in seiner Villa in Marienbad erschossen worden war. „… nun ist auch dieser unselige Spuk weggewischt“, schloss der Artikel. Sie faltete die Zeitung so geräuschlos wie möglich zusammen und legte sie außer Sichtweite.
„Ich übernehme heute Abend den Kurs“, bot sie ihm an. Es war Donnerstag.
„Nein“, stieß er hervor. „Ich muss arbeiten.“ Dann sah er endlich auf. „Etwas anderes bleibt mir nicht übrig.“ Seine Worte klangen wie eine Entschuldigung. Aber wenigstens war das Stumpfe aus seinen Augen verschwunden, dachte Lotte. Wenigstens wieder Leben in seinem Blick, wenn auch ein unsagbar trauriges.
„Von hinten. An seinem Schreibtisch“, fiel es Berta tonlos von den Lippen. Verstört hob sie den Blick und ließ die Zeitung sinken. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. „Mein Gott, Ada. Arme, arme Ada!“ Vehement presste sie sich die Faust vor ihren Mund, weil sie das Gefühl hatte, losschreien zu müssen. Gott sei Dank war Dorothea nicht im Raum, sondern mit den Hunden draußen. Tränen schossen ihr in die Augen. „Was machen sie nur … was passiert nur mit uns?“, flüsterte sie.
Das Ereignis war unfassbar. Aber da stand es doch schwarz auf weiß in der Zeitung: Theodor war tot. Jetzt erst bekam sie aus der Zeitung mit, wo ihre Freunde untergekommen waren. Marienbad. Es war abstrus. Jemand hatte sie aufgestöbert. Verraten. Aber sie, Berta, hatte noch nicht einmal ihre Adresse gehabt. Sie konnte Ada keine Trostworte schreiben. Nackte Angst stieg in ihr auf. Alle dunklen Ahnungen waren wahr geworden. Alles, was eintreten konnte, war eingetreten. Sie durfte nicht mehr hier herumsitzen. Sie musste weg. Raus.
Schnell erhob sie sich aus dem Sessel, viel zu schnell, der Schock hatte ihr das Blut in die Adern sacken lassen und bereits im raschen Aufstehen tanzte ein weißer Nebel vor ihren Augen. Vom Schwindel überwältigt verlor Berta das Bewusstsein.
Eine halbe Stunde später fand Dorothea sie liegend auf dem Teppich des Salons. Nur langsam kam sie wieder zu sich. Das Erste, was sie wahrnahm, war ein dichter, graumelierter Schnauzer vor ihrem Gesicht und der Geruch von Pfefferminze. Zwei warme Finger an ihrem Gelenk. Sie spürte ihren Puls, blinzelte, ihr war übel und das einzige, was ihr einfiel, war: „Ada ist allein.“
Bernhard Kahlbutz nickte. Dorothea stand hinter ihm und blickte besorgt über seine Schulter. In der Hand hielt sie noch immer die unselige Zeitung. Wo waren die Hunde? Dann tanzten abermals weiße Schatten vor Bertas Augen. Bernhard Kahlbutz verschrieb ihr ein kreislaufstärkendes Mittel und murmelte ein paar beruhigende Worte. Aber alles fühlte sich falsch an: seine ruhige Stimmlage, das weiße Kissen und vor den Fenstern die rote Sonne. Sie musste an Adas Zeilen denken, vom unzerstörbaren Abendrot.
„Die Natur ist pietätlos“, stieß sie hervor. „Sie schenkt uns einen Abendhimmel, selbst wenn das Allerschrecklichste passiert.“ Bernhard erhob sich. „Nicht die Natur an sich“, erwiderte er leise, „nur die Natur des Menschen.“
„Es sind Bestien“, hörte sie Dorothea flüstern.
Berta lag auf dem Chaiselounge und sah die beiden nebeneinanderstehen und auf sie herunterblicken. Die Situation hatte wirklich etwas zutiefst Irreales. Die zwei hätten ein Ehepaar abgeben können. Eines, das gerade damit begann, friedlich miteinander alt zu werden.
„Ich werde jetzt gehen“, ließ sich der Doktor vernehmen und packte seine Geräte zusammen.
„Was mache ich jetzt?“, fragte Berta wieder, aber diese Frage umfasste nicht nur Ada, sondern alles. Wer war jetzt in Marienbad und kümmerte sich? Was konnte sie tun, und durfte sie es überhaupt oder war es bereits zu gefährlich, Ada ausfindig machen? Was bedeuteten diese Verstrickungen für den Schulbetrieb, so weitermachen wie bisher? Ihr Blick streifte den vollen Schreibtisch. In der Mitte der polierten Platte lag noch immer unausgefüllt der Antrag für die Partei. Die Tür fiel ins Schloss; der Doktor war gegangen.
„O mein Gott! Hat er ihn etwa gesehen?“ Berta fuhr in die Höhe, aber der Schwindel drückte sie erneut nieder.
„Bleib liegen, Liebes, bitte!“, forderte Dorothea streng.
„Hat er diesen Antrag gesehen? Auf dem Tisch? War er an meinem Tisch?!“
„Dein Antrag? Was denn für ein Antrag? Das ist doch jetzt nicht wichtig“, entgegnete Dorothea und tupfte ihr Stirn und Schläfen mit dem Pfefferminzläppchen ab.
„Ach!“ Berta stöhnte und sank in ihr Kissen zurück. Es hatte ja doch keinen Zweck. Sie musste raus mit der Sprache. Selbst Dorothea hatte sie noch nicht eingeweiht.
„Aber gut, wenn es dir so wichtig ist.“ Dorothea stand auf ging hinüber.
„Ich hatte … ich wollte … es war nur ein Gedanke“, versuchte Berta irgendeine Art von Erklärung. Doro stand hinter dem Schreibtisch, und das hereinfallende Licht umspielte ihre Silhouette, so dass sie wie eine Lichtgestalt wirkte. Ein Engel mit einer Botschaft in der Hand, durch den die Abendsonne schien.
„Wir können nicht einfach weggehen, Dorothea“, setzte Berta noch einmal an. „Wir müssen doch bleiben.“
„Mitten im Rachen eines Raubtieres“, murmelte Dorothea und ließ das Blatt sinken. „Wie willst du das hier Ada erklären, und Bernhard?“, fragte sie.
„Es ist nicht erklärbar, Dorothea. Nichts ist mehr erklärbar. Sie dürfen es nicht erfahren. Wir müssen doch weiterarbeiten.“ Berta richtete sich ein drittes Mal auf. Ihr Hirn begann wieder zu funktionieren, der Nebel verschwand. Ada war bis auf Weiteres unerreichbar. Niemand wusste, was als Nächstes geschah.
Wenn man vor einem Tunnel lag, mitten auf den Schienen, angebunden zwischen den Stahlgleisen, und der Zug auf einen zurollte, dann konnte man warten, bis man starb, oder man versuchte, trotz aller Bedrängnis, die Seile zu lockern, und wenn man es nicht rechtzeitig schaffte, sie ganz zu lösen, dann musste man sich beherzt von unten am vorbeirasende Gestänge festhalten, sich mitreißen lassen und mitsamt den zerfetzten Seilen in den Tunnel einfahren – wenn man am Leben bleiben wollte.
„Arbeiten“, hörte sie Dorothea murmeln.
„Wo sind die Hunde?“, fragt Berta. Die Stille erschien ihr ungewohnt.
„Oh, nein!“ Dorothea sah sich hektisch um und lief in die Küche zu den Fressnäpfen. Berta hörte die schnellen Schritte auf den Steinfliesen, dann ein bestürztes Aufseufzen, dann ein Poltern im Flur, schließlich ihr panisches „Er hat die Tür aufgelassen!“ und dann das Hallen der harten, klappernden Absätze ihrer Hausschuhe auf der Treppe. Erneut erklang ein Aufschrei, diesmal ferner. Die Hunde waren ausgerissen. Alles lief aus dem Ruder.
Vorsichtig erhob sie sich und versuchte sich am Rand der Lehne abzustützen. Mit etwas Mühe gelang ihr das gut. Jetzt spürte sie einen pochenden Schmerz an der Stelle, wo sonst ihr Haar mit einer Spange zusammengehalten wurde. Vorsichtig tastete sie den Hinterkopf ab. Nur ein dumpfer Schmerz, ein blauer Fleck, keine offene Verletzung, stellte sie erleichtert fest. Auch ihr Knie war geschwollen. Humpelnd bewegte sie sich ins Badezimmer zum Medizinschränkchen, nahm das letzte Tütchen Schmerzpulver, das sie fand, und hinkte zurück in die Küche, um ein Wasserglas zu holen.
Ein kühler Luftzug wehte ihr entgegen. Alle Türen standen weit offen, und draußen hatte es gerade zu regnen begonnen. Nach langen Sommertagen ohne Wolken war es der zweite Regen seit Wochen. Dorothea war doch nicht etwa in Hausschuhen und ohne Mantel aus dem Hause gestürzt, dachte Berta.
Noch immer das Glas in der Hand, schloss sie die Wohnungstür, trat ans Fenster und sah hinaus. Keine Dorothea weit und breit. Vorsichtig schwenkte sie das Glas, und das Pulver vermengte sich mit dem Wasser. Alles beginnt sich aufzulösen, unser ganzes Leben, dachte sie und trank es in einem Zug.