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Der Ofen bullerte. Lotte starrte auf die Ritzen, hinter denen es flackerte. Orange und Braun. Zwei Farben, die sie verfolgten, die sich in ihr eingenistet hatten und ihr nicht mehr aus dem Herzen gingen. Seit dem Tag, als die Seiten ihres Liebesbriefes brannten. Zwei Farben, eine so dunkel, so tief, die andere hell und gleißend. Die eine existierte nicht ohne die andere.

Noch immer war Lieselotte in der Küche, aber sie stand längst nicht mehr vor der Spüle. Erwin und Else hatte sie fortgeschickt. Dumpf krachte das geschichtete Holz aufeinander. Sie hatte den Ofen regelrecht gestopft mit allem Holz, das sie finden konnte. Manisch. Bis oben hin. Nicht nötig für die kleine Küche. Angeschrien hatte sie sie. Mit nur zwei Worten. Geht jetzt. Und dann waren sie tatsächlich aus der Küche verschwunden, leise, geräuschlos. Wie Schall und Rauch.

Der Qualm war abgezogen, seit es draußen aufgehört hatte zu regnen, und durch das kleine Fenster sah sie, dass der Himmel ein Stück aufriss, aber kein Mond war da. Auch kein halber. Nur ein paar Sterne. Die Hälfte des großen Wagens. Weit und breit noch nicht einmal der Schimmer eines Mondes. Nie wieder wollte sie einen Mond sehen. Wo Erwin heute wohl schlief? Sie stand auf. Es war ihr egal. Eine Wirtschaft fand sich sicher. Und Else? Ach, Else. Ihr konnte sie am wenigsten übelnehmen, was passiert war. Aber es tat so weh. Auch, wenn Lotte nie Kinder gewollt hatte, auch, wenn das, was Erwin da mit Else veranstaltete, gar nichts für sie war, es tat weh.

Sie setzte sich wieder. Ein kleiner Haufen Holz lag noch da. Da war kein Zweifel in ihr, ob Erwin sie und die Schule verlassen würde. Da war sie sich sicher, dass er blieb. Ob nun bei Else oder bei ihr. Er blieb. Aber es schmerzte so.

Lotte stand auf und legte Holz nach. Noch mehr Holz. Die Küche war heiß. Der Schweiß hätte ihr auf der Stirn stehen müssen, aber sie fror bis ins Mark, als hätte sie etwas Giftiges gegessen. Etwas, das, würde sie diese Nacht überleben, einen Teil in ihr ausrottete.

Ein Kind von Erwin. In Else. Lotte war leer. Schon lange, zu lange, immer schon. Das Herz, das sie einmal besaß, hatte ihr jemand genommen. Beiseitegeschafft, als sie noch zu jung und zu dumm gewesen war, es festzuhalten. Berta. Sie war der Ursprung aller Leere und allen Zorns. Seit jeher. Wieder setzte sie sich. Alles Holz war verbraucht.

Berta hatte sie einst heraufgehoben. Unter ihr hatte sie gestrahlt, unter ihren Augen war sie erblüht und unter ihren Händen gereift. Unter Lieselottes Füßen wurde der Tanzboden damals wahrhaftig, waren die Lichtstrahlen von einst im Zimmer ihres Vaters Wirklichkeit geworden. Selbst die Schule, die sie jetzt führte, fußte auf niemand anderem als auf Berta. Und dennoch blieb ihr nur eins: Berta oder Lotte. Einen anderen Ausweg gab es nicht. Sie hatte es bis hierhin geschafft, trotz und durch Berta, aber nun musste sie ohne sie weitergehen, denn das nächste Loch, das sich vor ihr auftäte, würde so tief sein, dass es ihr nicht mehr gelänge, sich allein daraus zu befreien.

Ihr Blick fiel auf das zerknüllte Papier hinter dem Kohleeimer. Die Wut durchzuckte sie erneut. Der kleine Giftbrief, die Verse von Käthe. Wieso hatte sie die nicht längst verbrannt? Wieder stand sie auf und warf das Indiz ihrer Rachsucht in den Ofen. Hatte es etwas genutzt? In Anbetracht der Umstände war dieser Brief eine kleine, dumme Mädchenkritzelei auf einem verstörenden Zettelchen, das die Lehrerin in die Finger bekommen hatte und das ihr nur ein müdes Lächeln entlockte. Ein Nichts war dieser Brief gewesen! Vermutlich hatten sich Berta und ihre Geliebte ausgiebig darüber amüsiert. Was konnte sie schon ausrichten? Mit einem Brief?

Die Tür zum Büro bewegte sich leicht. Ein Luftzug. Auf dem Schreibtisch brannte noch immer Licht. Nach dem Besuch von Hannes Kunz war alles unberührt geblieben. Nur seine Formulare waren im Ofen. Der Antrag für die NSDAP zu Asche und Rauch geworden. Berta war also bei den Nazis eingetreten. Sie hatte alle Register gezogen und sich damit unanfechtbar gemacht. Es gab keine Achilles-Ferse mehr, an der Lotte sie noch hätte treffen können. Ein Panzer aus Immunität umgab sie.

Plötzlich blitzte in Lotte ein böser Gedanke auf. Waren Lesbierinnen bei den Nazis erlaubt? Oder geduldet? Lotte schritt in der kleinen Küche auf und ab. Endlich drang die Wärme bis in ihr Innerstes vor. Juden wurden verfolgt. Kommunisten wurden verboten. Genetisch kranke, abartige Männer wurden versteckt. Berta und die Bragge waren doch Abartige. Und jetzt nutzten sie sogar den schmutzigen Eintritt in die Partei, um ihre Perversität zu schützen. Das musste sie verhindern.

Der Gedanke war so reinigend, wie er böse war. Jetzt endlich wurde ihr warm. Es tat gut, Böses zu denken. Auch das Böse hatte ein Gutes. Es vernichtete alles. Das Gute ließ immer etwas übrig. Es hatte Augen, Ohren und einen Sinn für Grauzonen und Schlupfwinkel. Es hatte Erbarmen. Unter den Augen des Guten konnte immer wieder Böses gedeihen. Ein Herr Hitler hatte es auch nur geschafft, weil er das System der guten Schwachen genutzt hatte. Unter der Flamme des Bösen blieb nichts mehr übrig, wurde alles radikal niedergebrannt. Aber etwas anderes war möglich, nachdem es gewütet hatte. Wo Asche war und sonst nichts, rissen irgendwann die Wolken auf, fiel ein Regen durch den Staub auf den Boden und die Luft wurde klar. Neue Erde entstand, auf der etwas anderes beginnen könnte.

Sie wollte einen Neuanfang. Vernichten bedeutete auch eine Zäsur. Jede Bewegung hat einmal ihren Stillstand. Wer sagte das neulich, Erwin? Stillstände sind wichtig. Sie gliedern eine Bewegung in deutliche Phasen. Lotte ging ins Büro, verschloss die Tür von innen, setzte sich und nahm ein Blatt Papier nebst einem Federhalter. Minutenlang starrte sie auf das weiße Blatt. Eine Hinrichtung würde es werden. Sie oder Berta. Noch einmal fiel ihr Blick auf die Tür, hinter der die leere Küche lag. Erwin und Else waren fort, fernab ihrer Gedanken. Das, was sich eben noch in der Küche abgespielt hatte, kam ihr vor wie ein Stummfilm mit Geflacker, ein Drama, das kaum noch etwas galt, eine lachhafte Tragödie, die das Fräulein Dorn mit hämmernden Akkorden begleitete. Lotte zückte den Federhalter und schrieb.

An den Dezernatsleiter der Hauptabteilung 3 der NSDAP

Betrifft die Handlungen und Einstellungen der Person Berta Habenicht, Leiterin des gleichnamigen Institutes in Hannover

Hiermit halte ich es für meine Pflicht, Sie, als Ordnung schaffende Institution, auf ein dem Staate und der Bildung schädigendes Verhalten der Personen Berta Habenicht und Dorothea Bragge hinzuweisen.

In der Öffentlichkeit zeigt sich Frau Berta Habenicht nur selten als Geliebte von Fräulein Bragge. Aber ihr gegenseitiges eindeutiges Verhalten, u.a. durch die Eifersuchtsausbrüche von Fräulein Bragge, verrät ihren wahren Charakter. Fräulein Bragge lebt seit Jahren mit Berta Habenicht in perverser, sexueller Verbundenheit. Blind gegen ihre Umgebung, bilden sich die Damen ein, man würde solchem Verhalten als unwichtige Einzelheit nicht nachgehen; doch sie genügen, um ihre perversen Neigungen restlos bloßzustellen. Frau Habenichts Haltung zu ihren Schülerinnen war immer gewagt und zweideutig. Instinktmäßig wusste sie immer, Macht über jene Mädchen zu gewinnen, die ahnungslos waren. Es gilt ja bei den Frauen heutzutage als schick und bedeutend, anders zu sein. Aber unter der Maske der Kulturarbeit leben die beiden Frauen nur ihre kranken Instinkte aus. Arrogant und verlogen sind die Prospekte, deren Versprechungen nicht erfüllt werden, anmaßend das Verhalten gegenüber Fachgenossen. Frau Habenicht ist abhängig und in sexueller Hörigkeit von Dorothea Bragge. Sie ernährt und unterhält sie. Fräulein Bragge selbst ist skrupellos und eitel, wenn es gilt, ihre eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Wie Wäsche wechseln sie Partnerinnen oder ihre politischen Ansichten. Staatspartei, KPD und jetzt NSDAP. Anständige Frauen sind nicht gewillt, solche moralische Unsauberkeit unter dem Deckmantel der Kulturarbeit an der deutschen Frau und deren Kindern weiterzuführen, zumal die Zugehörigkeit zur NSDAP sicher mithilfe ahnungsloser Bürger erschlichen worden ist. Ihre Wankelmütigkeit zugunsten der Verfolgung ihrer egoistischen Ziele zeigt auch folgendes Verhalten …

Lieselotte unterbrach das Schreiben. Sollte sie so weit gehen? Gerade war sie im Begriff, Berta der Mitgliedschaft der KPD zu bezichtigen. Bislang hatte sie nur ihre Janusköpfigkeit angeprangert. SPD, KPD, Judentum … Erwin, Winfried, Else … es fühlte sich an, als würde sie die ihr Nahestehenden gleich mit ans Messer liefern.

Lotte erhob sich, knetete ihre Hände, setzte sich wieder. Aber wenn dieses Schreiben wirklich etwas bewirken, wenn er aufrütteln soll, dann musste sie es tun. Entschlossen nahm sie den Füller erneut zur Hand und schrieb:

Lange Jahre unterrichtete Frau Habenicht Angehörige von SPD-Mitgliedern und hielt enge Verbindungen zur KPD, wenn sie nicht sogar zeitweise Mitglied dieser Partei war. Plötzlich im Sommer wechselt sie die Seiten und tritt in die NSDAP ein. Dennoch beherbergt sie in ihrer Schule viele Juden. So ist es nicht mehr hinzunehmen

Wieder stand sie auf und warf den Federhalter auf den Schreibtisch. Sie musste jetzt sofort abbrechen. War das noch sie, die das schrieb? Konnte sie jetzt einfach aufhören? Nein! Und noch einmal nein. Das hier war zu einem Ende zu bringen. Dieses Mal wirksam. Dazu gehörte unabänderlich, dass sie alles aufschrieb, was sie wusste und beobachtet hatte. Sie musste nur aufhören, dabei an Else und Erwin zu denken.

Abermals setzte sie sich hin und schrieb weiter:

So ist es also nicht mehr hinzunehmen, dass sie in ihrem Institut ein unsauberes Verhalten weiter unterhält oder duldet. Zu allem Übel pflegt Frau Habenicht innige Kontakte zu Ada Lessing und verkehrte mit sehr vielen Juden. Ihre Geliebte Frau Bragge ebenso. Diese betrieb es so innig, dass sie beinahe eine verheiratete Frau ihrer Familie entzogen hat!

Vera hieß sie doch, diese Frau, oder? Lotte setzte den Füller ab und überlegte. Das war zwar schon lange her und ein Gerücht, aber jetzt war ohnehin alles egal. Das musste reichen. Sie setzte den Schlusspunkt und formulierte den letzten Satz:

Es ergeht an Sie die Bitte, zu diesem unsauberen Treiben Stellung zu nehmen, mit besten Grüßen,

Heil Hitler, Ihre Frau …

Und nun? Mit ihrem Namen könnte sie nicht unterschreiben. Dieser Brief musste anonym eingehen. Oder besser noch, mit einem Decknamen. Vielleicht Käthe. Ja, Käthe musste ihn abschreiben. Wirklich Käthe? Lotte zögerte noch bei dem Gedanken. Wer aber sonst? Sie könnte ihr Geld anbieten. Das brauchte das Mädchen dringend nach dem Auszug aus der Berckhusener Straße. Lieselotte musste sich nur ihres absoluten Stillschweigens versichern. Das wäre nicht so schwer. Den Willen dazu brachte das Mädchen sicher auf. Nur ihre Klatschsucht könnte zum Verhängnis werden. Aber Käthe wäre ruhigzuhalten mit der Androhung der Preisgabe ihres Geheimnisses, nämlich, unter welchen Umständen sie schwanger geworden war. Das wusste nur Lotte. Und sie hatte kein Bedürfnis, es jemandem anzuvertrauen, so charakterlos war es gewesen. Aber diese Drohung lag unter ihrer Würde. Vielleicht sollte sie Käthe ganz in die Ausbildung aufnehmen. Es würde sich lohnen. Sie faltete den Brief zusammen, steckte ihn ein, löschte das Licht und ging zu Bett.