Chiara

A7 bei Valence, Frankreich

S ie hatte nicht verstanden, was geschah, noch nicht mal, als es längst geschehen war. Der Typ war so schnell, so verdammt schnell.

Hinterher erinnerte sie sich an alles wie in Zeitlupe.

Seine Hand, die verborgen nach der Waffe griff. Sie nach oben riss, im Bruchteil einer Sekunde. Feuerte. Einmal nur. Die Scheibe, die nicht zu Bruch ging, sondern nur ein kleines Loch aufwies. Kreisrund, dazu die kleinen Risse zu allen Seiten, wie die Bewegungen einer Welle. Das Loch in ihrer Stirn, mittendrin, ohne eine Abweichung nach links oder rechts, klein und blutrot, die junge Frau, vielleicht nicht mal dreißig Jahre alt, die zurückgeworfen wurde und auf dem Rücken landete, und dort, im Staub des Parkplatzes liegenblieb.

Der dicke Mann in der Uniform, der sofort die Hände hob und stammelte: »Alles gut, hey, alles gut, ich hab eine Frau und Kinder, alles gut, ich lass euch fahren, ich werde nicht anrufen, ihr habt einen Vorsprung.«

Der Typ, der aussteigt, ohne sich umzusehen, die Waffe auf den Mann gerichtet, an den er nah herantritt. Seine Stimme, hell und dunkel gleichermaßen: »Sorry, Sie waren wirklich freundlich und unterhaltsam.« Es zuckte zweimal, das tiefe Knallen, zwei Schüsse, beide in die Stirn, links, rechts, dann schloss sie rasch die Augen, bevor auch der Mann auf dem Boden aufschlug. Sie hörte es nur, dieses Krachen, sie sollte es nie mehr vergessen.

Er war wortlos wieder eingestiegen, hatte den Wagen gestartet und sich umgedreht: »Sitzen bleiben und kein Wort.«

Dann war er losgefahren, hatte beschleunigt und war auf die Autobahn gefahren. Nun fuhren sie schon wieder eine halbe Stunde, er hatte seitdem nicht gesprochen. Die Landschaft wurde bergiger, die Bäume schrien Süden, die Zypressen, die Platanen entlang der Autobahn. Auf dem Schild stand Avignon.

»Kann ich das Fenster aufmachen? Ich brauche Luft.«

Er nickte. »Aber kotz mir nicht in die Karre.«

Sie kurbelte die Scheibe herunter, der Wind drang in den Bus, doch er war ganz warm und roch nach Süße, nach Heimat. Würde sie sich nicht so fürchten, dachte sie für einen Moment, dann würde sie sogar genießen, dass sie ihrem Zuhause wieder so nah war. Ihr war in Berlin gar nicht klar gewesen, wie sehr sie die Wärme und dieses Weiche, Pastellige des Südens vermisst hatte. Sie legte den Kopf gegen die Scheibe und schloss die Augen.

»Das war echt Pech«, hörte sie nach einer Weile, sie musste kurz davor gewesen sein, einzuschlafen. Sie öffnete die Augen wieder und sah ihn an. Er lächelte und strich durch seine grauen Haare. Sie wusste, warum sie ihn geküsst hatte. Er sah gut aus. Nein, das vielleicht nicht mal eindeutig. Er sah besonders aus. Und ihr Unterbewusstsein hatte die Gefahr, die er ausstrahlte, gespürt, bevor sie selbst sie erkannt hatte. Sie liebte Gefahr.

»Was meinst du?«, fragte sie.

»Ich wollte die Bullen nicht töten. Besonders nicht den Dicken, Gemütlichen. Aber es ging nicht anders. Sie waren einfach … Ach, ich hasse Plattitüden, aber ja: Sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.«

»Ja«, sagte sie, »wahrscheinlich wollte der Mann wirklich nur den Bus ansehen, und deswegen haben sie uns angehalten.«

Er betrachtete ihr Gesicht, als suche er etwas. Dann wandte er sich wieder der Autobahn zu und fuhr schweigend weiter. Sie überquerten die Durance, die Brücke zur Linken, der weite Himmel.

Chiara schloss wieder die Augen. Sie spürte ein Gefühl, dass ihr total absurd vorkam.

Zufriedenheit.