Montag, 2. Juni
– Stiel: 15 cm (5 cm gewachsen!!!)
– 3 hellgrüne Blätter, alle gezackt und haarig.
– Knospe leicht geöffnet. Ich glaube, die Blüte wird blau.
Am nächsten Morgen konnte ich es kaum fassen: Die Pflanze war über Nacht wie verrückt gewachsen!
Ich war richtig stolz. Wahrscheinlich war meine Pflege perfekt: nicht zu viel Wasser, aber auch nicht zu wenig. Ein helles Plätzchen, aber nicht zu sonnig. Und von Oma wusste ich, dass man auch ab und zu mit seiner Pflanze sprechen sollte. Echt, das brauchen die auch. Wie Haustiere eben. Und wie ein Haustier braucht eine Hauspflanze auch einen Namen. Im letzten Urlaub hatte ich ein Mädchen kennengelernt. Es hieß Ludmilla. So hübsch war die!
»Und du wirst auch hübsch. Dass weiß ich ganz bestimmt!«, sagte ich zu meiner Ludmilla.
»Tiiilda! Kommst du jetzt endlich?«, rief Mama.
Montage kann ich überhaupt nicht leiden. Aber heute freute ich mich ausnahmsweise richtig auf die Schule. Wegen Anni.
»Anni muss in meine Klasse kommen!«, sagte ich zu Ludmilla. »Sonst flippe ich aus!«
»Schlagt das Lesebuch auf der Seite sechsundfünfzig auf. Jeder liest das Gedicht erst einmal leise für sich«, sagte Frau Wonnemeier in der ersten Stunde.
Ich konnte mich überhaupt nicht auf das Gedicht konzentrieren. Kam Anni doch in die Parallelklasse?
Endlich klopfte es an der Tür, und unser Rektor schob Anni vor sich her ins Klassenzimmer.
»Ich bringe euch eure neue Klassenkameradin: Annemarie Kummer«, sagte er.
Oh, wie war ich froh! Und Frau Wonnemeier setzte Anni auch noch auf den leeren Platz an meinem Gruppentisch.
»Das ist der beste Tisch im ganzen Klassenzimmer«, flüsterte ich ihr zu.
Und das stimmt. Mein Gruppentisch steht direkt am Fenster, und vor dem Fenster steht ein riesiger Kastanienbaum. Im Frühling blüht er wunder-, wunderschön, und im Herbst kann ich manchmal zugucken, wie die Kastanien aus ihren Igelhüllen fallen. Aber am allerschönsten ist das Eichhörnchen. Es hüpft immer wieder auf dem Kastanienbaum herum, und dann springen alle Kinder kreischend zu den Fenstern. Nur Frau Wonnemeier findet das nicht so schön. Wegen der Aufregung. Aber gut.
Das einzig Doofe an meinem Gruppentisch ist Emil.
Als Frau Wonnemeier die Deutschhausaufgabe an die Tafel schrieb, zischte Emil Anni zu: »Wer heißt den heute noch Annemarie, außer meiner uralten Oma?«
Ich hätte Emil am liebsten mein Federmäppchen auf den Kopf gedonnert. Dann hätte ich aber in der Pause im Klassenzimmer bleiben müssen. Weil Gewalt in der Schule streng verboten ist. Also guckte ich nur böse.
Anni zischte zurück: »Na, da ist es ja super, dass du wie mein Urururgroßvater heißt. Emil! Richtig modern, das muss ich schon sagen!«
Emil knackste mit seinen Fingern. Sagen konnte er nichts mehr, weil Frau Wonnemeier genau in diesem Moment zu unserem Tisch schaute.
In der Pause zeigte ich Anni das Mädchenklo. Und das Lehrerzimmer. Wir räumten gemeinsam ihre Kunstkiste ein. Und in der zweiten Pause liefen wir zusammen Stelzen. Es war so, so schön!
Bis Emil vor uns stand.
»Jetzt gibt es in unserer Klasse zwei Breitmaulfrösche«, sagte er zu uns. Dabei zog er seinen Mund mit den Fingern ganz, ganz weit auseinander. Blöd sah das aus.
»Hau ab, du Sumpfkuh!«, fauchte ich.
Emil lachte.
Da fragte Anni mit ganz tiefer Stimme: »Warum hat der Breitmaulfrosch so ein wahnsinnig breites Maul?« Sie machte eine Pause und brüllte: »Damit er dich besser fressen kann!«
Mit weit aufgerissenem Riesenmaul sprang sie auf Emil zu. Ihre Zunge schlabberte und sabberte bis zum Kinn.
Und Emil rannte.
Ich musste so lachen, dass ich mir fast in die Hose gemacht hätte.
Anni sagte: »Ich finde Frösche jedenfalls süß, egal ob Breitmaulfrosch oder Spitzmaulfrosch!«
Ich war mir nicht so sicher, ob auch Emil Breitmaulfrösche süß fand. Aber das war ja auch total egal. Anni und ich hüpften den Rest der Pause als Breitmaulfrösche über den Schulhof und hatten eine Menge Spaß.
Die Hausaufgaben erledigte ich an diesem Montag blitzschnell. Anni und ich wollten schließlich noch zum Schuppen.
Gerade hatte ich das Matheheft zugeschlagen, als Leni in mein Zimmer kam.
»Hast du mal einen Killer für mich?«, fragte sie.
Ich leihe Leni nicht gerne etwas. Ich bekomme es nämlich nie zurück. Und dann muss ich ewig in ihrem Durcheinander danach suchen.
»Na gut!«, sagte ich trotzdem.
Leni setzte sich mit einer Pobacke auf mein Heft und kramte in meinem Mäppchen. Ihre andere Pobacke klingelte. Leni fischte ihr neongrünes Handy aus der hautengen Jeans.
»Hi, Tim!«, sagte sie. Mit einer ganz hohen Piepsstimme. So redet Leni nur mit Tim. Und dabei klimpern ihre Wimpern wie verrückt.
Jetzt trippelte Leni zum Fenster.
Und da sah ich Ludmilla. Direkt neben Leni. Wunderschön stand sie auf dem Fensterbrett. Ihre Blüte hatte sich geöffnet und leuchtete in himmelblau und veilchenblau, tintenblau und meerjungfrauenblau, taubenblau und pflaumenblau. Und in ihrer Blütenmitte standen viele kleine grüne Antennen lustig ab. So eine schöne Blüte hatte ich noch niemals nie in meinem Leben gesehen.
»Cool!«, flötete Leni in ihr Handy.
Dabei zupfte sie an Ludmillas haarigem Blatt herum.
Das fand ich nicht so gut. Überhaupt: Sollte sie doch in ihrem Zimmer telefonieren. Aber Pustekuchen!
Leni steckte ihre pickelige Nase in Ludmillas grüne Antennen.
Plöpp!
Ich rieb mir ganz fest die Augen.
Leni war verschwunden!
Einfach so.
»Cool, echt!«, zwitscherte Lenis Stimme am Fenster.
»Leni?«, fragte ich.
»Pscht!«, zischte Lenis Stimme. »Merkst du nicht, dass ich telefoniere?«
Sie war noch da. Aber unsichtbar!
Ich grapschte in die Luft.
Lenis Stimme sagte: »Sorry, Tim! Meine kleine Schwester nervt!« Dann wanderte ihre Stimme durch mein Zimmer und verschwand im Flur.
Ich schluckte meine Aufregung runter und flitzte hinter ihr her.
»Leni!«, sagte ich noch mal und streckte meinen Kopf in ihr Zimmer.
»Hau ab!«, kreischte die Leni-Stimme.
Sehen konnte ich die doofe Pute nicht.
Also suchte ich lieber unser Telefon.
»Anni!«, raunte ich in den Hörer. »Du musst kommen! Jetzt sofort! Es ist etwas Unglaubliches passiert!«
Anni staunte, als ich ihr die prächtige Ludmilla zeigte. Und noch mehr staunte sie, als ich ihr von der unsichtbaren Leni erzählte.
Sie presste ihr Auge an Lenis Schlüsselloch.
»Lass mich auch mal!«, wisperte ich.
Aber Anni wollte ihren Posten nicht aufgeben. Also presste ich mein Ohr an die Tür. Leni telefonierte immer noch mit ihrer hohen Tim-Stimme.
Plötzlich wurde die Zimmertür aufgerissen. Ich taumelte. Und klammerte mich an Annis Arm.
»Woahh!«, machte Anni und plumpste in Lenis Zimmer. Mich zog sie mit. Wie zwei Mistkäfer lagen wir auf dem Rücken auf Lenis lila Teppich.
»Mama!«, kreischte Lenis Stimme. »Tu was! Diese Babys lassen mich nicht in Ruhe telefonieren!«
Anni lag jetzt ganz still. Wie versteinert. Nur ihre Augen suchten Leni.
»Ist was?« Lenis Gekreische wurde schriller.
Sie war immer noch unsichtbar. Und hatte es selbst noch nicht einmal bemerkt.
Ich zog an Annis Kleid. »Komm!«, zischte ich.
Ich krabbelte in den Flur. Und endlich rappelte sich auch Anni auf und krabbelte hinter mir her.
Wumms! Leni knallte die Tür hinter uns zu.
»Tilda, was ist da oben los!«, rief Mama von unten.
»Nichts!«, krächzte ich.
Und noch mal lauter: »Überhaupt nichts!«
Mama durfte auf keinen Fall zu uns nach oben kommen. Meine Mama kann sich fürchterlich aufregen. Schon bei Kleinigkeiten. Und eine unsichtbare Leni würde sie verrückt machen, da war ich mir sicher.
Schon hörte ich Mamas Schritte auf der Treppe.
Anni und ich setzten uns ganz breit auf die oberste Treppenstufe.
»Vollsperrung«, raunte Anni.
Jetzt lugten Mamas Locken um die Ecke.
»Warum kreischt Leni denn so?«, fragte sie.
Tja.
»Sie telefoniert mit Tim«, sagte Anni.
Mama runzelte die Stirn. Und stieg noch ein paar Stufen nach oben. Jetzt war die ganze Mama zu sehen. In ihrer schlabberigen Gartenlatzhose.
»Echt!«, sagte ich. »Sie telefoniert in ihrem Zimmer mit Tim.«
Anni nickte wie verrückt.
»Und ihr beiden sitzt hier einfach so auf der Treppe?«, fragte Mama.
»Ja-ha!«, sagten Anni und ich.
Wir machten uns noch breiter. Plusterten uns auf wie zwei Hühner.
»Darf ich bitte mal durch?«, fragte Mama.
Auf keinen Fall, dachte ich.
Aber Mama zwängte sich einfach zwischen uns durch, marschierte schnurstracks zu Lenis Zimmer und öffnete die Tür.
Ich hielt mir die Augen zu. Mein Herz machte ganz schön Krach. Wumm! Wumm! Wumm!.
»Leni?«, fragte Mama.
Ein fürchterliches Gebrüll wehte Mama entgegen.
»Boooaaah! Kann ich nicht einmal in Ruhe telefonieren?«, brüllte Leni.
Mama machte einen erschrockenen Rückwärtshüpfer. Die Tür knallte vor ihrer Nase zu. Peng!
Jetzt guckte Mama sehr, sehr finster.
»Pah!«, schnaubte sie. Fast wie ein Pferd.
Und endlich, endlich stapfte Mama alle Treppenstufen wieder nach unten.
Ich starrte Anni an. Und Anni starrte mich an. Wie angewachsen saßen wir auf der obersten Treppenstufe.
»Anni, ich habe eine Zauberblume geklaut!«, sagte ich schließlich.
»Da kann ich echt nur staunen!«, antwortete Anni und kaute an ihrer Haarsträhne.
»Wenn Leni merkt, dass sie unsichtbar ist, haben wir ein Riesenproblem!«, sagte ich.
Leni konnte kreischen wie ein Pavian. Die ganze Straße würde angerannt kommen, um nach Leni zu gucken.
»Und wenn Leni für immer unsichtbar bleibt, habe ich ein noch viel riesigeres Problem mit Mama und Papa!«, stöhnte ich.
Ich wollte mich gerade aufregen, da öffnete sich Lenis Zimmertür. Und eine gut sichtbare und pfeifende Leni eilte über den Flur ins Badezimmer.
»Na also!«, sagte Anni.
Ich war so froh. Und Anni auch, dass hab ich genau gemerkt.
Jetzt mussten wir uns aber dringend um Ludmilla kümmern.
»Du wunder-, wunderschöne Zauber-Ludmilla«, sagte ich und streichelte ihr behaartes Blatt.
Anni schnappte sich den Blumentopf.
»Und jetzt lassen wir uns verzaubern!«, sagte sie.
»Jetzt?«, fragte ich.
»Jetzt!«, sagte Anni. »Wir müssen doch wohl testen, ob der Zauber auch bei uns wirkt! Und wie du an Leni gesehen hast, ist man nicht für immer und ewig unsichtbar. Das wird ein Riesenspaß!«
Sie bückte sich und atmete unglaublich laut ein.
Plöpp!
Anni war nicht mehr zu sehen.
»Hatschi!«, machte Annis Stimme. »Jetzt du!«
»Ich muss erst noch Ludmilla verstecken!«
Ich öffnete meinen Kleiderschrank und stellte Ludmilla zwischen die Körbe mit den Unterhosen und den Socken.
»Achtung!«, zischte plötzlich Anni.
Leni sagte hinter mir: »Ich brauch noch den Killer.«
Mein Kopf knallte gegen die Kleiderstange im Schrank. Fast wäre ich auf Ludmilla gefallen. Im letzten Moment konnte ich mich in die Sockenkiste abrollen.
Leni kramte in meinem Mäppchen.
»Du kannst den Killer behalten«, sagte ich aus dem Schrank heraus.
»Cool!«, sagte Leni und verkrümelte sich endlich.
Ich steckte meine Nase in Ludmillas grüne Antennen. Sie kitzelten. Und dufteten ganz leicht nach Mamas Parfüm. Ich holte richtig tief Luft.
»Es hat geklappt!«, rief Anni.
Gespannt flitzte ich zu meinem Leuchtturmspiegel. Der hängt innen an meiner Zimmertür. Wumms! Auf halbem Weg knallte ich gegen etwas Hartes.
»Au-au-au!«, jammerte Anni.
Dann mussten wir lachen. Ich lag auf dem Boden und hielt mir den unsichtbaren Bauch vor Lachen.
»Wo bist du?«, japste ich.
»Irgendwo neben dir!«, quietschte Anni.
Ich packte mein Kuschelschwein und schleuderte es in Richtung Annis Stimme.
»Nicht getroffen!«, juchzte Anni und schleuderte meinen Stoffhund zurück. Jetzt flogen meine Stofftiere nur so durch das Zimmer.
Anschließend stellte ich meine Lieblingsmusik an, und wir tanzten und hüpften wild durchs Zimmer. Die Spielregel war: nicht zusammenknallen. Es war sehr, sehr lustig. Weil wir natürlich trotzdem zusammenknallten. So unsichtbar!
Irgendwann konnten wir nicht mehr.
»Komm!«, keuchte Anni. »Wir gehen raus auf die Straße. Das ist bestimmt noch lustiger!«
Die Idee fand ich prima.
Auf der Treppe rumpelte Anni voll in mich rein. Ich konnte mich nicht mehr am Geländer festhalten und kullerte die restlichen Stufen runter. Und Anni flog über mich drüber, weil sie mich am Boden natürlich auch nicht sehen konnte.
»Verflixt!«, stöhnte Anni.
»Wir brauchen ein Zeichen«, sagte ich.
»Was für ein Zeichen?«, fragte Anni.
»Na, ein lautes Zeichen eben. Zum Beispiel Piep!«, antwortete ich.
Das testeten wir gleich mal. Piepsend lief ich die zweite Treppe runter und zur Haustür. Das klappte ganz gut. Leider stand Mama im Vorgarten und buddelte in ihrem klitzekleinen Beet herum.
Leise, leise drückte ich die Haustür wieder zu.
»Wir gehen hinten durch den Garten«, sagte ich.
Wieder knallte ich gegen die unsichtbare Anni.
»Du musst Piep machen«, fauchte ich.
»Piep!«, machte Anni.
Piepsend schafften wir es jetzt ohne Unfall bis auf die Terrasse.
»Piep!«, machte ich.
Keine Antwort.
»Wo bist du?«, fragte ich laut.
»Hier!«, sagte Anni. »Am Zaun. Schau mal, was bei euren Nachbarn Leckeres auf den Tellern liegt.«
Auf zwei geblümten Tellern lag Himbeertorte. Ich mag Himbeertorte fast so gern wie Vanilleeis mit heißen Himbeeren.
Von Sackers selbst war nichts zu sehen.
»Komm!«, sagte Anni.
Der niedrige Holzzaun zwischen den Gärten schwankte.
Ungefähr zwei Minuten später hatten wir beide Tortenstücke verputzt.
»Mehr!«, verlangte Anni.
Eine tiefe Männerstimme erschreckte mich fast zu Tode: »Truuudiii! Der Kaffee ist durchgelaufen! Kommst du?«
Mein Stuhl kippte um und schepperte.
Mit rotem Kopf starrte Herr Sacker auf die leeren, krümeligen Teller.
»Truuudiii!«, brüllte er. »Ja, Herrschaftszeiten, was ist hier los?«
»Die Katze!«, jammerte die dicke Trudi.
Herr Sacker fluchte und schimpfte.
Wie ein Geist huschte ich zu den Büschen.
»Piep?«, machte ich leise.
»Ich bin hier. Lass uns verschwinden!«, raunte Anni dicht neben mir.
»Nebenan wohnt Mamas Sportfreundin Bärbel«, sagte ich.
Bärbel döste in einem klitzekleinen Bikini auf ihrer Gartenliege.
»Anni?«, wisperte ich.
»Ja?«, raunte Anni zurück.
»Ich gehe und drücke die Klingel!«
Da Bärbel im Eckhaus wohnt, flitzte ich einfach um die Hausecke zur Haustür.
Dingdong!
Es dauerte etwas, bis Bärbel in einem verrutschten Kleid die Tür aufriss. Sie schaute sich um.
»Huhu, Bärbel!«, rief meine Mama aus unserem Vorgarten herüber. Kurz bekam ich einen Schreck.
»Hast du jemanden bei mir klingeln sehen?«, rief Bärbel zurück.
Mama schüttelte den Kopf.
»Tzzz!« Bärbel verschwand im Haus, die Haustür knallte zu.
Ich wartete kurz.
Dingdong!
Ich flitzte immer wieder um die Hausecke, um auch ja nichts zu verpassen. Und lachte, bis mein Bauch zitterte.
Als ich das fünfte Mal den Klingelknopf drücken wollte, rutschte mein Lachen im Eiltempo runter in meine Füße.
Mama kniete noch in ihrem Beet. Papa stand in Anzug und mit Aktentasche auf dem Fußweg vor unserem Haus. Und bei ihnen stand der Krähenmann.
Mein Mund fühlte sich plötzlich pupstrocken an.
»Anni!!!«, krächzte ich.
Sie antwortete nicht.
»Annniii!«, versuchte ich es etwas lauter.
»Piep«, machte es endlich neben mir.
»Guck mal da!«, krächzte ich.
»Mist!«, flüsterte Anni.
Seinen riesigen braunen Mantel trug Herr Bovist nicht. Aber ich erkannte ihn an seinen Haaren. Die verrieten ihn. Obwohl sie heute ordentlich gekämmt waren. Und er trug eine schwarze Sonnenbrille. Die war so riesig, dass kaum noch etwas von seinem Gesicht zu sehen war.
»Er will seine Zauberpflanze wiederhaben, ganz sicher!«, wisperte ich.
»Er verpetzt uns bei deinen Eltern«, wisperte Anni zurück.
Jetzt nickte Herr Bovist Mama und Papa kurz zu, drehte sich um und verschwand um die Ecke.
»Hinterher!«, raunte ich.
Ich sauste an meinen Eltern vorbei. Da vorne lief Herr Bovist. Seine schwarze Jacke flatterte über seiner schwarzen Hose, und die schwarzen Schuhe huschten lautlos über den Gehweg.
»Piep«, machte ich.
»Piep«, antwortete Anni.
Herr Bovist bog in die Scheffelstraße ab. Vor dem Haus von Oma und Opa blieb er stehen. Er schaute erst nach links, dann nach rechts. Jetzt stand er ganz still und beobachtete das Haus.
Mein Bauch grummelte. Hoffentlich guckten Oma und Opa nicht gerade jetzt aus dem Fenster.
Nein, mit langen Schritten lief er weiter. An Opas weißem Gartenzaun entlang. Dann begann Herr Bovists große Mauer. Sie schlängelt sich ewig um eine lange Kurve bis vor ein schwarzes Eisentor. Das Tor ist so hoch, dass nicht mal Papa hätte drüber gucken können. Herr Bovist schloss auf und schob sich durch den Spalt. Als ich endlich am Tor stand, hörte ich nur noch seine Schritte. Sie entfernten sich knirschend.
»Anni?«, fragte ich.
Da sah ich Anni! Ihr lila-gelb-rot geblümtes Kleid leuchtete vor der riesigen Steinmauer.
Beim Abendessen fragte ich Papa. »Wer war denn der Mann mit der großen Sonnenbrille, mit dem ihr heute Nachmittag vor dem Haus gesprochen habt?«
»Ach, der!«, antwortete Papa und kaute ewig an seinem Salatblatt herum. »Keine Ahnung. Er fragte nach einer Pflanze. Oder nein: Wir sollten weitererzählen, dass er seine Pflanze sucht und ganz bestimmt auch findet! Oder so ähnlich. Sehr seltsam!«
Da verschluckte ich mich fürchterlich an meiner Bratkartoffel.