Borgo, Korsika, Frankreich
D ie Rotorenblätter fegten Palmwedel durch die Luft, scharf wie Messer. Sie waren dem Helikopter nun schon ganz nah. Er war neben der Grundstücksmauer gelandet, am Rande des riesigen Hochplateaus genau über dem Meer.
Er ging hinter ihr, deshalb konnte sie sein Gesicht nicht mehr sehen. Aber der Eindruck von vorhin in dem dunklen Zimmer hatte sich ihr eingebrannt. Sein Blick. Die Enttäuschung, die Wut, aber auch dieser Zug in seiner Pupille – er hatte nichts mehr zu verlieren, weil nun alles auf dem Spiel stand, was er noch liebte.
Die Tür schwang beiseite, sie warf einen Blick zurück, er machte ein Zeichen mit der Pistole, die er immer noch im Anschlag hielt, also stieg sie ein. Sein Leibwächter folgte, dann Bolatelli, so mühelos, wie sie es dem alten Mann nie zugetraut hatte.
Verdammt, was wurde das hier?
Das Geräusch wurde lauter und lauter, ein Tornado über ihren Köpfen, eine Sekunde nur, dann lösten sich die Kufen, und sie sah den Schatten des Helikopters unter sich, der Schatten, in dem sie nun saß. Bolatelli murmelte etwas in dem tiefsten korsischen Dialekt der Ostküste, den nur noch ein paar Menschen in zwei oder drei Tälern sprachen und von dem Zoë beim besten Willen kein Wort verstand. Doch den überraschten Blick des Piloten, der sich sogar umdrehte, als müsse er etwas falsch gehört haben, den verstand sie. Eine Sekunde später riss er das Steuerrad herum, und der Helikopter legte sich schräg in Richtung offenes Meer, er wurde immer schneller, sie jagten förmlich hinaus in die blaue Wüste.
Sie hatte keinen Kopfhörer bekommen, deshalb hörte sie nicht, was Bolatelli immer wieder in sein Headset sprach, vielleicht sprach er auch mit niemandem, sondern murmelte nur ein Mantra. Seine Augen sah sie nicht, weil er die verspiegelte Sonnenbrille trug.
Sie flogen weit hinaus, sicher zwölf, dreizehn Minuten am Stück, sie hatte aufgehört, die Sekunden mitzuzählen, sie sah kein Land mehr, keinerlei Anhaltspunkt, wo sie sich befanden, irgendwo zwischen Korsika und Festlanditalien, da drosselte der Pilot den Helikopter und ließ ihn ein Stück sinken – immer weiter verlor er an Höhe, schon zeichneten sich auf dem Wasser die Schatten und dann auch die Windströme der Rotoren ab. Fünfzig, vierzig, vielleicht dreißig Meter.
Bolatelli nahm die Sonnenbrille ab. Es war keine Wut mehr in seinen Augen, nur das Spiegeln der Sonne, er sah gleichmütig aus. Das – und nur das – machte ihr Angst.
»Los«, sagte Bolatelli. Laut und klar, nur das eine Wort.
Sie sah ihn fragend an.
»Los. Spring.«
»Ich …«
Er richtete die Pistole auf sie.
»Du willst nicht mehr dienen, und es war dir klar, was an dem Tag passiert, an dem du diese Entscheidung triffst. Es hätte glimpflicher ablaufen können, aber leider hast du dir einen Tag ausgesucht, an dem ich besonders übel gelaunt bin. Ich wollte nur, dass du deine Schwester dazuholst, damit sie mein Mädchen rettet. Doch du lehnst ab, aus deiner dummen Verletztheit heraus …«
»Nein«, rief sie, versuchte, gegen den Lärm anzukämpfen, ein letzter erbärmlicher Versuch: »Ich kann einfach nicht, wir dürfen ihr nicht vertrauen, nein, wirklich …«
»Ruhe jetzt …«
»Bitte, Monsieur Bolatelli, bitte …«
»Nicht flehen. Nicht du.«
Seine Worte wie Schläge.
»Los. Raus mit dir.«
Sie drehte sich zur Seite und setzte die Füße auf die weißen Kufen. Sofort griff der Wind nach ihr. Sie sah hinab in die Flut, die Verzweiflung ergriff Besitz von ihr, doch noch einmal wandte sie sich um und sah ihn an, die Schultern hochgezogen, das Kinn hochgereckt, sie blickte in die Mündung der Waffe, dann ließ sie, während sie seinen Blick festhielt, los und glitt sofort ab, es dauerte Sekunden, es waren doch mehr als fünfzig Meter gewesen, sie verkrampfte sich, machte sich ganz steif, keine Pirouette, dann wäre sie tot, sie müsste gerade sein, kerzengerade, und so schlug sie ein, die Füße zuerst, so heftig krachten sie in eine Welle, dass sie dachte, es zerreiße sie, zerfetze ihre Sohlen, doch dann war sie unter Wasser, und die Kälte lähmte sie augenblicklich, um dann im nächsten Moment alles Adrenalin in den Körper zu jagen, das ihr Gehirn zu produzieren imstande war.
Das Blau schloss sich, war neben, unter und über ihr, wobei sie für einen Moment nicht mehr wusste, wo oben war, bis sie das Licht wieder sah und die kreisrunden Wellen der Rotorenblätter, der Schatten, flapp, flapp, flapp, ein Dröhnen, das bis hier unten hallte. Sie stieg auf, schnell und gierig, um die Luft zu spüren, und schaffte es, die Augen zu öffnen, gerade, als der Hubschrauber eine Kurve beschrieb und wegflog, er entfernte sich wirklich, sie schienen keine Notiz mehr von ihr zu nehmen. Sie sah ihm nach, ihre Arme ruderten im Wasser, sie liebte das Schwimmen, in keiner anderen Disziplin hatte sie die gleiche Ausdauer, gleichzeitig wusste sie, was das hier bedeutete, sie hatten sie zurückgelassen, und wenn sie den Blick wendete, dann sah sie nichts, nur Wasser, Wasser, Wasser, das ewige Meer, bis zum Horizont kein Land, keines. Sie versuchte, sich nach oben zu recken, um besser sehen zu können, doch das Meer war zu bewegt, und so wurde sie immer wieder überspült. Sie begann, langsam und gemächlich zu schwimmen, sie wusste, dass sich die Panik nicht in ihr ausbreiten durfte, nicht über sie Besitz erlangen, denn dann wäre sie verloren. Sie würde sterben, ertrinken, hier draußen. Doch würde sie das nicht ohnehin?
Sie entschied sich nach einer Weile, nicht weiterzuschwimmen, sondern legte eine Richtung ein, orientiert an der Sonne, sie legte sich ganz flach auf den Rücken, die Füße aus dem Wasser gereckt, um sich gen Westen treiben zu lassen, denn dort vermutete sie die Insel, von der sie vorhin gestartet waren. Sie hatte keine Ahnung, ob sie damit auch nur ein Prozent Überlebenschance hatte. Sie schloss die Augen, ließ sich von den Wellen treiben, anheben, hochheben, sie fror, doch sie verbot es sich, darüber nachzudenken.