Bolatelli

Borgo, Korsika, Frankreich

E r wusste, dass er scheußlich aussah. Dass er roch, wie er nie hatte riechen wollen: wie ein alter Mann. Er hatte vorhin das Licht gelöscht, weil er sich selbst nicht in diesem schrecklichen Morgenmantel sehen wollte. Er gab das Bild eines gebrochenen Mannes ab, eines Mannes, dessen Leben vorbei, dessen Kraft aufgebraucht war.

Dabei fühlte er sich innerlich ganz anders: Er kochte. Er spürte eine Kraft, die er seit einem Jahrzehnt nicht mehr gespürt hatte. Eine Wut. Aber es war keine produktive Kraft. Keine neuen Ideen lagen in ihr, kein Aufbruch. Es war eine zerstörerische Kraft, ein Abgrund, so vorprogrammiert, dass er alles und jeden hineingestoßen hätte, in jeder anderen Situation in seinem Leben. Aber nicht in dieser. Nicht dieses Mal. Denn an diesem Abgrund stand Chiara. Ihr galt all seine Liebe.

Bolatelli hatte immer geglaubt, dass er sich nur um sich selbst drehte. Doch jetzt verstand er, dass dem nicht so war. Und genau das tat fürchterlich weh.

Gott sei Dank saß ihm gegenüber jemand, der Chiara so sehr liebte, wie er es tat. Er fühlte es. Ganz bestimmt.

»Hat der verdammte Al-Hamsi angerufen?« Zoë sah ihn an, mit diesem kühlen und interessierten Ausdruck in den Augen, den er nun schon lange kannte.

»Das hat er.«

»Was will er?«

Bolatelli wollte gerade anheben, um zu antworten, da sagte sie leise: »Ich wollte eigentlich einen Plan ausarbeiten, um ihn und seinen Bruder in einem Zuge zu töten, aber nun, da er mir zuvorkommt, muss ich es vielleicht schneller und nicht ganz so planvoll tun.«

Er murmelte etwas, leise, sie fragte: »Wie bitte, Monsieur?«

»Nichts«, sagte er.

Aber in seinem Kopf wiederholte er die Worte: Wenn nur einer von uns hier lebend rauskommt … Dann sagte er deutlicher: »Er war sehr freundlich am Telefon, so selbstsicher, als habe er schon gewonnen. Aber ich muss zugeben: Er hat gewonnen, ich werde alles tun, was er will. Er hat meine Tochter. Ich lasse meinen Anwalt gerade schon einen Vertrag aufsetzen, der den Al-Hamsis meine Gesellschaften überträgt. Alle. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Wir haben den Deal gemacht, dass er mir mein Haus lässt und ein Zubrot, damit ich für meine Sicherheit sorgen kann, bis ich nicht mehr bin.«

»Wie gnädig«, sagte sie, doch er schien es zu überhören.

»Er hat aber etwas anderes vor. Etwas Großes. Das sich mit seiner Forderung verbindet, dich an ihn auszuliefern.«

»Was ist es? Sagen Sie es mir.«

Bolatelli räusperte sich.

»Er will das Gold.«

»Welches Gold?«

Er holte tief Luft, vor Überraschung – und weil er spürte, wie knapp er bei Atem war.

»Herrgott, ich vergaß, Zoë, du lebst in Italien und hältst dich von allen Nachrichten fern.«

Er lehnte sich zurück, so langsam gewann er seine Fassung zurück, es gab etwas zu tun, in all dieser Aussichtslosigkeit und dem Zum-Warten-verdammt-Sein, er konnte einen Plan schmieden, seinen Plan, nun musste diese junge Frau, die er schon so lange kannte, nur zustimmen – und falls nicht …

»Es wird den Verkauf eines Teils der französischen Goldreserve geben«, begann er seine Geschichte – nein, es war vielmehr die Geschichte und der Plan dieses Bastards Al-Hamsi –, und Bolatelli musste zugeben, dass er die Genialität des Clanbosses unterschätzt hatte.

Im Folgenden legte er Zoë den Plan vor, von dem er selbst erst vor zwei Stunden erfahren hatte. Und er sah, wie ein Beben durch ihren Körper lief, wie sie immer aufrechter saß in ihrem unbequemen Designerstuhl (der so viel gekostet hatte wie Bolatellis Haushälterin in zwei Monaten verdiente), wie die junge Frau immer mehr Rot auf ihren Wangen bekam, was merkwürdig aussah, weil ihr Teint ohnehin so dunkel war. Am Ende saß sie eine halbe Minute lang nur da, ohne ein Wort.

Schließlich fuhr sie auf: »Das ist Wahnsinn. Das alles.«

»Ja, es klingt so. Und weil es Wahnsinn ist, will er dich.«

Sie schüttelte den Kopf, mehrmals, immer noch voller Staunen über dieses Vorhaben, das nicht mehr war als Harakiri.

»Es ist Wahnsinn, dass es den Transport überhaupt gibt. Sie wissen doch, wie die Gangs einfache Geldtransporter angreifen, drüben in Marseille. Erst letzte Woche wurde wieder einer mit TNT aufgesprengt, die kennen keine Gnade. Und ausgerechnet dorthin wollen sie das Gold bringen?«

»Genau. Und du wirst die sein, die den Transport stoppt.«

»Monsieur Bolatelli, bei allem Respekt: Ich glaube, dass es einen anderen Weg gibt. Wir müssen Chiara befreien, so schnell wie möglich. Das sollte unser einziges Ziel sein. Ich werde herausfinden, wo sie steckt, dann bringe ich sie zurück und mache kurzen Prozess mit Al-Hamsi.«

Bolatelli schüttelte traurig den Kopf.

»Er ist zu klug – und er ist bereits zu mächtig. Du wirst sie nicht finden, fürchte ich, und wenn du es nicht schaffst, schafft es niemand.«

Er beugte sich vor zu ihr und flüsterte drängend: »Verstehst du nicht? Ich kann nichts riskieren, ich darf sie nicht verlieren, niemals. Verstehst du das?«

Er lehnte sich wieder zurück und atmete tief durch.

»Nein. Wir müssen das Spiel mitspielen. Sein Spiel.«

»Wenn Sie das wollen«, sagte sie nickend, »dann werde ich das tun.«

»Das hatte ich gehofft«, antwortete er. »Du weißt ganz genau, was Al-Hamsi will. Er will das Gold und er will gleichzeitig dich loswerden. Mit seinem Plan gibt es eine sehr gute Chance, dass beides gelingt.«

Er machte eine kurze Pause und lauschte dem Röcheln seiner Lunge nach. Er hasste das Altern. »Aber es deckt sich nicht mit dem, was ich will.«

»Sie wollen Chiara zurück.«

»Und?«

»Sie wollen ihn erledigen.«

»Und?«

»Sie wollen das Gold.«

»Du bist die Klügste, Zoë. Ganz genau. Und es gibt nur eine Chance, um beides zu erreichen.«

»Ich verstehe nicht …«

Er wusste, dass er nicht länger umhinkam, die Bombe platzen zu lassen. Chiara konnte nicht warten, nicht auf Zoës Befindlichkeiten, nicht auf eine dumme Taktik. Es wurde Zeit.

»Ich weiß längst, dass es dich zwei Mal gibt«, sagte er und sah, wie sie sich zusammenriss, aber es ging nicht, das Rot auf den Wangen verschwand augenblicklich, und er sah, wie sie die Fäuste ballte.

»Du musst deine Schwester hinzuholen. Aus so vielen Gründen: Meines Wissens weiß Al-Hamsi nicht, dass es sie gibt. Sie ist Polizistin. Sie kann uns alle Informationen beschaffen, die wir brauchen, um …«

»Nein«, schrie Zoë, lauter und wütender, als er sie je gehört hatte, sie sah ihn an mit so viel Wut, dass ihre Augen blitzten. »Nein, nein, nein, ich werde nie wieder mit Zara reden, nie wieder. Ich werde das nicht tun, niemand, nicht mal Sie, Monsieur, können mich dazu zwingen. Sie wissen, was sie getan hat – und Sie wissen, wie sehr ich Papa geliebt habe.«

»Ich weiß«, sagte er sanft, »aber ich kann darauf leider keine Rücksicht nehmen, Zoë. Es geht um meine Tochter. Um ihr Leben. Deine Schwester ist unser Trojanisches Pferd. Wir brauchen sie. Unbedingt.«

»Ich kann das nicht, niemals«, sagte sie und wollte aufstehen. »Sie wissen doch, was passiert ist: Sie hat alles in Gefahr gebracht, und dann hat sie alles zerstört. Das kann ich nicht – und ich schütze damit …«

»Erzähl nicht einen solchen Unfug«, sagte er streng. »Zusammen seid ihr unschlagbar. Herrgott, es geht um Chiara. Um das Mädchen, mit dem du so viel Zeit verbracht hast. Und jetzt weigerst du dich, den besten Weg zu gehen, nur weil du …«

»Nein, ich verweigere mich, weil es keinen Sinn macht. Ich allein werde alles tun, um Chiara zurückzuholen, aber nicht mit Zara.«

Sie schüttelte den Kopf, entschieden, dann wollte sie aufstehen.

Doch Bolatelli war schneller. Er griff neben sich auf den Sessel und hielt auf einmal den Revolver in der Hand. Richtete ihn auf sie. »Bleib sitzen.« Sein Ton war nun kalt und abweisend. Er griff zum Telefon, wählte, es wurde sofort abgehoben. Er hörte sich selbst sagen: »Plan B.«

Dann legte er auf.