Chiara Bolatelli

Berlin-Friedrichshain, Deutschland

D ie Schlange war ewig lang, sie reichte von der alten Bahnbrücke, auf der eben ein gedrungener roter Zug entlangrumpelte, an dem Cash- und Carry-Supermarkt vorbei bis zu dem riesigen Gebäude, das einem Bunker glich, einem finsteren Trutzbau mit zugemauerten und blinden Fenstern, dem man sich eigentlich gar nicht nähern mochte, hätte man nicht gewusst, was einen drinnen erwartet.

Doch Chiara war den ganzen Weg an der Schlange vorbeimarschiert. Dort vorne war der Eingang, sie ging aufrecht, zielstrebig, während die anderen mürrisch in der Kälte ausharrten. Kurz vor der Tür fing sie einen Blick auf, ein Gesicht, markant, stechend blaue Augen, volles Haar, doch sie musste sich auf ihre Füße konzentrieren, auf dem rutschigen Pflaster, und so verlor sie den Kontakt zu seinen Augen wieder, umdrehen wollte sie sich nicht mehr.

Nur schnell rein. Nicht warten. Nicht eine einzige Minute. Während die anderen Menschen zwei Stunden hier draußen standen. Es war bequem auf diese Weise. Vor allem aber, und das machte sie besonders stolz, hatte sie all das ganz allein bewerkstelligt. Hatte Freunde gefunden, die einflussreich oder wenigstens hip genug waren, dass sie sich nicht wie alle anderen in diese stundenlange Warteschlange einreihen musste, bis ihr die Füße abgefroren waren – Herrgott, das hier war Berlin und nicht die milde Côte.

Sie hatte es ohne ihren Vater geschafft, irgendwo anzukommen. Ohne seine Kontakte, ohne seinen Schutz, ohne sein Geld.

Keine Frage, sie liebte ihn – auch wenn sie ihn nicht mochte, weil er tat, was er tat. Aber sie hatte ihr ganzes Leben lang etwas ohne ihn schaffen wollen, ohne den Paten, ohne den Mann, der sie behütet, beschützt und verhätschelt hatte. Sicher, es war nicht mehr, als ohne Schlange zu stehen stehen in einen Klub zu kommen – aber hey, dies hier war immerhin der berühmteste Techno-Schuppen der Welt.

Der Türsteher mit Bart und Piercings, das Gesicht tätowiert wie ein Mann mit ernsthaften Problemen, erkannte sie schon aus der Ferne, sein von Berufs wegen finsteres Gesicht hellte sich auf, und er machte Platz, sie klatschten einander lässig ab, sie fühlte sich für einen Moment, als würde sie in Sex and the City mitspielen, dann schwang die Tür auf, und die ersten Bässe dröhnten heraus, sie trat ein, ging zur Garderobe, umarmte auch dort zwei oder drei gute Bekannte, und schon war sie drinnen, mitten im Dunkel, in der Bassmaschine, wo die Stroboskope um sie herum zuckten, als wollten sie sie verschlingen, sie gleichsam in sich aufnehmen.

Sie holte sich ein Club-Mate, der Barkeeper füllte den Wodka oben in die Flasche, alles ging aufs Haus, sie nahm das Getränk und ging auf die Tanzfläche, denn das allein war das Ziel: die Bewegung, das Vibrieren, das Sichauflösen in dieser Menge, die im Gleichklang Ekstase findet. Sie kann sich vorstellen, mit Zoë hier zu tanzen. Zoë liebt dieses Aus-seiner-Haut-fahren, dieses Sich-gehen-Lassen, niemand sieht dabei so wild und zugleich anmutig aus wie sie. Eine Stunde später ist Chiara schweißnass, ihr Trägertop klebt ihr auf der Haut, die Arme hat sie hochgereckt, den Kopf nach hinten geworfen, so tanzt sie mit geschlossenen Augen. Als sie sie wieder öffnet, steht da der Mann vor ihr, sein Lächeln mehr der Blick eines Raubtiers, doch sein Haar und seine Augen erkennt sie sofort wieder, der Blick vor der Tür, sie wusste es dort schon, unterbewusst nur, aber sie war schon vor der Tür bereit.

Sie zieht ihn heran, er greift hinter sie, legt seine Hände auf ihren Rücken, als wäre sie nackt, sie fühlt seine Kraft, sie riecht ihn, sie zieht seinen Kopf heran, die Musik wird lauter, schneller, der erste Kuss ist wie ein Knall, sie lassen einander nicht mehr los, er könnte sie zerdrücken, ohne Frage, doch sie könnte es auch, merkwürdig, sie hat noch gar nichts genommen. Sie hasst diesen Scheiß, das Kokain, sie nimmt es nur, wenn das Wochenende nicht enden soll.

Nach einer Stunde der Besinnungslosigkeit ändert sie den Plan, sie will ihn, diesen Mann, der noch nicht zwei Worte gesagt hat. Sie nimmt seine Hand, ihr Kopf macht eine Bewegung nach oben. Er nickt nicht, lässt sich einfach von ihr fortziehen. Sie holen ihre Jacke von der Garderobe, er hat nichts weiter dabei. Sie gehen in die Kälte hinaus, der Türsteher sieht ihnen nach, sie zieht ihn wieder heran und küsst ihn, zum ersten Mal in frischer Luft, zum ersten Mal unter dem Mond, sein Gesicht schimmert nun noch anziehender. Er muss frieren, denkt sie.

»Frierst du?«

Er schüttelt den Kopf. Sie gehen ein Stück, dann stoppt er und zeigt auf den Bus, der am Straßenrand parkt. Sie jauchzt auf, ein Bulli, ein alter Bus, wie die, die die Windsurfer auf Korsika haben, nur glänzt dieser hier, als sei er brandneu, dabei muss er vierzig Jahre alt sein, mindestens.

»Kannst du fahren?«

»Ich bin total nüchtern«, sagt er. »Ich wohne ganz in der Nähe.«

Ihr ist es egal, am liebsten würde sie ihn direkt in diesem Bus vögeln.

Sie steigt ein, er steht draußen, sie dankt ihm, weil sie glaubt, er wolle die Tür schließen. Das Gerät sieht sie erst eine Millisekunde, bevor es dunkel wird um sie, ein Taser, sie zuckt zusammen, die Blitze leuchten erst auf, als sie schon auf das Armaturenbrett sackt.

Carlos Zuffa setzt sie aufrecht und schnallt sie an, dann steigt er auf der Fahrerseite ein und fährt los, hinein in die Nacht. Das Adlergestell, eine der wichtigsten Ausfallstraßen Berlins, ist gänzlich leer, hier könnte noch eine Polizeikontrolle lauern, aber er erreicht die Stadtautobahn, nimmt den Ring um die Stadt und biegt dann auf die Autobahn gen Süden. Auf dem ersten menschenleeren Parkplatz steigt er aus und trägt sie in den Kofferraum, dort verschnürt er sie und verklebt ihr den Mund. Er will seine Ruhe haben, es wird eine lange Fahrt.

Er setzt sich wieder hinter das Lenkrad, trinkt noch einen Red Bull und schaltet die CD ein. The xx dringt aus den Lautsprechern, das Gitarrenriff und die Drum Machine werden verhindern, dass er einschläft.