Carlos Zuffa

A7 in Richtung Süden, Marseille, Frankreich

D ie Hochhäuser in der Ferne ließen sein Herz höherschlagen.

Auch wenn er es vor Jahren kaum hatte erwarten können, aus diesem Drecksloch wegzukommen, spürte er nun auf einmal eine merkwürdige Freude. Heimat.

Als sei das vergessen: all die Ratten, die auf der breiten Wohnstraße zwischen den Blöcken nach Futter suchten, die Stromausfälle jede zweite Nacht, die nach Pisse stinkenden Flure, die entwürdigenden Polizeikontrollen, damals, als sich die Bullen noch ins Viertel trauten.

Doch es war nicht vergessen – vielmehr sehnte er sich ein wenig nach diesem Dreck, nach diesen Abgründen –, vielleicht war es hier so, wie er selbst war, dachte er und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Er fuhr von der Autobahn ab und betrachtete kurz das Mädchen im Rückspiegel. Er sollte glauben, dass sie schlief. Aber er wusste, dass sie hinter geschlossenen Lidern nur so tat als ob. Es war ihm egal, sollte sie ruhig wissen, wo sie hinfuhren.

Dann bog er nach links in den Boulevard Henri Barnier ab. Hinter der Total-Tankstelle waren die Häuser noch flacher, günstige Wohnungen für die Arbeiter der ehemaligen Raffinerie und der Chemiefirmen gab es vor allem oben am riesigen See, dem Étang de Berre. Dort hinten kamen die wirklich hohen Betonklötze, die mitten in die Hänge gebaut waren, ein Auf und Ab der Armut, noch von dem mittlerweile nobel herausgeputzten Stadtviertel aus gut erkennbar.

Wie lange er nicht hier gewesen war. Dennoch nahm er die Kurven, als sei er nie weg gewesen. Dieses Geflecht aus Einbahnstraßen, verschlungen und mit hohen Betonpfeilern abgegrenzt, die wie dafür gemacht waren, dass sich die Bewohner perfekt zurechtfinden konnten, während Eindringlinge sofort bemerkt wurden und sich irgendwo festfuhren – und hier waren alle, die nicht in Castellane geboren waren oder hier wohnten, Eindringlinge: Pariser, Touristen, Journalisten, Bullen. Er beherrschte diese Straßen immer noch blind.

Er war zwar in Nizza geboren, hatte aber – wie alle Verbrecher des Südens – irgendwann Marseille für sich entdeckt. Weil die Nähe zum korrupten Hafen, die Gesetzlosigkeit der Banlieues und die Schmierbarkeit der Gesetzeshüter hier legendär waren.

Wenn Mahmud ihm nicht half, sein alter Freund Mahmud, den er nun aus der Ferne für tot erklärt hatte – hier würde er Hilfe finden. Und Menschen mit noch weniger Skrupel.

Die niedrigen Häuser verschwanden, und die Sonne senkte sich herab hinter den grauen Klötzen mit den schmalen Fenstern und den Satellitenschüsseln an den wenigen Balkonen, die nicht wegen Baufälligkeit gesperrt waren. Er bog in die Allée de la Jougarelle ein, eine enge, gewundene Straße, die direkt an die Rückseite der Eingänge grenzte. Dort drüben, hinter dem Durchgang, standen drei Frauen mit Kopftüchern verhüllt, auf der anderen Seite lungerten zwei Kids herum. Er hoffte, dass sie die Späher waren. Dort war der kleine Hauptplatz des quartiere . Auch die arabische Fleischerei, nach deren Merguez-Würsten er sich in der Karibik verzehrt hatte, lag in dem Hauseingang. Genau wie der Jugendklub, den die Stadt hier einst mit hehren Motiven gebaut hatte, in dem aber mittlerweile wahrscheinlich so viel gedealt wurde, dass Shokran Al-Hamsi seine helle Freude daran gehabt hätte.

Er kurbelte das Fenster herunter und schaltete das Radio aus.

Bullen gab es hier nicht, da brauchte er keine Sorge zu haben. Dennoch checkte er die Waffe, die zwischen seinen Beinen lag.

Komischerweise sangen hier keine Zikaden. Er konnte sich nicht erinnern, ob es auch damals keine hier gegeben hatte. Merkwürdig war das. In der ganzen Provence – nur nicht an diesem verwunschenen Ort.

Er sah stur nach vorne. Es dauerte genau drei Minuten. Dann stand einer der Jungs vom Vorplatz an seinem Fenster. Basecap, Trainingshose, Olympique-Trikot.

»Ja?«

»Ich will Ahmed sehen.«

»Ahmed wen?«

Zuffa öffnete die Beine, sodass der Junge die Knarre auf dem Sitz sehen konnte.

»Hol ihn.«

»Okay.«

Der Junge verschwand so lautlos, wie er gekommen war. Das Mädchen im Rückspiegel regte sich immer noch nicht. Doch er hatte eben, als er mit dem Jungen gesprochen hatte, im Spiegel gesehen, wie sie die Augen ein wenig geöffnet hatte.

Der große Mann kam aus der Tür des Wohnblocks, schmiss die Kippe in den Gully und zündete sich eine neue an. Er war außer Atem, als er mit fragendem Blick an dem Bus ankam.

»Du rauchst zu viel, Habibi.«

»Carlos, du?«

»Wie eine Fata Morgana, oder? Mensch, wie geht’s dir?«

Die Miene des Arabers in dem schwarzen Hemd war ernst.

»Du kannst nicht hierbleiben.«

»Ahmed, hey, ich bin doch eben erst gekommen.«

»Carlos, eigentlich hätte es dir nur mein Bote gesagt. Aber ich bin persönlich heruntergekommen, weil ich großen Respekt vor dir habe. Ich sage dir: fahr weg. Ich weiß nicht, wer zuerst auftaucht, die Bullen oder die Killer des Paten – ich will jedenfalls mit beiden nichts zu tun haben.«

»Ich dachte, du bist der Herr der Banlieue. Ich will doch nur eine Nacht …«

Der Araber fuhr dazwischen.

»Ich weiß in dieser Sache nicht mal, wem ich in meinem eigenen Haus trauen kann. Verdammt, was habt ihr getan? Vor einer Woche war der Pate noch total abgemeldet, niemand hat mehr auf ihn gehört. Aber nun? Ihr vergreift euch an seiner Familie – das macht man wirklich nicht. So hat er alle wieder auf seine Seite bekommen. Es war einfach hirnrissig. Also, nimm das Mädchen und bring es weg von hier.«

Carlos griff nach seiner Waffe, aber Ahmed war schneller. Er zog seine Knarre aus seiner Hose und hielt sie durch die Seitentür an Zuffas Kopf.

»Vergiss es. Das hier ist mein Revier. Verschwinde.«

Er nickte kaum merklich, hielt dabei den Kopf ganz ruhig. Keine Angst. Wer in La Castellane Angst zeigte, war tot.

»Das werde ich dir nicht vergessen.«

Dann machte er den Motor an und fuhr davon.

Als er aus dem Viertel hinaus war, ein Stück hinter der Tankstelle, und auf die Autobahn abbog, hieb er mit einem Mal heftig gegen das Lenkrad und brüllte, ein Urschrei, all seine Wut musste heraus.

Das Mädchen saß aufrecht hinter ihm und sah ihn an, in ihrem Blick lag keine Angst und kein Erstaunen. Es war, als würde sie ihn provozieren.

Er bog auf die Autobahn, nur schnell weg hier, doch wohin? Er überlegte, wieder gen Norden zu fahren.

»Verdammt«, murmelte er. Auf der A7 würden sie nach dem Mord an den Bullen sicher genau kontrollieren.

Also entschied er sich kurzerhand um, riss das Lenkrad herum, dass die Achse quietschte, und kriegte gerade noch die Kurve, um auf die A50 einzubiegen, Direction Toulon/Nice .