Hôtel de Police, 2
Rue Antoine Becker,
Marseille, Frankreich
I ch wünsche dir einen schönen Tag, chéri «, sagte Isabel und gab ihm einen langen Kuss.
Die kleine Sophie saß auf der Rückbank und verzog das Gesicht. »Hört auf damit«, quengelte sie, aber gleich darauf grinste sie. Er stieg aus und öffnete ihre Tür, um sich auch von ihr zu verabschieden.
»Ich würde Bouillabaisse zum Diner machen, einverstanden?«
»Du würdest mich zum glücklichsten Mann der Welt machen«, sagte er durch das offene Beifahrerfenster.
»Das bist du doch eh schon, du hast uns zurück«, rief sie lachend, ehe sie den Motor aufheulen ließ und davonbrauste.
Es stimmte, er war der glücklichste Mann der Welt.
Vor drei Monaten noch hatte er in seiner Einzelzelle im Gefängnis von Toulon gesessen. Verhaftet wegen schwerer Körperverletzung oder versuchten Mordes, der genaue Tatvorwurf war vom procureur noch nicht näher definiert worden. Nach acht schlaflosen Nächten hatte er eines Morgens seinen Wärter gebeten, ihn in die Kapelle zu bringen.
Kapelle, Moschee, Tempel, der Raum war alles in einem. Ein karges Kämmerlein mit einem Kreuz an der Wand, die für die Christen gedacht war.
Er hatte niedergekniet und gebetet. Er erinnerte sich ganz genau an seine Worte, wie eingebrannt hingen sie in seinem Hirn.
»Ich bin ganz unten, Herr, ganz unten. Es gibt keinen Ausweg mehr. Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung. Ich bitte dich. Sende mir nur ein Zeichen, dass ich nicht aufhören darf. Bitte. Nur ein Zeichen.«
Am nächsten Tag hatte sein Anwalt an die Zellentür geklopft, das Hab und Gut von Navarro hatte er schon aus dem Safe geholt und in einer Tasche dabei.
»Wir gehen«, hatte er gesagt. »Der Staatsanwalt hat die Klage fallen gelassen. Shokran Al-Hamsi hat Ihre Aussage bestätigt, wonach ein anderer Mann auf seinen Bruder geschossen hat.«
Navarro war sprachlos gewesen. Er hatte sich aufgerichtet, in einem Moment ein kleines Häufchen Elend, im nächsten ein freier Mann.
Der Anwalt hatte ihn in dem kleinen Fischerort Les Goudes vor den Toren Marseilles herausgelassen, gerade, als die Sonne über der Île Maïre unterging. Navarro hatte sich die Tränen weggewischt, die er vor Rührung vergossen hatte. Dann hatte er leise angefangen, vor sich hin zu pfeifen.
Am nächsten Tag hatte er sich in den Zug gesetzt und war nach Paris gefahren. 3 Rue de Sèvres. Er hatte vor ihrer Wohnung gewartet, bis Isabel am Abend von der Arbeit gekommen war. Er hatte gedacht, sie würde ihn davonjagen, aber sie war ganz sanft gewesen, hatte ihn hereingebeten. Sie bräuchte Zeit, hatte sie gesagt. Aber ja, sie denke an ihn. Viel sogar.
Er hatte kurz mit Sophie spielen dürfen. Dann bat Isabel ihn, zurückzufahren, zurück nach Marseille. Er dürfe sie nicht drängen, sie würde sich melden.
Im Auto dachte er, er würde wieder nächtelang nicht schlafen können, das Damoklesschwert der endgültigen Trennung über ihm. Doch er schlief – voll von innerem Frieden und Zuversicht. Und er war gar nicht wirklich verwundert, als es drei Tage später vor seiner Cabane hupte. Isabel war schon ausgestiegen, die kleine Sophie rannte auf ihn zu. Neben dem Auto standen vier große Koffer. Sie waren zurück.
Seit diesem Tag, vor zwei Monaten, lebten sie wieder zusammen, in der kleinen Hütte am Hafen, die Navarro erst nach der Trennung für einen Schnäppchenpreis gekauft hatte – in dem Glauben, er würde hier alleine leben. Bis zu seinem unseligen Ende.
Stattdessen erlebte er nun das, was er einmal als Traum seines Lebens bezeichnet hatte: An diesem wunderschönen Ort am Ende der Welt, in der letzten Bucht am Rande von Marseille, ehe die felsigen Höhen der Calanques begannen. Die bunten Holzhütten mit ihren großen Fenstern, die kleinen Fischerboote, die, von großen Tauen gehalten, in der feinen Dünung auf und ab schaukelten. Sie hatte ihre alte Arbeit wiederaufgenommen, in einer kleinen Boutique oberhalb des Prado-Strandes. Sophie ging wieder in die École Maternelle in der Altstadt. Abends aßen sie zusammen an dem alten Holztisch vor der Cabane, bevor Isabel Sophie zu Bett brachte und Navarro mit seinen Freunden eine Partie Pétanque spielte. Danach saßen sie lange Arm in Arm zusammen, tranken Rosé und beobachteten die Lichter draußen auf dem Meer. So war es gestern wieder gewesen. Bis kurz vor zwei Uhr am Morgen hatten sie dortgesessen, Isabel war in eine dicke Decke gekuschelt gewesen.
»Weißt du, dass ich wirklich glücklich bin?«, hatte sie gesagt, »ich habe wirklich nicht mehr daran geglaubt. Daran, dass sich etwas derart ändern kann. Jemand. Ich meine dich. Es liegt daran, dass du ganz anders bist als früher. Als seist du aus einem tiefen Schlaf erwacht. Als würdest du jetzt spüren, dass es nur dieses eine Leben gibt, und dass es genau dieses zu genießen gilt. Verstehst du?«
Er hatte sie geküsst, doch sie wollte sich damit nicht zufriedengeben.
»Kannst du mir erklären, was passiert ist?«, hatte sie gefragt.
»Ich will dich nicht anlügen, Isabel«, hatte er gesagt, »aber ich kann dir nicht die ganze Wahrheit sagen. Es sind furchtbare Dinge passiert, es könnte sein, dass ich das Schlimmste getan habe, was ein Mensch einem anderen antun kann. Auch, wenn es kein guter Mensch war. Keine guten Menschen. Dennoch.« Er hatte den letzten Schluck aus seinem Glas genommen, ehe er fortfuhr: »Ich war ganz unten – und hatte doch in jedem Moment nur einen Wunsch: die Kleine und dich wiederzuhaben. Ich habe euch so schlecht behandelt, weil ich das alles als selbstverständlich hingenommen habe. Doch dann, in der dunkelsten Stunde, habe ich verstanden, dass ihr das Einzige seid, für das es sich zu kämpfen lohnt.«
Sie hatte ihn in den Arm genommen und festgehalten, später hatten sie auf dem Klappbett im Wohnzimmer miteinander geschlafen, leise, damit Sophie nicht aufwachte, dabei aber so innig und leidenschaftlich, dass ihm war, als schlafe er zum ersten Mal mit ihr. Und nun hatte sie ihm sein Lieblingsgericht für den Abend in Aussicht gestellt, bevor sie Sophie zur Schule fuhr. Sein Leben war perfekt.
Als er das Hôtel de Police betrat, salutierte der Polizist so ungelenk, dass die Maschinenpistole, die um seine Hüfte baumelte, gefährlich zu schwanken begann.
Er betrat das Treppenhaus und stieg rasch empor, es war wie immer, der Staub, der Schmutz, der Putz, der von den Wänden bröckelte, in diesem scheußlichen Gebäude aus den Sechzigern, doch er sah all das gar nicht, er lächelte und genoss dieses neue Gefühl, ein Mann in seinen besten Jahren, ein liebender Gatte, ein erfolgreicher Polizist. Das Berufsverbot war sofort nach seiner Entlassung wieder aufgehoben worden, sodass er erneut als Leiter der Brigade Criminelle arbeiten durfte.
Er ging in sein Büro und nahm an seinem Schreibtisch Platz. Keine Aktenberge lagen mehr herum, alles war ordentlich aufgeräumt, das Fenster, früher mit einer dicken Jalousie verbarrikadiert, öffnete er, der Wind vom Meer wehte herein, draußen lag der Hafen im Sonnenschein. Er wusste, dass die Kollegen ihn beäugten, ihn nicht wiedererkannten, aber ihm war es recht, sicher waren sie neidisch auf sein spätes Glück.
Er stand noch einmal auf und ging zum Faxgerät, es fanden sich drei Blätter darin. Zwei Fahndungsaufrufe, ein junger Algerier, der einen schweren Einbruch begangen haben sollte, eine alte Dame, die aus ihrem Seniorenheim verschwunden war. Das dritte Fax aber ließ ihn stutzen. Es kam aus Paris. Innenministerium. Eine Voranfrage. Er las die knappen Zeilen und las sie noch einmal, er tat es gleich im Stehen, weil es so ungewöhnlich war, dass er lachen musste.
Vertraulich: Voranfrage für Begleitung eines Spezialtransports
Sehr geehrter Commissaire Navarro,
im Zuge des Verkaufs eines Teils unserer Goldreserven kündigen wir hiermit an, dass Sie sich für Ende kommender Woche auf eine Generalmobilmachung der Polizei von Marseille einstellen müssen.
Details erhalten Sie in einer vertraulichen Akte.
Der private Käufer möchte Teile des Erwerbs direkt erhalten, er hat Marseille als Übergabepunkt ausgewählt.
Bitte ordnen Sie eine Urlaubssperre für alle Kollegen an – ab sofort.
Bitte kommunizieren Sie diese Nachricht an niemanden – Sie werden verstehen, dass wir bei der Gefahrenlage eine absolute Vertraulichkeit einhalten.
Mit herzlichen Grüßen,
Alphonse Meyer, Staatssekretär
Innenministerium, Place de Beauvau, 75008 Paris
Ein Goldtransport, der durch Marseille führte. Navarro konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Wer waren diese Leute – und warum ließ man ausgerechnet sie die Republik führen? Aber das hier war kein Witz. Sie meinten es wirklich ernst. Nun musste er sich doch kurz hinsetzen. Er trank nicht mehr. Seit Wochen. Aber heute hätte ihm ein kleiner Pastis doch gutgetan.