Via del Mercato, Ventimiglia, Italien
S ie hatte wahnsinnig lange geschlafen. Endlich ging das wieder. Nach der Beerdigung ihres Vaters war sie sofort in ein Flugzeug gestiegen und nach Vietnam gereist. Doch in dem buddhistischen Kloster im Schatten des Fansipan-Berges hatte sie nicht die Ruhe gefunden, die sie gesucht hatte. Das war, ehrlich gesagt, eine ziemliche Untertreibung. Sie hatte sechs Tage am Stück nicht geschlafen, weil sie nicht aufhören konnte zu hassen. Schließlich, als sie dachte, sie würde verrückt, fuhr sie nach Hanoi und stieg ins Flugzeug nach Hause. Sie konnte nicht gut weglaufen. Das war ihr noch nie gelungen.
Auch in Vietnam war sie eine Woche wie eine lebende Leiche durch die Straßen gelaufen, die Augen hinter ihrer Sonnenbrille verborgen. Die Sonne war keine Wohltat wie sonst, sondern sie brannte, verhöhnte sie mit der Lebensfreude, die sie in diesen Frühlingstagen verbreitete.
Doch dann hatte sie sich dem Schmerz gestellt, war hinaufgefahren nach Èze und hatte sein Grab besucht. Der Name auf dem Stein – in diesem Moment erst hatte sie es verstanden. Den Verlust begriffen. Seinen Namen gegen den Wind gerufen, hier oben auf dem Berg, unter ihr das Panorama des glitzernden Mittelmeeres. Und endlich hatte sie geweint.
In dieser Nacht hatte sie zum ersten Mal wieder geschlafen. Ihr Leben hatte einen Rhythmus aufgenommen, einen langsamen Rhythmus, viel langsamer als vorher. Sie hatte keine Aufträge angenommen, hatte ihr Handy ausgeschaltet, hatte keine Nachrichten mehr empfangen.
Sie wollte einfach nur sein: Hier, in dieser kleinen Stadt im Schatten der Seealpen, den Kieselstrand zu ihren Füßen, die alten italienischen Bauten, deren Fenster zum Meer hinaus gingen, die kleinen Restaurants mit ihrer günstigen Pasta und ihre kleine Bar, die den besten Espresso der Welt servierte. Nach Wochen hatte sie zum ersten Mal wieder gelächelt.
Sie war allein. Und genoss es. Ab und zu ging sie zu Gianluca in seine Wohnung, schlief mit ihm, dann ging sie wieder. Er drängte sie nicht, als spürte er, dass sie dann für immer gehen würde.
Sie betrat die Markthalle, dieses alte Ungetüm aus schweren Stahlbalken, die als Dachstreben dienten, der Putz bröckelte von den Wänden. Doch was die Händler auf ihren Tischen aufgebaut hatten, ließ ihr Herz jedes Mal höherschlagen. Sie kochte jeden Tag, kaufte sich die besten Produkte, Fisch, Fleisch, Meeresfrüchte, frisches Gemüse – und stand dann stundenlang am Herd, trank eine Flasche Rotwein allein – und dachte dabei an ihren Vater, der nichts so geliebt hatte wie gutes Essen.
Sie begrüßte den Fischhändler und betrachtete die Goldbrassen und Wolfsbarsche, doch heute wollte sie ein vegetarisches Risotto kochen, so hatte sie entschieden.
»Domani«, sagte sie ihm. Morgen. Der alte Mann mit der weißen Schürze lachte und griff nach einem pulpo, um ihn der nächsten Kundschaft anzupreisen.
Sie zog weiter, vorbei an der macelleria, hinter deren Glasscheibe verführerische Steaks lagen und herrliche Koteletts. Aber dann: sechs, sieben Stände mit Obst und Gemüse, deren Auslagen um die Wette strahlten: dunkelrote Tomaten, sattgelbe Paprika, lila Artischocken und hellgrüne Wassermelonen – es war ein Fest. Sie beugte sich hinab, um an einem Korb mit Austernseitlingen zu riechen, die würde sie nehmen für ihr Risotto.
»Hundert Gramm davon, bitte«, sagte sie zu der jungen Frau mit den langen dunklen Haaren. Die wog die Pilze ab und verstaute sie in einer Papiertüte, Zoë zahlte, nahm die Tüte und ging weiter. Nur noch den parmigiano, dachte sie und strebte dem Käsehändler entgegen, der seine Waren am Ausgang der Halle feilbot, als sie erst das Geräusch hörte und dann das Raunen, das durch die Reihen der Händler lief. Sie alle sahen nach oben, doch da war nichts weiter als das geschlossene Dach. Wo kam der Lärm denn her? Ein Knattern, ohrenbetäubend, sie erkannte es sofort. Rotorblätter, ein Helikopter, er musste sehr nah sein und sehr tief fliegen. Ein Helikopter, mitten im Zentrum von Ventimiglia? Sie straffte sich, ihre Hand fuhr in den Hosenbund, wo der kleine Revolver steckte, den sie beim Einkaufen stets mit sich führte, die Beretta war für diese Gelegenheiten einfach zu schwer und auffällig. Sie wandte sich schnell um, suchte die Ausgänge ab. Hatten sie sie gefunden? Wer sollte es sonst sein, wenn nicht die Polizei?
Gianluca hatte nichts gesagt – aber würden sie einem einfachen Carabinieri sagen, dass sie die meistgesuchte Verbrecherin des Nachbarlandes enttarnt hatten? Sicher nicht.
Sie nahm den Ausgang, am Käsehändler vorbei, bog in die Via Roma und erschrak: Der Helikopter setzte in diesem Moment auf, mitten auf dem Parkplatz vor der Polizia di Stato, neben dem Rathaus, keine fünfzig Meter von ihr entfernt. Die Rotoren ließen Sand auffliegen, altes Papier sauste durch die Luft. Unwillkürlich senkte Zoë den Kopf, weil der Staub in ihre Augen wehte. Sie verbarg sich hinter der Häuserecke, neben ihr standen die Italiener und starrten das Flugobjekt an. Sie sah genauer hin, die Hand immer noch an der Waffe. Es war kein Polizeihubschrauber, kein beschrifteter jedenfalls, vielleicht ein ziviler. Geheimdienst? Spezialeinheit? Wer würde sonst auf dem Parkplatz der Polizei landen?
Die Tür wurde aufgeschoben, und ein Mann stieg aus, in schwarzem Anzug, die Augen hinter einer Fliegerbrille verborgen. Sie stockte und konnte den Blick nicht von ihm lösen.
Wie konnte das sein? Sie sah sich um, da, dort hinten, da stand ein anderer Mann, Lederjacke, weißes T-Shirt, den Blick fest auf sie gerichtet. Sie war zu leichtsinnig geworden. Verdammt. Wenn sie sie gefunden hatten, hätten auch die Bullen sie finden können.
Der Mann im Anzug ging auf sie zu, sie hatten jeden ihrer Schritte verfolgt. Er blieb vor ihr stehen, sie konnte seine Augen nicht sehen, er sah aus, als würde er lächeln, sein Anzug hatte keine einzige Falte, er schwitzte nicht, wahrscheinlich empfand er gar nichts.
»Mademoiselle, würden Sie mich bitte begleiten? Er will Sie sehen.«
»Ich will aber ihn nicht sehen«, antwortete sie.
Normalerweise hätte er sie gepackt und mitgeschleift – oder sie direkt hier erschossen. Doch der Mann nahm seine Brille ab, die dunkelbraunen Augen blickten sie bittend an, und nun merkte sie, wie müde er aussah, gräuliche Augenringe auf dunklem, von der korsischen Sonne verbranntem Teint.
»Es geht nicht um einen Auftrag«, sagte der Mann. »Es ist wirklich dringend. Es geht um seine Familie. Bitte, kommen Sie.«
Sie überlegte nicht lange, nickte nur. Er ging los, sie folgte ihm, der Helikopter hatte die Rotoren nicht ausgeschaltet. Sie bückten sich, je näher sie kamen, um dem Sog zu entgehen. Zoë wusste, dass die halbe Stadt ihnen nachsah, sie würde sich hier nicht mehr blicken lassen können. Er stieg ein, sie kletterte ihm nach und nahm neben ihm an der Tür Platz. Die Schiebetür wurde von außen von dem Mann in der Lederjacke zugedrückt, er würde hierbleiben, dachte sie. Nur ein paar Sekunden, dann wurde das Geräusch noch lauter, und der Helikopter hob ab. Der Parkplatz, die Markthalle, der Fluss, die alte Kirche auf dem Berg, Gianlucas Wohnung, mehr und mehr sah sie von Ventimiglia von oben, ein herrlicher Ausblick, den sie so noch nie gehabt hatte, dann beschrieb der Hubschrauber eine Kurve und flog übers Meer gen Süden. Südwesten. Sie hatte keinen Zweifel, wohin er fliegen würde.
»Was haben Sie in der Tüte?«, fragte der Mann im Anzug, die Sonnenbrille hatte er wieder aufgesetzt.
»Austernpilze«, sagte sie und betrachtete die Papiertüte, als könne sie es selbst nicht glauben. Sie hatte sie ganz vergessen.
»Lecker«, sagte der Mann.
Sie flogen nicht zu hoch, sie konnte die Wellen unter sich erkennen, ein weißes Segelboot, das Richtung San Remo kreuzte. Sie hielten sich am Küstenstreifen, sie konnte den Grenzübergang nach Menton erkennen, nun waren sie in Frankreich.
Sie dachte, dass sich der Fischhändler morgen wundern würde, weil sie nicht auftauchte.