A7 hinter Lyon in Richtung Marseille, Frankreich
D er Bulli schnurrte, es war, als würde er den Süden erkennen, die warmen Temperaturen, die Idylle vor den Fenstern. Der Motor lief und lief, er hatte ihn ja auch für teures Geld aufarbeiten lassen. Von außen sah er aus wie der Kleinbus eines Hippies, doch die Maschine war von letztem Monat – schließlich durfte er nicht riskieren, liegen zu bleiben.
Eben, auf der Autobahn durch Lyon, hatte er den Atem angehalten, weil zweimal ein Bullenauto neben ihm aufgetaucht war. Doch jedes Mal hatten sie nur überholt und freundlich zu ihm herübergesehen. Dieser Bus mit seiner orange-weißen Farbe und den runden Lampen war für Sympathiebekundungen wie geschaffen. Er hatte die Rhône und die Saône an ihrem Zusammenschluss überquert, gegenüber der weiße Bau des Musée des Confluences, er liebte die Kunst, er liebte die Restaurants dieser Stadt, das gute Leben, im Smoking und inkognito, ein junges Mädchen im Arm – aber nun musste er erst einmal Geld verdienen – ein letztes Mal.
Er sah in den Rückspiegel. Sie schlief immer noch, er musste wirklich seinen Dealer anrufen und ihm für das Zeug danken, das er ihr gespritzt hatte – es hätte wohl auch einen Elefanten ruhiggestellt.
Ein Mädchen wie sie hätte sich gut in seinem Arm befinden können – das hatte er schon gedacht, als er in der Schlange vor diesem Elektroklub gewartet hatte. Sie sah gut aus, schlank und groß und feingliedrig. Ihr war nicht anzusehen, wer sie war. Das hatte ihn überrascht. Sie hatte nicht die Haltung einer jungen Frau, der ihr ganzes Leben noch niemand zu nahe gekommen war, weil jeder gewusst hatte, wer sie war. Die Tochter des Paten.
Nein, sie war ganz lebendig gewesen, so als wolle sie ganz bewusst ein Teil der normalen Welt sein. Wie sie sich mit den Türstehern abgeklatscht hatte; er hatte das sehr cool gefunden.
Sie hatte ihn zuerst geküsst, nach nur wenigen Minuten, es war viel zu laut gewesen da drinnen. Er hatte nie verstanden, warum seine Wirkung auf Frauen so war. Er fand sich mittelmäßig, doch er musste etwas an sich haben. Die blonden wallenden Haare. Die Narbe im Gesicht. Die stechend blauen Augen. Männer witterten Gefahr, Frauen witterten Abenteuer. Vielleicht war die Erklärung so leicht. Oder Chiara Bolatelli hatte sich in Berlin angewöhnt, die Männer schnell zu küssen. Konnte ja sein.
Niemand wusste, wohin er unterwegs war.
Al-Hamsi, der Bastard, hatte es wissen wollen. Aber Carlos Zuffa hatte abgelehnt. Wenn er es tun würde, dann nach seinen Regeln.
Er fand den Plan genial. Sie würden auf der ganzen Welt nach Bolatellis Tochter suchen. Doch wo versteckte man eine Angehörige einer Mafiafamilie am besten? Ganz einfach: Dort, wo alle Mafiosi sind. Im Süden.
Außerdem musste er schnell sein – dort, wo das Gold war. So ließ sich beides verbinden.
Rechts der Autobahn floss noch immer die Rhône und trennte die Drôme von der Ardèche. Links auf dem Berg stand eine alte Kirche, Valence war nicht mehr weit. In zwei Stunden wäre er da.
Er sah das Blaulicht erst, als der Wagen schon an ihm vorbei war. Das Schild Police blinkte auf. Vorne kam ein Parkplatz, Carlos Zuffa spürte, wie sich seine Hände fester ums Lenkrad legten. Er sah wieder in den Rückspiegel. Sie bewegte sich nicht.
Die Aire de Bellevue, was für eine Ironie der Name des Rastplatzes war. Er folgte dem Renault Mégane der Polizei und bremste auf dem leeren Parkplatz. Er wischte sich durchs Haar, verwühlte es ein wenig, er gähnte.
Ein älterer Polizist stieg auf der Fahrerseite aus, auf der Beifahrerseite eine junge Frau mit schwarzen kurzen Haaren. Beide hatten die Hand an der Waffe. Sie kamen langsam auf den Bus zu. Der Mann besah sich das deutsche Kennzeichen, die Frau betrachtete die Reifen.
Er kurbelte das Fenster herunter.
»Bonjour?«
»Guten Tag, Monsieur«, der Alte schnarrte wie ein Hinterwäldler, »Verkehrskontrolle. Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.«
Carlos Zuffa beugte sich zum Handschuhfach und kramte darin herum, dann reichte er die zwei Dokumente aus dem Fenster. Seine Hand zitterte.
»Gibt’s ’nen Grund, dass Sie mich angehalten haben?«
»Wir wollten uns mal Ihren schönen Bus angucken«, sagte der Mann. Die Frau stand am Fenster der Beifahrerseite und lächelte ihm zu. »Haben Sie was getrunken? Oder andere Drogen konsumiert?«
»Wie kommen Sie denn darauf, Monsieur? Ich lenke doch ein Auto.«
Der Mann besah sich die Papiere und grummelte.
»Sehr witzig. Wenn das der Grund wäre, nicht zu kiffen, dann wäre ich arbeitslos. Sie sprechen sehr gut Französisch, Monsieur. Wie kommt’s?«
Zuffa hätte gerne etwas geantwortet. ›Ihr Französisch dagegen ist bescheiden‹, zum Beispiel. Aber er wusste, dass er aufpassen musste. Die jovialen Bullen waren die gefährlichsten. »Lange in Paris gelebt.«
»Paris …«
»Fiese Menschen, schlimme Preise, hübsche Mädchen«, meinte Zuffa.
»Sie kennen sich aus«, lachte der Polizist. Es hatte geklappt. Es klappte meistens. In der Wut auf die Pariser waren sich die Landeier stets einig.
Nun begann die junge Polizistin um den Bus herumzugehen, er beobachtete sie im Rückspiegel.
»Wohin soll’s denn gehen?«, fragte der Alte, immer noch betrachtete er das Foto auf dem gefälschten deutschen Führerschein.
»Ein kleiner Campingplatz bei Nizza. Wir sind da seit Jahren.«
Die Polizistin pfiff leise, ihr Kollege sah zu ihr durch die Scheiben.
»Wer ist das, Monsieur?«, fragte sie von hinten.
»Chiara, meine Freundin. Sie zumindest hat gestern etwas zu viel getrunken.«
Die Polizistin stellte sich jetzt neben ihren Kollegen, in ihrem Blick lag Misstrauen. Carlos Zuffa checkte an seinem Hosenbund, dass der kleine Revolver nicht verrutscht war.
»Sie ist nicht angeschnallt.«
»Der alte Bus hat hinten keine Gurte. Er hat dafür aber eine Sondergenehmigung. Steht in den Papieren. Ist aber auf Deutsch.«
»Hm, die verrückten Germanen. Aber gut …«
Der Alte wollte die Sache offenbar beenden, aber die junge Polizistin blieb hartnäckig.
»Hat die junge Frau Papiere?«
»Irgendwo in der Reisetasche.«
»Können Sie sie aufwecken, bitte?«
Zuffa sah die junge Beamtin so freundlich an, wie er es nur übers Herz brachte.
»Hören Sie, es war wirklich eine lange Nacht, wir haben Freunde in Paris getroffen, und sie hat ein bis zwei über den Durst getrunken. Wir würden einfach nur gerne weiter.«
»Wecken Sie sie.«
Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu, und nun hatte sie auch den Kollegen wieder wissbegierig gemacht – beide hatten ihre Hand am Holster.
Zuffa krabbelte vom Fahrersitz und schwang sich nach hinten in den Bus. Er beugte sich hinab und streichelte der Tochter des Paten eine Strähne aus der Stirn.
»Chiara«, flüsterte er und spürte, wie er schwitzte, »Chiara, wach auf.«
Tatsächlich. Sie rührte sich ganz langsam, als würde sie aus einem tiefen Schlaf erwachen. Das Mädchen streckte die Arme, bevor sie langsam die Augen öffnete. Er berührte immer noch ihren Kopf, doch was sanft aussah, war ein fester Griff. Er spürte die Blicke der Bullen in seinem Rücken.
Als sie ihn erkannte, riss sie die Augen auf, doch er wartete nicht mal eine Sekunde, bevor er leise auf Deutsch sagte: »Kein Wort. Sonst sterbt ihr alle.«
Sie war noch wie in Trance, und doch nickte sie. »Da ist sie ja, hey, Chiara, alles gut? Dicker Kater?«
Sie setzte sich aufrecht hin und bemerkte die beiden Polizisten, die zum Fenster hereinsahen. Er sah, wie es in ihr arbeitete, doch gleich darauf breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Ja, ziemliche Kopfschmerzen, aber wird schon.«
»Bonjour, Mademoiselle«, sagte die junge Polizistin, immer noch mit Misstrauen in der Stimme, »Sie sind Chiara? Und wie weiter?«
»… Schmidt«, sagte Chiara schnell.
»Geht es Ihnen gut?«
Sie nickte.
»Ja, bestens.«
»Gut«, sagte der Alte, »haben Sie vielen Dank und eine gute Weiterreise.«
»Wohin sind Sie denn unterwegs?«, beharrte die Polizistin. Miststück.
»Ans Meer. Wirklich, alles ist gut.« Chiara bemühte sich, ruhig zu sprechen, sie lächelte in einer Tour.
»Wohin ans Meer?«
»Caroline, es ist doch gut jetzt. Lass die Leute fahren«, zischte der alte Bulle schnell und im Akzent.
»Wohin ans Meer?«
»Keine Ahnung«, sagte Chiara, »ich glaube, Marsei…«
»Steigen Sie aus, beide.«
Die junge Polizistin ging wieder um den Wagen herum, zur hinteren Tür. Dann ging alles ganz schnell.