Die Erzählung Utz (1988) von Bruce Chatwin (1940 bis 1989), mit Armin Müller-Stahl in der Hauptrolle verfilmt, handelt von einem tschechischen Baron, Kaspar Joachim von Utz, der hingerissen ist von Meissener Porzellan. In Kändlers Figurinen sah er die Vollendung menschlicher Anmut, nie mehr zu leugnen, da ewig gebannt in feste Form, und zugleich von tänzelnder, lebensfroher Statur. Er erbt einige Stücke von seinen Eltern, kauft neue hinzu, verwahrt sie gut und lebt mit ihnen in innigster Eintracht in seiner bescheidenen Prager Wohnung, die ihm nach Krieg und Bodenreform in der Tschechoslowakei geblieben war. Die kostbare Sammlung erinnert ihn an bessere Zeiten und macht sein Leben zu einer würdevollen Existenz. Alt geworden, fürchtete er, seine Sammlung könne aufgelöst werden, denn die Regierung seines Landes hat längst Kunde davon bekommen. Da er keine Nachkommen hat, muss er davon ausgehen, dass seine geliebten Figurinen in Staatsbesitz übergehen und nicht mehr gebührend respektiert werden. Um dem vorzugreifen, bittet er eine Person seines Vertrauens, die Frau, die ihm den Haushalt führt, die Figuren vor seinem Ableben zu zerschlagen. Kaum zu ertragen ist die Szene, in der die treue Angestellte zu Utz ans Bett tritt, in das er sich altersmüde zurückgezogen hat, ihm eine Statuette nach der anderen präsentiert, sein leises Nicken abwartet, um das Zimmer wieder zu verlassen und das zu tun, was sie tun muss. Die berühmten Teile zerspringen in tausend Stücke.
Ähnlich müssen sich die Brühls gefühlt haben, als ihnen klar wurde, dass die kostbare Sammlung ihres Vorfahren in alle Himmelsrichtungen zerstob. Sie hatten weder Mittel noch Kraft, diese Entwicklung aufzuhalten, und mussten die Verantwortung für ein Kulturgut aufgeben, für das sie fast zwei Jahrhunderte lang verlässlich eingestanden hatten. Wer nicht mit dem Schwanenservice aufgewachsen ist, kann nur schwer nachvollziehen, was das bedeutet. Als ich meine Mutter fragte, warum sie und mein Vater sich nachträglich keine Teile aus dem berühmten Brühlschen Porzellan zugelegt hätten, schaute sie mich erstaunt an: »Hätten wir etwa Diebesgut kaufen sollen?«
Doch die Familie fand andere Möglichkeiten, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Sie verlagerte ihr Engagement auf den sozialen Bereich, wie meine Tante, die Fürsorgerin wurde, oder übernahm Verantwortung im politischen Sinn, wie meine Eltern bei ihrer Versöhnungsarbeit in Polen oder ihrem Einsatz für die Flüchtlinge aus der DDR.
Eine letzte Hoffnung war schließlich geblieben. Sie beruhte auf den 37 Teilen des Schwanenservice, die Museumsdirektor Berling 1920 für die Dresdner Sammlungen entliehen hatte. »Die sind also da!«, hatte mein Vater in seinem Brief an den Vetter freudig-aufgeregt geschrieben, und in der Tat, sie waren, wie beschrieben, sorgfältig in zwei Kisten verpackt und 1943/44 nach Schloss Reichstädt gebracht worden. 27 Teile172 überstanden die Plünderungen der Nachkriegszeit und kehrten 1946 in die Elbmetropole zurück. Der Dresdner Kunsthistoriker Wolfgang Balzer (1884–1968) nahm sich ihrer persönlich an. In seiner Funktion als Direktor des Kunstgewerbemuseums und der Porzellansammlung richtete er bis 1949 eine neue Museumsstätte in Schloss Moritzburg ein, wo die Öffentlichkeit das Schwanenservice erstmals nach dem Krieg wieder zu sehen bekam.173 Wenn schon nicht in einem Brühlschen Palais, konnte es wenigstens an dem Ort gezeigt werden, an dem Heinrich und Marianne 1734 geheiratet hatten.
Unermüdlich engagierte sich Balzer für die Wiedereinrichtung der Dresdner Museen und Sammlungen. 1923 zum Direktor des Kunstgewerbemuseums ernannt, hatten ihn die Nationalsozialisten 1933 zunächst in Schutzhaft genommen und ihn dann endgültig in den Ruhestand versetzt. Bei der Zerstörung Dresdens wurde der Verfemte ausgebombt und verlor sein gesamtes wissenschaftliches Material sowie seine private Kunstsammlung. Nach Kriegsende wurde er in aller Form rehabilitiert und nahm nicht nur die Porzellansammlung unter seine Obhut, sondern wurde 1950 auch zum Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen berufen.
Zwei Jahre danach gelang es, die Porzellansammlung zurück nach Dresden zu holen und sie dauerhaft im Lustgarten Zwinger unterzubringen. Sie wurde im südwestlichen Flügel der Anlage ausgestellt, der sogenannten Langgalerie – in der sie sich bis heute befindet – und am 23. September 1962174 offiziell eröffnet. Kaum passendere Räume sind für die einzigartigen Exponate denkbar. Licht strömt von rechts und links durch bodentiefe Fenster. Eine Bogengalerie schaffte freie Wandflächen für Arrangements nach dem Vorbild der alten Pläne, die einst für das Japanische Palais galten. Schon in den sechziger Jahren war mit der Ehrung dieser einmaligen Kunstwerke die Hoffnung verbunden, solche fragilen Werke, deren Fertigung 250 Jahre zuvor in Sachsen ihren Anfang genommen hatte, mögen nie wieder durch Krieg und Vertreibung in Gefahr geraten, zerstört oder auseinandergerissen werden.
Auch andernorts in Dresden wurde des Lebens und Wirkens des einstigen Premierministers gedacht. Die auf seine Intention hin gestaltete Terrasse prägte trotz der Bombardierung im Februar 1945 wieder die Stadtkulisse. 1814 hatte sie der russische Gouverneur Nikolai Grigorjewitsch Repnin-Wolkonski (1778–1845) durch eine breite Freitreppe zur Hofkirche hin ergänzen lassen und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 1843 und 1890 wurden weitere Auf- und Abgänge hinzugefügt. Seitdem bildet die Anlage mit ihren schattigen Baumreihen und der weiten Aussicht über die Elbe eine der schönsten Promenaden der Stadt und macht ihrem einstigen Titel »Balkon Europas« alle Ehre.
Die »Brühlschen Herrlichkeiten« hingegen, die umfassende Bebauung der Terrasse, existierten nicht mehr. Das Belvedere auf der Spitze der Anlage hatten schon die Truppen Friedrichs II. vernichtet. Auch das Brühlsche Palais am Eingang der Terrasse war abgerissen worden. 1887–1894 entstand an der Stelle der Brühlschen Galerie die Kunstakademie, erbaut von Constantin Lipsius. Der verschachtelte Bau birgt heute die Hochschule der Bildenden Künste. Die Studenten, die dort ein und aus gehen, sagen allerdings, sie studieren »auf dem Brühl«. Einige Ateliers gehen direkt auf die Terrasse.
Wo sich die Brühlsche Bibliothek einst befand, entstand 1897 die Sekundogenitur, ein Gebäude, das heute als Kaffeehaus genutzt wird, und 1900 errichtete Paul Wallot neben der Freitreppe ein neues Ständehaus. Den Abschluss in Richtung Süden bildet das Museum Albertinum. Das originale Geländer, das sich im Brühlschen Palais befunden hatte, fand in dem Gebäudeteil der Hochschule Verwendung, das sich elbaufwärts am Güntzplatz befindet, und schmückt den dortigen Treppenaufgang. Auch wurde im Hof dieses Hauses der einstige Festsaal aus dem Palais aufgestellt. Im Garten stehen schwere Sandsteinskulpturen aus den Brühlschen Anwesen. Ihre Oberflächen verwittern langsam und verleihen dem Ganzen ein romantisches Aussehen.
Selbst vor den Toren der Stadt, im Seifersdorfer Tal, besann man sich des Brühlschen Wirkens. 1972 entdeckte Kathrin Franz, Studentin der Landschaftsarchitektur in Dresden, die Parkanlage Christinas und machte sie zum Thema ihrer Diplomarbeit. Sie forschte, machte alte Quellen ausfindig und stimmte ihre Entdeckungen mit dem ab, was an der Röder noch zu finden war. Und damit nicht genug: Die engagierte Frau mobilisierte Freunde und Kollegen, organisierte Arbeitseinsätze an den Wochenenden und stürzte sich mit Feuereifer in die Renaturierung der Anlage. Der Park nahm wieder Gestalt an, einzelne Skulpturen wurden erneuert, Wege gezogen, Sichtachsen freigelegt. Beeindruckend an dem Einsatz war, dass er allein dem Gemeinwesen, der Allgemeinheit galt, denn Kathrin Franz hatte keineswegs die Möglichkeit oder die Absicht, das Areal persönlich zu erwerben. Das enorme bürgerschaftliche Engagement, das sie und ihre Mitstreiter an den Tag legten, scheint ihnen die Gelegenheit gegeben zu haben, die eigene Person zu verorten und gezielt Gegenkräfte und Selbstbestimmtheit aus ihrer Initiative zu gewinnen. Gartenpflege statt sozialistischer Linientreue? Vertikale Verwurzelung statt horizontaler Vereinnahmung? Selbst nachdem sie nach Leipzig gezogen und sich als Landschaftsarchitektin selbständig gemacht hatte, kümmerte sie sich weiter um den romantischen Garten. Sie veranstaltete Seminare, bot geführte Spaziergänge an, organisierte Laienaufführungen und Konzerte. Ihre Leidenschaft war unerschöpflich.
Nach der Wende gründete sie den Verein Seifersdorfer Thal, akquirierte Gelder und konnte fehlende Parkdenkmäler ersetzen lassen. Die Umweltstiftung der Allianz leistete finanzielle Unterstützung, die Stiftung für Denkmalschutz zeichnete den Park aus. Bis heute ist ein reges Engagement um das Vorhaben zu spüren. Jede Neuerwerbung wird freudig gefeiert und gemeinsam mit den Thal-Freunden eingeweiht. Regelmäßig lädt der Verein zu Festen und Konzerten ein. Ohne den rückhaltlosen Einsatz von Kathrin Franz und ihren Mitstreitern wäre der historische Garten längst in Vergessenheit geraten.
Pfingstmontag 2010 tobte urplötzlich ein Tornado durch Ostsachsen. Der Sturm dauerte etwa eine Viertelstunde und entlud sich punktgenau über dem Seifersdorfer Tal und seiner Umgebung. Bäume knickten um wie Streichhölzer, riesige Äste brachen herunter, verwüsteten Wege und Parkdenkmäler, fielen krachend in den Fluss und zerschlugen an mehreren Stellen das Ufer. Der herrliche Ort bot ein Bild der Zerstörung.
An diesem Tag offenbarte sich unerbittlich der Sisyphos-Charakter der zahlreichen Garteneinsätze. Trotz bester Absicht ist der Mensch mit seinen Werken keineswegs gegen Katastrophen gefeit. Doch die Thal-Freunde ließen sich nicht unterkriegen. Sie klagten laut – und fingen noch einmal von vorn an. Kathrin Franz bat erneut um Spenden, alle halfen, wo sie nur konnten. Was zuvor angelegt worden war, wurde jetzt von denselben Menschen aufgeräumt und repariert. Inzwischen ist aus dem Park wieder das Kleinod geworden, das er einst war.
Das Interesse ist geblieben, die Einsatzfreude nicht versiegt. Als der Pachtvertrag für die Marienmühle – das schmucke Gasthaus am Eingang zum Tina-Tal – Anfang der 2000er Jahre auslief, setzte sich der Verein dafür ein, dass das Haus in gute Hände kam. 2018 sorgte er dafür, dass die baufälligen Schuppen am Eingang des Tals abgerissen wurden und an ihrer Stelle ein praktisches Gärtnerhaus entstand. 2019 konnte es feierlich eingeweiht werden.
Das Seifersdorfer Tal besticht durch seinen Mangel an Großartigkeit. Es kommt im wahrsten Sinn des Wortes unprätentiös daher, die Baudenkmäler und gravierten Stelen und Steintafeln wirken verspielt und natürlich. So wartet auf jeden, der hierherkommt, zu welcher Jahreszeit auch immer, eine ganz persönliche Erkundung. Man muss die Sehenswürdigkeiten suchen, gibt fast schon auf, findet sie dann gewiss, doch bleibt die Besichtigung bis zum Schluss ein Versteckspiel, eine Suche nach Schönheiten im Wald. Bis man alles gefunden hat, ist viel Zeit vergangen, das Vergnügen daran unendlich.
Auch andernorts besann man sich auf das Erbe Brühls. Schloss Nischwitz bei Leipzig, das bis zur Wende als Krankenhaus und Altersheim gedient hatte, wurde aufwändig restauriert und zeigt sich heute wieder im alten Gewand. Sowohl das Treppenhaus als auch den prächtigen Gartensaal schmücken historische Wandmalereien. Die spätbarocken Jagdimpressionen und mythologischen Szenen an Decke und Wänden werden, ähnlich wie die in Schloss Martinskirchen, dem italienischen Maler Torelli zugeschrieben.
Hinter dem Anwesen erstreckt sich der weitläufige Landschaftspark mit seinen hohen alten Bäumen, grasbewachsenen Fluren und Blumenrabatten. Die verschlungenen Pfade führen zu einem erhöhten Ufer, von dem man hinaus ins flache Land und hinüber bis zum Mulde-Fluss sehen kann.
Bisweilen mieten Studenten der Leipziger Universität das Schloss für ihren jährlichen Maskenball. Dann beleuchten Fackeln die dunklen Parkwege, und die Wipfel der Bäume zaubern wilde Schatten auf die Mauern. Die bodentiefen Fenster im ebenerdigen Gartensaal sind weit geöffnet, und junge Leute mit ihren bunten Masken und den höfischen Gewändern strömen übermütig kichernd zur Polonaise ins Freie. Man könnte meinen, die Zeit sei stehengeblieben.
In Forst und Brody war es wesentlich schwieriger, das Brühlsche Erbe zu erhalten, befand sich doch zwischen den beiden Orten eine streng bewachte Grenze. Umso beeindruckender ist das bürgerschaftliche Engagement, das sich gerade hier zeigte und zeigt. Kurz nach der Wende lud die Stadt Forst zu einem Lausitzer Begegnungsfest ein. Auch meine Eltern und ich waren gebeten worden, doch ahnten wir nicht im Geringsten, was uns erwartete. Das Fest fand in einer Örtlichkeit statt, die von außen kaum als Veranstaltungsort erkennbar war. Das Wetter war zudem trübe, der Himmel grau, und wir irrten lange suchend durch die eintönigen Straßen der einst stolzen Tuchmacherstadt.
Unschlüssig, ob die Adresse stimmt, betraten wir schließlich ein schmuckloses Gebäude und öffneten eine der zahlreichen Türen. Ohrenbetäubender Lärm schallte uns entgegen. Verunsichert blieben wir am Eingang stehen. Gedeckte Tische standen in langen Reihen eng nebeneinander, jeder verziert mit einem Fähnchen, auf dem polnische oder deutsche Ortsnamen zu lesen waren. In den schmalen Gängen drängten sich die Menschen, schoben sich aufgeregt aneinander vorbei, schrien sich ihre Nachnamen und Geburtsorte quer durch den Saal zu, begrüßten einander, fielen sich weinend um den Hals. Aus einer Luke unweit der Eingangstür quoll warmer Essensgeruch. Kaum dass es Mittag geschlagen hatte, wurden Teller, reichlich gefüllt mit Kartoffeln und Braten in dunkler Soße, ausgegeben, gleich nebenan gab es Bier und Schnaps. Von der Bühne dröhnte lautstarke Blasmusik. Wohin waren wir geraten?
Ein schwitzender Herr in knappem Anzug arbeitete sich auf uns zu, begrüßte meinen Vater und führte ihn auf die Bühne. Er sollte einige Grußworte sprechen. Mein Vater wurde plötzlich ungeheuer emotional. Ich sah, dass seine Hände zitterten. Zum Glück hatte er sich vorab ein paar Notizen gemacht.
Meine Mutter und ich stellten uns möglichst unauffällig an die Seite, die Blaskapelle spielte einen Tusch, und der schwitzende Herr kündigte seinen Gast an, doch die Menge nahm davon keine Notiz. Niemand unterbrach sein Gespräch, alle unterhielten sich brüllend weiter. Mein Vater redete und redete, doch man sah nur, wie sich seine Lippen bewegten. Was er sagte, war nicht zu verstehen, die Wiedersehensfreude unter den Menschen im Saal überwog alles andere.
Hier waren Männer und Frauen aus Ost und West zusammengekommen, die nach dem Krieg nicht nur durch die Oder-Neiße-Linie von ihrer Heimat, sondern auch durch Mauer und deutsch-deutsche Grenze von ihren Verwandten, Nachbarn, Mitschülern, Freunden getrennt worden waren. Die Fähnchen auf den Tischen standen für die Lausitzer Orte, aus denen sie stammten. Auf Deutsch waren die Namen verzeichnet, die diese Orte trugen, als die Menschen sie verlassen hatten, auf Polnisch die späteren Bezeichnungen. Einer der Tische war für die Bewohner Pförtens gedeckt.
Im Unterschied zu Westdeutschland hatte die Sowjetische Militäradministration nach dem Krieg kein Konzept zur Lösung der Flüchtlingsfrage aufzuweisen. Angelangt in der SBZ, wurden Ostpreußen oder Schlesier »Umsiedler« genannt, eine Bezeichnung, die nahelegte, dass ihr Aufenthalt am neuen Ort nicht vorübergehend und der Grund keine – wie im Potsdamer Abkommen formuliert – völkerrechtswidrige Vertreibung, sondern eine ordnungsgemäße Umsiedlung sei: »Damit begann eine vierzig Jahre währende öffentliche Tabuisierung ihrer Vergangenheit, die vielen Vertriebenen in der DDR die Trauerarbeit erschwert hat. Nicht einmal ihre kulturelle Identität konnten sie in der Aufnahmegesellschaft pflegen. Als ›Umsiedler‹ wurden über vier Millionen Vertriebene in der SBZ und späteren DDR aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt und ihr Schicksal totgeschwiegen«, erläutert der Historiker Andreas Kossert.175
Schmerz und Trauer über diesen Umgang brachen sich bei den einstigen Flüchtlingen nach der Wende Bahn, begleitet von Freude und Erleichterung. Endlich durften sie offen über ihr Schicksal sprechen, durften sich gegenseitig erzählen, was im Einzelnen passiert war. Die Wiedersehensfreude mit den einstigen Nachbarn aus Pförten, Beitzsch (Biecz) oder Sorau (Żary) muss viele von ihnen überwältigt haben. Zum ersten Mal waren sie nach all den Jahren offiziell eingeladen, sich zu versammeln und mit Freunden auszutauschen, die nach dem Krieg weiter in Richtung Westen geflohen waren. Öffentliches Erinnern, die Pflege von Brauchtum und Traditionen der schlesischen oder ostpreußischen Heimat waren in der DDR verboten gewesen und wurden als »Revanchismus« verunglimpft. Nach der physischen sei das die geistige Vertreibung gewesen, so Kossert.176
Für Brühls blieb es nicht bei diesem Besuch in Forst. Die Stadt widmet sich intensiv dem Andenken Heinrichs. Anlässlich seines 250. Todestages wurde die Gruft in der Stadtkirche St. Nikolai, in der er beigesetzt worden war, renoviert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Am 28. Oktober 2013 wurde die Gedenkstätte eingeweiht. Durch eine Glasscheibe ist der Sarg des Ministers zu sehen. Einige Treppenstufen innerhalb der Kirche führen hinunter. Bei Festlichkeiten im Forster Rosengarten und anlässlich von Stadtjubiläen werden die Nachkommen Heinrichs regelmäßig mit einbezogen.
Das Engagement der Forster Bürger für die Geschichte ihrer Region macht keineswegs vor den Toren der Stadt halt. Zu Brody bestehen enge Verbindungen, die sich in regelmäßigem Austausch der Bürgermeister beider Ortschaften manifestieren. Zu sämtlichen kulturellen Höhepunkten, die aus dieser Partnerschaft resultieren, werden Mitglieder der Familie Brühl eingeladen. Die Fahrt über die Neiße ist wieder ganz kurz geworden. Seitdem Polen der Europäischen Union beigetreten ist, werden an der neuen Brücke nicht einmal mehr die Pässe kontrolliert.
Hilfreich ist hierbei auch das Internet, das einen schnellen direkten Austausch über alle Grenzen hinweg ermöglicht. Freunde aus der Region diesseits und jenseits der Neiße haben eine deutsch-polnische Plattform gegründet, das »Virtual Museum Brody/Pförten«, auf der sie Fotos publizieren und über Ereignisse berichten, die mit der Geschichte der Gegend und der Brühl-Familie zu tun haben. Alte Fotos werden mit aktuellen Bildern der jeweils gleichen Stadt- oder Landansicht kombiniert und so ein unmittelbar sichtbarer Bezug zwischen dem Gestern und dem Heute hergestellt. Der Forster Stadtarchivar Jan Klussmann begründet das außergewöhnliche Engagement der Bewohner mit der jahrhundertealten Verbundenheit zwischen Forst und Pförten: »Mit dem von Brühl testamentarisch errichteten Majorat (Fideikommiss) für die Standesherrschaft blieben seine Nachfahren nicht nur Pförten, sondern über die Aufhebung der Stadtherrschaft 1858 hinweg auch der Stadt Forst bis Kriegsende 1945 eng verbunden. Die Erinnerung daran hat, verknüpft mit der Identitätssuche einer durch die Umbrüche des 20. Jahrhunderts besonders betroffenen Kommune, in den letzten Jahren eine Renaissance erfahren.«177
Brody selbst war bemüht, das Andenken Heinrichs und seiner Familie gleich in den Nachkriegsjahren zu bewahren. Anfang der sechziger Jahre wurden am Schloss Gerüste hochgezogen, Mauern, Wände und Böden stabilisiert. Auf einem Foto aus der Sammlung Frank Owczarek ist zu sehen, dass ein neues Dach aufgesetzt, Fenster und Gauben wiederhergerichtet wurden. Der Brand, den die nicht sachgerechte Nutzung des Hauses in den Nachkriegsmonaten verursacht hatte – man nimmt eine Überheizung der Öfen als Ursache an –, hatte Innenräume und Dachgeschoss größtenteils zerstört. Russische und polnische Soldaten hatten Brody und Umgebung als Quartier, das Brühlsche Schloss als Unterkunft benutzt. Die Seitenflügel waren ständig bewohnt und nahmen zum Glück keinen vergleichbaren Schaden. Die architektonische Verbindung zwischen Haupt- und Nebengebäuden konnte jedoch nicht bewahrt werden.
Ende der achtziger Jahre erwarben wechselnde Eigentümer aus Polen und Kanada das Anwesen, erhielten Unterstützung vom polnischen Denkmalschutz und setzten die Renovierungsarbeiten fort. Einer der beiden Seitenflügel wurde zum Hotel und Restaurant ausgebaut, die familieneigene Kapelle im gegenüberliegenden Flügel machte einem Festsaal Platz.
Gleichzeitig hatte Brody, ähnlich wie die gesamte Region, erhebliche Schwierigkeiten, die Bedeutung ihres kulturellen Erbes hervorzuheben, waren Schloss, Park und Wald, auch alte Kirchen und Anwesen anderer herrschaftlicher Familien in der Umgebung dauerhaft vom Braunkohletageabbau bedroht. Hätte die Regierung in Warschau beschlossen, ihn zu erweitern, wären ihm alle Städte und Dörfer in der Lausitz zum Opfer gefallen – ein Schicksal, das Brody mit den Bewohnern von Forst teilte.
Vielleicht ist das wiederum der Grund, warum einige Teile der Schloss- und Parkanlage nicht erhalten blieben. Der See ist verlandet, die Orangerie eine Ruine, und durch die einst gepflegte Rasenanlage zieht sich so mancher Trampelpfad. Das erinnerte an Anton Tschechows Stück Der Kirschgarten (1903), in dem die Tatsache, dass Dorfbewohner unbekümmert durch den herrschaftlichen Park der Familie spazieren, das Ende der Feudalherrschaft ankündigt.
Grenzübergreifendes bürgerschaftliches Aufbegehren gebot dieser Entwicklung ab 2009 Einhalt. In einer beispielhaften Aktion rief Landschaftsarchitekt Claudius Wecke zusammen mit den Bürgermeistern und zahlreichen Helfern von Brody und Forst zu gemeinsamen Garteneinsätzen auf. In Zeitungen und sozialen Medien diesseits und jenseits der Grenze wurde dazu eingeladen. Im Rahmen des »Internationalen polnisch-deutschen Parkseminars«, das seither wiederholt stattfand, stellten Bewohner von Brody und Forst zusammen mit Bürgern aus ganz Polen und Deutschland unter fachkundiger Leitung die Anlagen wieder her. Wiesenflächen wurden modelliert, die Auffahrt zum Schloss begehbar gemacht, die Blickachse von der Langen Allee im Nordboskett zum See geöffnet und die 1860 gepflanzten Linden frisch beschnitten. Auch an diesen Aktionen hatten jedes Mal Mitglieder der Familie die Möglichkeit teilzunehmen.
2010 gründete Forst den Europäischen Parkverbund Lausitz, der den Schlosspark Brody, die Fürst-Pückler-Parks Bad Muskau und Branitz sowie den Ostdeutschen Rosengarten Forst vereinigt. 2017 wurde der Verbund um die Parkanlagen Zatonie (Günthersdorf), Żagań (Sagan), Kromlau, Altdöbern und Neschwitz erweitert. Mit seiner Liebe zu den Bäumen hätte mein Großvater seine helle Freude an dieser Entwicklung gehabt.
Grund für die Erweiterung des Parkverbundes war der Ehrgeiz, sowohl drei brandenburgische als auch drei sächsische und drei polnische historische Gartenanlagen unter seinem Dach zu vereinen. Auch hier ließ sich zeigen, wie eng diese Regionen seit jeher miteinander verwoben waren. 2013 wurde das Kooperationsprojekt sowohl von polnischer als auch von deutscher Seite offiziell gewürdigt und ausgezeichnet.
2019 wurde im Schlosspark von Brody feierlich der frisch renovierte Sarkophag enthüllt
In diesem Zusammenhang sei hervorgehoben, dass die Hermann Reemstma Stiftung die Instandsetzung und Wiedererrichtung des Sarkophags im Park von Brody finanziell unterstützte, jenes Baudenkmals, das mein Vorfahre Alois Ende des 18. Jahrhunderts initiiert hatte. Auch dieses Projekt konnte dank der Fachleute aus Polen und Deutschland grenzübergreifend realisiert werden.
Brody präsentiert sich heute als kulturell-historisch bemerkenswertes Projekt und reizvolles Ausflugsziel. Fassaden, Straßen und das letzte noch vorhandene Eingangstor wurden saniert, in der Nähe der Sehenswürdigkeiten Schautafeln mit informativen Hinweisen auf die Bedeutung der Gebäude und Anlagen angebracht. Geplant ist der Bau eines touristischen Informationszentrums.
Sämtliche Texte werden jeweils in deutscher und polnischer Sprache verfasst, jedes Treffen und Fest begleiten bilinguale Dolmetscher, die alles Gesagte anschließend in die jeweils andere Sprache übersetzen – auch das ein Zeichen dafür, wie aufmerksam und wertschätzend in dieser Region die geographische Nähe von Polen und Deutschen gewürdigt wird. Keine Begegnung soll an mangelhafter Verständigung scheitern.
Dank des einstigen Brühlschen Ensembles von Schloss und Park in Pförten sowie der gleichzeitigen Nähe zur Stadt Forst, des Zusammenspiels zwischen den beiden Ländern diesseits und jenseits der Grenze und einzelner überragender Initiatoren, die die Projekte anstießen, die Wege dazu bereiteten, ist es gelungen, identitätsstiftend für die Region zu wirken und zu beweisen, dass die Welt an der Neiße nicht zu Ende ist, sondern weitergeht, Ost und West eine Einheit bilden und die Lausitz eine zusammenhängende Region ist. Brody ist heute nicht mehr lediglich königlicher Zwischenhalt, sondern allgemein nutzbare Begegnungsstätte, die Furt durch die Neiße für alle Welt passierbar geworden.