Zoë

Borgo, Korsika, Frankreich

L and in Sicht. Endlich. Gleich würde sie Antworten bekommen.

Niemand hatte gesprochen an Bord des Helikopters, nicht der Pilot, nicht der Mann im Anzug, der neben ihr saß. Sie hatte aber auch keine Fragen gestellt.

Sie wusste, wo es hinging, seit der Pilot direkt den Weg übers Mittelmeer genommen hatte, unter ihnen nur noch wenige Fischerboote, dann nur noch Blau, tief und weit, bis zum Horizont.

Direction Sud, immer gen Süden, die Insel war etwa eine Stunde entfernt gewesen. Als wieder mehr Segelboote auftauchten, die ersten großen Jachten, da wusste sie, sie waren fast am Ziel.

L’Île de la Beauté, die Insel der Schönheit.

Die schroffen Felsen unter ihnen kamen schnell näher, die Wellen, die unten an diese Felsen krachten, die kleine grüne Fläche, auf der der Pilot den Helikopter nach wenigen Sekunden aufsetzte, ohne dass es wirklich zu spüren war, dabei wehte der korsische Wind ziemlich heftig über die Ostküste der Insel.

Kurz nach dem Aufsetzen öffnete der Mann im Anzug die Schiebetür, sie sprang den halben Meter auf die Wiese, dann führte er sie zu der schwarzen Limousine, die am Rande des Landefeldes stand, der Motor lief. Sie stiegen ein, und sofort setzte sich der schwere Mercedes in Bewegung. Sie war erst ein Mal hier gewesen, dennoch erinnerte sie sich, dass es nicht lange dauern würde. Sie spürte, wie der kleine Revolver an ihren Rücken gedrückt wurde – niemand hatte sie vor dem Start durchsucht. Die Männer wussten, dass sie bewaffnet war.

Sie könnte ihn direkt hier aus dem Fenster werfen, in der Villa würde er ihr nichts nützen.

Der Pate war alt, aber er war schnell. Und hatte zudem zehn Männer um ihn herum, die ihn bewachen würden. Es hieß, er habe seine Leibgarde verdreifacht, nach dem Vorfall in Bormes-les-Mimosas.

Sie konnte den Namen des Ortes nicht mal leise murmeln, ohne an Fred zu denken.

Papa.

Niemals würde sie den Tag vergessen. Den Tag, an dem sie aus San Sebastián in die Provence gerast war, mit den schlimmsten Befürchtungen. Dennoch hätte sie sich nicht im Traum ausmalen können, dass Zara das wirklich alles in die Wege geleitet hatte. Das Treffen zwischen Bolatelli und den Al-Hamsis. Der Showdown. Eine vorprogrammierte Katastrophe.

Zara war zu klug, um nicht zu ahnen, was geschehen würde. Sie hatte es geahnt. Hatte sie es sogar gewollt?

Zoë sah sich wieder auf dem Boden knien, den Kopf ihres Vaters in Händen. Überall das Blut so viel Blut, sein Blut. Sein letzter Blick im Diesseits, dann waren seine Augen verschwunden, seine liebenden Augen, für immer.

Sie hatte ihn besucht, dort, wo er jetzt lag, tief unter der Erde, im ewigen Fels von Èze. Sie hatte Maman gesehen, aus dem Augenwinkel, wusste, dass sie sich verborgen hielt, um Zoë trauern zu sehen, sie weinte, sie weinte um sein Leben. So gerne hätte sie mit Maman gesprochen, aber sie war noch nicht bereit gewesen, deshalb hatte sie getan, als bemerke sie sie nicht. Zu viel Trauer, zu viel Liebe.

Und Hass. Zara.

Die Straße ging gewunden den Berg hinauf, es waren Serpentinen, rechts ein niedriges Mäuerchen, dann der Abhang hinunter zum Mittelmeer. Ein paar Pinien, sie wähnte sich wieder in Italien, aber Korsika war ohnehin mehr italienisch als französisch. Die Zikaden waren durch die gepanzerten Scheiben zu hören. Die Macchia blühte, früher als der Rest der Flora auf der Insel.

Dann die Hochebene, ein Plateau, das viele Hektar groß war. Niemand wohnte hier, außer ihm. Sie hatte vergessen, wie friedlich es hier war.

Sein Leben war Krieg gewesen, seine Heimat purer Frieden.

Das mannshohe Tor schwang auf, ein brauner Fleck in einer grauen Mauer, die Kameras überall, dann fuhren sie hinein. Die Villa kam näher, ein moderner Kasten, eckig wie ein Kubus, auf dieser Seite gab es keine Fenster, auch das aus Sicherheitsgründen. Als sie hielten, ging sogleich das Portal auf, die alte Haushälterin trat heraus, in weißer Schürze wie aus einem Südstaatenepos.

Zoë stieg aus, die Männer blieben am Auto stehen und nickten. Also ging sie allein voran, die alte Frau nahm ihre Hand, sie hatte zu viele Verbrecher gesehen, um in Ehrfurcht zu erstarren.

Sie führte die Fürstin der Unterwelt hinein in das Haus, die Lobby, von dort aus wäre es weiter in den großen Wohnraum mit seiner kompletten Fensterfront zum Meer gegangen. Doch die alte Frau nahm behände die Stufen der Treppe hinauf, dorthin, wo Zoë nie zuvor gewesen war. In den privaten Wohnräumen. Kühl war es hier oben. Und dunkel. Die Rollläden mussten heruntergelassen sein.

Sie betrat einen Raum, Zoë hörte seine Stimme, ein Flüstern, dann ließ die Haushälterin sie eintreten.

Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, deshalb blieb sie in der Tür stehen. Seine Stimme war ein Flüstern.

»Endlich, Zoë, endlich. Los, setz dich hin, bitte.«

Sie kannte ihn so nicht, hatte ihn nie so gehört. Sie hörte ihn bitten, sie spürte Angst, vielleicht sogar Panik. Seine Stimme klang danach, deutlich, dabei hatte sie ihn noch gar nicht gesehen. Doch dann schaltete er ein kleines Licht an, neben sich auf einem Tischchen, und da sah sie ihn. Ihr Schreck hätte nicht größer sein können.

Er saß da, in einem weißen Morgenmantel, die alten Hände lagen auf der Lehne, doch sie bewegten sich unruhig und fahrig hin und her. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, als habe er seit Wochen nicht geschlafen. Er war blass und hatte rote Flecken auf den Wangen. Sah aus, als sei er sehr, sehr krank. Er wies auf den Stuhl ihm gegenüber. Seine ganze Erscheinung hatte nichts von dem bedeutendsten Mafiaboss der fünften Republik, er sah aus wie ein bemitleidenswerter alter Mann. Sie hatte Mitleid, ohne Frage. Sie sollte kein Mitleid mit ihm haben, schalt sie sich im selben Moment.

Sie setzte sich hin, doch wie immer, wenn sie ihm gegenübersaß, konnte sie keine Ruhe finden, sie streckte ihre Zehen in den Sneakers lang aus, zog sie wieder an, streckte sie wieder aus, das konnte er nicht sehen, und die Anspannung musste irgendwohin.

»Es ist vorbei. Ich gebe auf. Ich wusste nicht, dass sie so weit gehen würden. Doch nun, wo ich erkenne, wie ich mich getäuscht habe, in der Welt, in der wir leben, weiß ich, dass es vorbei ist.«

Sie spürte Angst in sich aufsteigen. Es durfte nicht sein. Es konnte nicht sein.

»Was ist passiert, Monsieur Bolatelli?«

Er beugte sich zum Boden hinunter und hob ein iPad an, das sie bisher nicht bemerkt hatte. Er wischte einmal darüber, sodass der Bildschirm hell wurde, dann gab er es ihr. Das Video war geöffnet, sie klickte auf Play.

Ihr Gesicht. Diese Angst in ihrem Blick. Ihr Herz schnürte sich zusammen, sie glaubte, ihr bliebe die Luft weg. Chiara. Ihre kleine Schwester . Sie sah verändert aus, die Schminke war verlaufen, dunkle Schlieren unter ihren Augen. Sie saß auf dem Boden, es sah nicht aus wie ein Haus, viel kleiner, enger, die Kamera war nur auf sie gerichtet. Ihre Stimme, dünn und hell, wie ein Vogel in einem Käfig.

»Papa, hallo. Ich bin in der Gewalt des Al-Hamsi-Clans. Sie haben mich in Berlin entführt, in einem Klub. Nun bin ich ihnen gänzlich ausgeliefert. Es geht mir nicht gut, mein Entführer behandelt mich nicht gut, gar nicht gut.«

Eine Pause. Sie weinte, zog die Beine an, hielt die Hände um die Unterschenkel geschlossen. Der Entführer ließ die Kamera weiterlaufen. Sadist. Zoë konnte den Blick nicht abwenden, auch, weil sie nicht in Bolatellis Augen sehen wollte. In ihr krampfte sich alles zusammen. Sie kannte diese Haltung, dieses Kauern, diese Todesangst, sie wusste, wie sich das Mädchen fühlen musste. Chiara. Ihre Chiara.

»Du wirst mich nur wiedersehen, wenn du tust, was sie wollen. Shokran Al-Hamsi wird dich anrufen. Heute um zwölf Uhr, auf deiner sicheren Leitung. Du musst ihnen außerdem deine kompletten Geschäfte übertragen. Und es gibt eine weitere Bedingung: Du musst ihnen die Fürstin der Unterwelt ausliefern. Ansonsten werden sie mich ermorden. Ich soll sagen, dass sie mich bestialisch ermorden werden. Ich habe Angst, Papa.«

»Sie hat mich noch nie Papa genannt. Sie nannte mich immer bei meinem Vornamen. Benito.« Mehr sagte er nicht.