Prolog

Shokran Al-Hamsi

E r hasste diesen Geruch. Das altehrwürdige Schloss mitten auf dem Marktplatz an den Bergen von Cagnes-sur-Mer, das er gekauft hatte, um den Franzosen ein Schnippchen zu schlagen. Früher hatte es hier nach altem Wein gerochen oder nach dem, was sein Koch für ihn gekocht und sein Butler ihm anschließend serviert hatte. Kaviar, Hummer, Gänsestopfleber.

Nun roch es hier nach Krankenhaus. Er ekelte sich davor, er ekelte sich vor diesem Geruch, er ekelte sich davor, diese Räume nur zu betreten.

Und er hätte schwören können, dass es dem Butler genauso ging. Borniertes Arschloch in seiner livrierten Uniform. Er hätte ihn am liebsten gefeuert, doch nach französischem Recht hatte der alte Sack Kündigungsschutz. Was für ein Land.

Er stand auf dem Balkon des Schlosses, unter ihm ging es steil hinab, die Steine des Baus waren direkt mit den Felsen verbunden, die dem Ort seinen Halt gaben. Vor ihm, tief unten, breitete sich ein Abhang aus, alte Olivenbäume wechselten sich mit Palmen ab, erst weiter hinten waren wieder Häuser zu sehen, die Häuser des neu gebauten Ortsteils von Cagnes-sur-Mer, dem Teil, der direkt am Strand lag, dahinter das endlose Blau des Mittelmeers.

Vorgestern war er aus Doha kommend in Nizza gelandet. Früher hatte er es kaum abwarten können, aus der Wüste wieder ins gelobte Land zu fliegen, wo ihn alles erwartete, was er unter seinesgleichen nicht haben konnte: Koks in Hülle und Fülle, guten alten Wein, für dessen Konsum sie ihn in Katar einsperren würden – natürlich nur offiziell, inoffiziell soffen sie alle –, und die schönen Ärsche der Nordafrikaner.

Seit dem Vorfall aber zögerte er seine Reisen nach Frankreich so lange hinaus, wie es eben ging. Lieber noch ein Geschäftsmeeting in Doha, lieber noch ein verlängertes Abendessen. Doch irgendwann hatte er es nicht mehr hinauszögern können – die Geschäfte warteten –, viel mehr noch: der entscheidende Schlag gegen alles, was ihn in diese Lage versetzt hatte.

Er löste sich von diesem Anblick des Abhangs und hörte seine eigenen lauten Schritte auf dem alten Steinboden. Er ging die Treppe hinauf in die zweite Etage. Sie hatten ihn dorthin gebracht, dann musste Shokran ihn nicht so oft sehen. Leise öffnete er die gewaltige Holztür, die in ihren Angeln knarrte. Das Licht in dem Raum war schummrig. Hier roch es wie auf einer Intensivstation. Die junge schwarze Krankenschwester senkte den Kopf, als sie ihn kommen hörte. Sie suchte ihre Utensilien zusammen und ging leise aus dem Raum, ohne ihn anzusehen. So hielt sie es stets.

Er trat näher heran und kniff die Augen zusammen. Der andere, der ihm so ähnlich sah, saß in dem Bett mit den weißen Streben, eines, wie es auf allen Intensivstationen der Welt gab, ein riesiges Gestell, das mehr den Maschinen diente als dem Häufchen Mensch, das darin lag. Links neben dem Mann standen die großen weißen Apparate, die ihn am Leben erhielten. Die Bildschirme spuckten sekündlich neue Daten aus. Daten, die das Leben in kalte Zahlen pressten. Atmung, Herzschlag, Sauerstoffsättigung. Die Zahlen zeigten an, dass er funktionierte – theoretisch jedenfalls. Praktisch war er ein Toter mit offenen Augen und röchelnder Lunge. Der weiße Schlauch führte in seinen Hals und steuerte seine Atmung, der Schlauch, der in seinen Bauchraum führte und ihn ernährte, war von der Bettdecke verborgen.

»Silas«, flüsterte Shokran. Er flüsterte sonst nie, es passte nicht zu ihm. Hier aber konnte er nicht anders. Er wagte es nicht, ihn zu berühren, nicht mal an der blassen Hand, die ein Stück unter der Bettdecke hervorschaute.

»Silas«, sagte er noch einmal leise und schüttelte wieder den Kopf. »Ich werde alles tun, damit du gehen kannst. Alles. Aber diese Angsthasen hier, sie wollen dich nicht gehen lassen.« Die offenen Augen seines Zwillingsbruders zeigten keine Regung, sie waren nur starr und weit wie bei einem Fisch. Die Kugel hatte das Licht aus ihm herausgepustet, doch sie hatte nicht genau genug getroffen, um ihm auch das Leben zu nehmen. Oder – und darüber dachte er häufiger nach als ihm guttat – hatte sie genau das gewollt: Einen lebendigen Toten aus seinem Bruder zu machen?

Nur einmal in seinem Leben war Shokran Al-Hamsi bisher auf einer Intensivstation gewesen.

Damals hatte er in ein anderes Gesicht gesehen, ein Gesicht, das er vielleicht mehr geliebt hatte als dieses hier. Damals waren die Augen des Mannes geschlossen gewesen – sie sollten sich nie wieder öffnen. Die Täterin war dieselbe.

Sie würde sterben. Für damals – und für heute.