Sonntag, 8. Juni
Ludmilla hängt braun und verdörrt in ihrem Topf.
Verschwitzt erwachte ich an diesem Sonntag im Schuppen. Hier drinnen war es heiß wie in einem Backofen. Ich schälte mich aus meinem Schlafsack und stieß die Schuppentür weit auf. Die Sonne knallte ihre Strahlen direkt auf unser Schuppendach.
Anni streckte sich. »Guten Morgen«, sagte sie.
»Weißt du noch, letzte Nacht?«, fragte ich.
»Klar! Das werde ich nicht so schnell vergessen«, sagte Anni.
»Aber ich habe vergessen, Herrn Bovist zu fragen, warum er die Pflanzen züchtet. Und die Leute aus dem Kreis. Ist es einfach ihr Hobby? So wie die Steinesammlung von Jonas?«
»Mhm«, machte Anni. »Keine Ahnung.«
»Ich werde Herrn Bovist fragen«, beschloss ich.
»Aber nicht jetzt! Wir haben ewig geschlafen! Bestimmt sucht uns bald deine Oma«, sagte Anni nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Außerdem sterbe ich vor Hunger!«
Oma und Opa saßen gerade beim Mittagessen.
»Da sind ja die Langschläfer!«, rief Oma. »Ich war vor Stunden am Schuppen, da habt ihr tief und fest geschlafen. Setzt euch zu uns, ich hole Teller.«
Nach dem Essen mussten wir unsere Mamas anrufen. Oma bestand darauf. Ich fand das doof, denn prompt sagte Renate, dass sie Anni gleich abholen würde. Annis Tante Moni hatte Geburtstag, und sie waren zum Kuchenessen eingeladen.
»Ich dachte, wir besuchen noch mal Herrn Bovist und Rupert«, raunte ich Anni zu.
Es war nichts zu machen, Anni musste zu ihrer Tante Moni.
Oma und Opa machten ihr Mittagsschläfchen.
Ich lief zum Schuppen. Zuerst legte ich Knox einen Brotkrümel vor seinen Eingang. Dann setzte ich mich neben den Schuppen und warf ein paar Steinchen gegen die große Mauer. Eigentlich konnte ich auch allein Herrn Bovist besuchen. Und Rupert.
Es war sehr, sehr anstrengend, die Leiter von den Obstbäumen bis zum Schuppen zu schleifen. Und noch schwieriger war es, das sperrige Ding die Mauer hochzuziehen und auf der anderen Seite wieder runterzulassen.
Ich hüpfte durch den Dschungel. Und über die Lichtung. Im Hopserlauf ging es den Tannennadelweg entlang bis zur Hecke vor Herrn Bovists Häuschen.
Auf der Blumenwiese begrüßte mich ein schwanzwedelnder Rupert. Seine Zunge schlabberte wie ein Waschlappen durch mein Gesicht.
»Wir haben Besuch!«, rief Herr Bovist.
Er freute sich, das merkte ich genau. Ich setzte mich zu ihm auf die Treppenstufe vor dem Häuschen.
»Hast du noch etwas übrig von deinem Kräutertrunk?«, fragte ich ihn.
Mama hätte sich jetzt bestimmt für mich geniert.
»Ja, klar!«, sagte Herr Bovist und verschwand im Haus. Er kam mit einem großen Glas Limonade zurück. Sogar drei Eiswürfel klimperten fröhlich in dem gelbgrünen Getränk.
»Ich dachte, ich besuche euch noch mal«, sagte ich und schlürfte mit dem Röhrchen den letzten Rest Kräuterlimonade.
»Das freut uns auch sehr«, meinte Herr Bovist.
Rupert schleckte über mein Knie.
»Ich habe noch eine Frage«, sagte ich.
»Dann schieß mal los!«, antwortete Herr Bovist.
»Warum züchtest du die Pflanzen? Und deine Mama oder deine Oma? Ich meine, wenn die Pflanzen und ihre Zauberkraft ein Geheimnis sind und niemals nie jemand außerhalb eures Kreises davon wissen darf, warum züchtest du dann immer weiter die Samen?«
Herr Bovist antwortete nicht sofort. Mit geschlossenen Augen saß er auf der Treppe und hielt sein runzliges Gesicht in die Sonne.
Schließlich räusperte er sich: »Wie ich dir schon erzählte, wird das Wissen über die Pflanzen von Generation zu Generation weitergegeben. Und jeder, der das Familienbuch und die Samen übernimmt, muss sehr gewissenhaft mit den Pflanzen und dem dazugehörigen Wissen umgehen.«
»Was bedeutet das?«, musste ich fragen.
»Man darf die Pflanzenkraft nicht dazu nutzen, um anderen Lebewesen Leid zuzufügen. Unsichtbar könntest du deine Mitmenschen zum Beispiel beklauen. Das ist ein Tabu!«, erklärte Herr Bovist.
»Anni und ich haben unsichtbar Sackers Tortenstücke aufgegessen. Also geklaut!«, erzählte ich erschrocken.
»Na ja, ja!«, sagte Herr Bovist. »Eigentlich sollst du mit der Pflanzenkraft anderen Lebewesen helfen, nicht schaden!«
Ich überlegte. »Weißt du, Trudi ist so dick, dass sie beim Laufen schnauft wie eine Lokomotive. Vielleicht haben wir ihr geholfen, weil sie jetzt nicht noch dicker wird!«
Herr Bovist lachte. »Vielleicht könnte man es in diesem einen Fall so sehen! Eine Geschichte kann ich dir erzählen: Als ich ungefähr in deinem Alter war, hatte ich einen Freund, den Hans. Sein Vater, der war ein Haudegen. Er soff und prügelte und schrie herum. Hans’ ganze Familie litt darunter.«
»Oh! Und was passierte dann?«
»Meine Mutter säte die Samen einer Pflanze und erntete die violetten Blüten. Mit den getrockneten und zerkleinerten Blütenblättern buk sie leckere Kekse und gab sie Hans’ Mutter. Der Vater meines Freundes bekam von seiner Frau jeden Tag einen Keks zu seinem Tässchen Kaffee.«
»Und?«
»Sanft wie ein Lämmchen war er, solange er täglich einen Keks meiner Mutter aß!«
»Also darf man die Pflanzenkraft schon nutzen! Zum Helfen!«, stellte ich zufrieden fest.
»Ja!«, antwortete Herr Bovist. »So musst du dir das vorstellen. Früher habe ich Leuten geholfen. Heute bin ich lieber in meinem Garten und bei meinen Pflanzen. Ich bewahre einfach nur mein großes Familienerbe.«
»Aber es ist traurig, niemandem zu helfen, obwohl man es vielleicht könnte! Hilft Gunnar denn mit seinen Zauberpflanzen?«, fragte ich.
Herr Bovist strich seine Haare glatt. »Um ehrlich zu sein, bin ich mir bei Gunnar nicht so sicher. Ich weiß nicht, was er so treibt. Und was er später mit meinen Samen anstellen wird. Aber nachdem ihr in meinen Garten eingedrungen seid, musste ich schnell handeln und rief Gunnar zu Hilfe!«
»Und jetzt gibst du ihm deinen großen Familienschatz?«, fragte ich.
»Aber du weißt doch, dass ich keine Kinder und Enkelkinder habe! Mir bleibt überhaupt nichts anderes übrig, als alles Gunnar zu vererben. Ich habe keine Wahl, sonst ist mein Lebenswerk verloren!«, sagte Herr Bovist und raufte sich die Haare.
»Schade, dass du nicht mein Opa bist«, sagte ich. »Oder Annis. Dann wäre nicht alles verloren!«
Ich kraulte Ruperts Ohren.
Jetzt saß Herr Bovist ganz still auf der Treppe. Und guckte in den Himmel. Ich konnte sein fluffiges Haar anschauen. Selbst aus seiner Nase und seinen Ohren lugten ein paar weiße Haare heraus. Er sah überhaupt nicht wie eine Krähe aus. Eher wie ein Uhu. Ein großer, schlauer Uhu.
»Komm mal mit!«, rief Herr Bovist plötzlich.
Er lief mit großen Schritten zum kleinen Arbeitshäuschen. Rupert und ich trabten hinterher. Im hinteren Zimmer kruschtelte Herr Bovist in seinem riesigen Schubladenschrank herum.
»Wo sind die denn nur?«, murmelte er immer wieder.
Ich kraulte Ruperts struppiges Fell.
Schließlich rief er: »Da seid ihr ja!«
Er hielt ein braunes Tütchen in der Hand.
»Drei Samen sollten fürs Erste reichen«, sagte Herr Bovist.
»Sind das die Samen, die du dem Langen geben willst?«, fragte ich.
»Mal schauen. Wie du schon weißt, ist das mit Gunnar so eine Sache! Und manchmal ändern sich die Dinge im Leben ganz plötzlich. Vielleicht gebe ich Gunnar die Samen doch nicht, wer weiß!«
Aha!
»Ich zeige dir jetzt, wie man die Samen richtig pflanzt.«
»Du wolltest doch keine Samen mehr in dein Gewächshaus pflanzen«, erinnerte ich ihn.
»Das war gestern«, trällerte Herr Bovist vergnügt.
Herr Bovist marschierte los. Durch das Tannenwäldchen und über die Lichtung zum Gewächshaus. Rupert und ich liefen hinterher.
»Nimm dir eine kleine Schaufel vom Regalbrett«, ordnete Herr Bovist an.
Dann zeigte er mir, wie ich die zerwühlten Maulwurfshügel wieder in Form bringen konnte.
»In meiner Garten-AG ziehen wir zum Säen lange Furchen«, sagte ich.
»Die Mäuse brauchen länger, wenn sie Hügel erklimmen müssen«, antwortete Herr Bovist.
»Wenn du willst, können Anni und ich dir helfen, das Gewächshaus zu reparieren. Damit keine Mäuse reinkommen und die Zauberblumen auffuttern«, schlug ich vor.
»Das ist eine hervorragende Idee!«, antwortete Herr Bovist fröhlich.
Anschließend bohrte ich mit dem Stiel der Schaufel ein Loch in jeden Hügel. Schön sah das aus, wie Vulkane.
»Jetzt legst du in jedes Loch einen Samen.« Herr Bovist reichte mir das Tütchen. »Zum Schluss füllst du das Loch wieder mit Erde auf, bis du einen schönen kleinen Hügel vor dir hast.«
Ich durfte die Hügel auch noch gießen.
»Wo sind die Schildchen?«, fragte ich nach dem Gießen.
»Wir brauchen keine Schildchen. Diese Pflanzen kenne ich in- und auswendig.« Herr Bovist klopfte sich zufrieden die Erde von den Händen.
»Und welche Zauberkraft werden die Pflanzen haben?«, fragte ich gespannt.
»Das verrate ich dir noch nicht«, sagte Herr Bovist.
Seine Stimme klang sehr geheimnisvoll. Erst wollte ich ein bisschen quengeln. Aber bei dem alten Mann traute ich mich nicht so recht.
»Woher hast du eigentlich diesen großen Garten?«, fragte ich lieber. »Er ist so wunder-, wunderschön! Ein richtiger Zaubergarten!«
Herr Bovist breitete seinen Mantel auf der Wiese vor dem Gewächshaus aus und setzte sich umständlich darauf. Dann klopfte er neben sich.
»Setz dich«, sagte er. »Ich erzähle dir eine Geschichte.«
Ich kuschelte mich an Rupert, und Herr Bovist legte los:
»Meine Vorfahren kommen ursprünglich aus einem anderen Land. Eines Tages bekam mein Opa die Nachricht, dass er hier ein Stück Land geerbt hatte. Meine Großeltern staunten nicht schlecht. Und freuten sich aus zweierlei Gründen sehr über diese Erbschaft. Zum einen herrschten in ihrer Heimat starke Unruhen, und keiner wusste, wie lange es noch Frieden geben würde. Zum anderen hatten die Menschen ihres Heimatdorfes bemerkt, dass die Familie Bovist eine außergewöhnliche Pflanzenzucht auf ihrem Grundstück unterhielt. Die Nachricht von den Pflanzen mit den unglaublichen Kräften verbreitete sich in Windeseile und weit über die Dorfgrenzen hinaus. Von allen Seiten wurde meine Familie bedrängt. Jeder wollte eine Zauberpflanze besitzen. Manche Menschen schreckten noch nicht einmal vor Diebstahl zurück! Das Familiengeheimnis war in Gefahr! Also packten meine Großeltern ihr Hab und Gut zusammen und zogen in das fremde Land. Ihr Erbe bestand aus Wiesen und Feldern und einem kleinen Bach. Ein Haus gab es nicht. Da bauten meine Großeltern ein kleines Haus und bepflanzten ein paar Felder. Doch in der kleinen Stadt am Rande der Wiesen und Felder meiner Großeltern gab es viele Neidhammel. Sie wollten nicht, dass es einem Zugezogenen so gutging. Einem Ausländer, der noch nicht mal die Sprache der Städter sprach. Und eines Nachts kamen ein paar Männer zu dem Häuschen und zündeten es an. Meine Großeltern konnten sich und ihre Tochter retten, doch das Haus brannte ab. Mein Großvater war so wütend, dass er aus unzähligen Steinen, die er von überall her zusammensuchte, eine riesige Mauer um sein gesamtes Grundstück baute. Er wollte zudem natürlich seine Familie schützen. Er brauchte Jahre, um die Mauer fertigzustellen. Von einem Schmied ließ er ein großes Tor anfertigen, und das gesamte Grundstück bewachten drei große, wilde Hunde. Kein Mensch traute sich jemals wieder auf den Besitz meiner Großeltern.«
Atemlos fragte ich: »Und was passierte dann?«
»Schließlich starb mein Großvater, und meine Großmutter blieb mit meiner Mutter zurück. Sie pflanzte Heilkräuter an und verkaufte sie auf den Märkten in der Umgebung. Aber niemals auf dem Markt in dieser Stadt. Und sie kümmerte sich um ihre Zauberpflanzen. Dieses Wissen gab sie an meine Mutter weiter. Und meine Mutter brachte mir alles bei.«
Ich fragte: »Und warum kennen dich die Leute hier im Viertel immer noch nicht? Wie meine Tante Ilse? Wo du doch schon so lange hier lebst?«
»Tja!«, sagte Herr Bovist. »Als ich klein war, gab es hier noch keine anderen Häuser. Ich musste auf einem Feldweg in die Stadt laufen. Dort ging ich auch zur Schule. Ich hatte nur einen Freund, eben den Hans. Die anderen Leute fanden uns komisch, und wahrscheinlich verhielten wir uns auch etwas seltsam. Meine Mutter ging nur selten in die Stadt. Und Besuch bekamen wir nur von den Leuten des Kreises. Wer mein Vater ist, weiß ich nicht, und als meine Mutter verstarb, da war ich gerade zwanzig Jahre alt. Um mich herum wurden immer mehr Häuser gebaut. Und Straßen. Aber das interessierte mich nicht besonders hinter meiner Mauer. Außer zu den Gleichgesinnten vom Kreis wollte ich keinen Kontakt nach draußen. Die Gerüchte über mich und meinen Garten kamen mir sogar sehr gelegen. Keiner traute sich auf mein Grundstück, und so konnte niemand hinter mein Geheimnis kommen. Ich baute ein Gewächshaus in meinen Garten und züchtete wie verrückt Zauberpflanzen. Und natürlich testete ich sie auch.«
»Nur in deinem Garten?«, fragte ich gespannt. »Damit dich keiner sieht?«
»Hauptsächlich in meinem Garten«, antwortete Herr Bovist. »Aber ein Mensch hat mich trotzdem einmal gesehen. Ich testete gerade die Wirkung einer Pflanze, die mich über und über mit Haaren bedeckte. Ich sah aus wie ein Gorilla. Leider schaute dein Opa gerade dann über die Mauer, als ich haarig über das Grundstück rannte und nach Rüdiger, meinem damaligen Kater, suchte. Als ich deinen Opa da oben sah, schrie ich vor Schreck auf, und er stürzte ab. Der Vorfall tut mir bis heute leid!«
So war das also!
»Das mit deinem Opa ist jetzt ungefähr vierzig Jahre her. Seitdem lasse ich die Büsche und Bäume wachsen und wuchern. Bis auf die beiden Lichtungen, die bleiben frei!«
Herr Bovist, Rupert und ich blieben noch eine Weile auf dem alten Mantel sitzen. Die Bienen summten und Rupert schnarchte.
Irgendwann sagte Herr Bovist: »Es ist schon spät!«
Das stimmte! Ich flitzte schnell nach Hause und rief Anni an. Glücklicherweise war Tante Monis Kaffeeklatsch auch schon vorbei.
Ausführlich erzählte ich meiner Freundin Herrn Bovists spannende Geschichte.
»Es ist doch unglaublich, was man alles verpasst, wenn man mit Tante Moni Geburtstag feiern muss«, sagte Anni.