Zoë

Mittelmeer vor Korsika

W ie lange trieb sie hier nun schon? Sie konnte nicht sagen, ob es eine Stunde war oder zwei oder drei. Zoë beobachtete die Wanderung der Sonne, doch sie wusste es dennoch nicht genau. Sie hatte sich die Klamotten ausgezogen. Gott sei Dank hatte sie vorhin in Ventimiglia nach dem Markt an den Strand gewollt, deshalb trug sie einen Bikini unter ihren Sachen. Der war leicht und zog sie nicht nach unten. Die Sonne wärmte sie einigermaßen, und wenn ihre Muskeln und die Haut zu kalt wurden, schwamm sie auf dem Rücken ein kleines Stück, um sich wieder zu aktivieren.

Es gelang ihr nicht mehr, den Gedanken an ihren Tod wegzuschieben.

Sie müsste der Realität ins Auge sehen.

Hier war niemand. Kein Boot. Keine Rettung. Kein Land in Sicht.

Was hatte sie gedacht, wie es aufhören sollte? Der Mann, ihr Auftraggeber, war Benito Bolatelli. Hatte sie wirklich vermutet, dass er sie einfach aussteigen lassen würde? Der seit fünfzig Jahren bekannteste Mafiapate des Südens? Der Mann, der einen Verräter in die Wand seines Hauses hatte einmauern lassen?

Ja, sie musste es zugeben: Sie hatte wirklich geglaubt, er würde sie einfach ziehen lassen. Nach allem, was sie für ihn getan und mit ihm erlebt hatte. Er wusste, dass sie niemals eine Gefahr für ihn werden würde. Sie war zu klug, um sich fassen zu lassen. Und zu loyal, um ihn jemals zu hintergehen. Sie hätte sich letztes Jahr zur Ruhe setzen müssen – irgendwo auf einer kleinen Insel, um von ihrem Geld zu leben. Doch dann kam der Tod ihres Vaters.

Nun war es zu spät. Nun hatte sie ihn rächen wollen. Und nun lastete auf Bolatelli ein Druck, der nicht mehr zugelassen hatte, dass er sie einfach gehen ließ.

Sie spürte, wie sie wieder kalt wurde, sie streckte die Arme aus und fing an zu kraulen, doch nach zwei Minuten schrie sie auf. Ihre Schultern durchzog ein Krampf, und sie drehte sich schnell auf den Bauch, um mit weniger Aufwand brustzuschwimmen. Doch es ging nicht, jeder Zug im Wasser tat weh, sie bekam Panik, geriet unter die Oberfläche und schluckte von dem salzigen Meerwasser, sie tauchte wieder auf und hustete und versuchte weiterzuschwimmen, doch ihr Körper versagte ihr den Gehorsam.

Verdammt, dachte sie, es durchfuhr sie die Erkenntnis, dass es hier enden würde. Hier draußen, in dem Element, das sie wie keines sonst auf der Welt liebte.

Und sie dachte: Zara.

Ihr vor Augen standen aber nicht die Rachsucht und die Wut, nicht der Moment, als Zara Maman mit sich genommen hatte nach Berlin, nicht der Moment, in dem sie die Mörder ihres Vaters überhaupt erst zu dem Treffen in sein Restaurant geholt hatte, bei dem Papa dann starb. Nein.

Ihr vor Augen stand der Augenblick, als sie vor einem Jahr auf der Strandpromenade von Ventimiglia saßen und Eis aßen. Sie plauderten, wie sie es bis dahin noch nie getan hatten.

Sie hatte sich wohlgefühlt in diesem Augenblick. Zu Hause.

Ihr Atem beruhigte sich durch den Gedanken. Sie drehte sich auf den Rücken und streckte die Arme aus, um sie zu entspannen. Der Schmerz war immer noch gewaltig. Sie durfte nicht sterben.

Zara. Sie wollte sie wiedersehen. Ihre andere Hälfte.