Xavi

Prenzlauer Berg, Berlin, Deutschland

E r dachte schon, die Strandliegen vor dem Negresco an diamantbehangene Damen und rolexbewehrte Herren zu vermieten, wäre die merkwürdigste Situation, in die er nach dem Gefängnis kommen könnte.

Aber nun waren sie in einem Eck-Altbau die wenigen Treppen hinaufgestiegen und saßen in einer Altberliner Kneipe mit hölzernem Tresen und alten Tischen und Stühlen. Der Mief von vielen Dekaden Zigarettenrauch hing in den grauen Gardinen, an der Theke saßen zwei Männer, die gewiss an vielen dieser Zigaretten beteiligt gewesen waren. Sie tranken Bier aus kleinen Gläsern. Sie hatten die neuen Gäste keines Blickes gewürdigt, nur die alte Berliner Serviererin mit dem kecken roten Bürstenhaarschnitt hatte ausgerufen: »Sieh an, wie dat doppelte Lottchen!«

Er jedenfalls konnte sich nicht sattsehen an dieser merkwürdigen Konstellation: Die beiden Frauen in ihren hellen Sommerkleidern, die sich bis ins kleinste Detail glichen. Von der einen wusste er, dass sie eine der gefürchtetsten Killerinnen Europas war, auch wenn sie für ihn vor allem eine verlässliche Freundin geworden war – vielleicht seine engste Vertraute. Von der anderen hatte er nur gehört – die klügste Polizistin Europols, gesetzestreu bis in den letzten Paragrafenwinkel.

Zoë hatte sie früher nur erwähnt, Nachfragen beantwortete sie mit einem Blick, der töten konnte.

Er hatte Zoë noch nie in einem Kleid gesehen, ihre Uniform bestand aus schwarzer Lederjacke, weißem Shirt und einer Jeans, in der sie ihre Waffe verborgen hielt.

Ihr Essen wurde ihnen serviert, Zara hatte für alle das Gleiche bestellt. Er traute seinen Augen nicht, für einen kulinarisch erfahrenen Katalanen war das hier ein Schock: Er war sich sicher, dass es irgendetwas vom Schwein war, ein großer Ballen mit reichlich Fett drumherum, dazu gab es ein grüngelbes Püree von irgendetwas und ein weißes Kraut sowie ein riesiges Schälchen mit Senf. Horrible .

Zara grinste nur, als sie den Blick ihrer Schwester sah – und den seinen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie sich mit dem Essen einen Spaß erlaubt hatte – so wie mit der Auswahl der Location. Andererseits: Hier bestand wohl keine Gefahr, dass sie jemand kannte – es sah nicht aus wie ein Ort, den Zara von Hardenberg häufig frequentierte. Er hatte hinter der Litfaßsäule verborgen beobachtet, wie nervös sie geworden war, wie sie die Umgebung sondiert hatte, sicher aus Angst, jemand könne sie erkennen. Das Geheimnis, das Zara aus Zoë gemacht hatte, war wohl noch fundamentaler als es andersrum der Fall gewesen war.

»Xavi Idarreta«, sagte Zara und sah ihn lange und forschend an. »Wie war es in Les Baumettes?«

Er zuckte zusammen. »Sie wissen es doch selbst, oder? Wenn es eine Hölle auf Erden gibt, dann befindet sie sich in Les Baumettes.«

Er musste kurz den Blick abwenden, damit er nicht zu weinen begann. Er. Xavi. In Tränen. Er hatte die Erinnerung an die berüchtigtste Haftanstalt Europas verdrängt, die sich am Rande von Marseille befand. Er hatte sich stattdessen drei Heldengeschichten zurechtgelegt, die ihn als den Coolen wirken ließen, der in Haft der Gefängnisclown gewesen war. Doch die Nächte, nackt, auf der Erde liegend, die Ratten und Asseln, das Blut und die Schreie, all das konnte er nicht vergessen, es weckte ihn in jeder Nacht. Die Bullen hatten ihn ganz bewusst dorthin verlegt, um Benito Bolatelli zu schaden. Und ihn den Al-Hamsis auszuliefern.

»Nun ja, es ist ja Gott sei Dank nicht an den Häftlingen, sich ihr Gefängnis selbst auszusuchen. Und bei Ihrem Vorstrafenregister …«

»Können wir uns das sparen, Zara?«, fragte Zoë, und er hörte ihre unterdrückte Wut.

»Dann sagt mir einfach, was ihr wollt, dann haben wir es hinter uns.«

»Mein Chef will, dass ich dich um Hilfe bitte.«

»Benito Bolatelli? Der Pate? Ernsthaft?«

Na, das konnte ja heiter werden. Xavi steckte seine Gabel in das wabbelige Fett, darunter kam rotes Fleisch zum Vorschein. Er war überrascht und nahm ein Stück, probierte und schloss sofort die Augen. Es war köstlich. Wie ein jarret de porc . Nur noch saftiger. Das hier war fantastisch. Er hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig er war. Seitdem sie von Nizza hierhergeflogen waren, hatte er nichts mehr gegessen. Er begann, schnell zu essen, nur seine Augen bewegten sich zwischen den Frauen hin und her, um nichts von ihrem Schlagabtausch zu verpassen. Zoë hatte ihr Essen noch nicht angerührt.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich euch bei euren kriminellen Machenschaften helfe.«

»Ich hasse es, dich um etwas zu bitten. Aber diesmal ist es anders. Es geht um seine Tochter. Sie wurde entführt.«

»Chiara Bolatelli wurde entführt?«

»Du weißt echt alles über ihn.«

»Ich muss doch wissen, wem du deine Seele verkauft hast. Wo?«

»Hier. In Berlin. Sie hat hier studiert.«

»Wer hat sie entführt?«

»Ich habe eine Vermutung. Aber der Auftrag kam ganz sicher von Shokran Al-Hamsi.«

»Ich werde mich da nicht einmischen, Zoë. Das ist eine Angelegenheit der Mafia. Ehrlich gesagt würde es mir viel Arbeit abnehmen, wenn sich deine Bosse gegenseitig erledigen.«

»Wenn ich auch dabei umkomme, wäre es dir auch recht, nehme ich an?«

»So ein Quatsch, und das weißt du.«

»Al-Hamsi will, dass ich etwas tue, um sie zu retten. Er erpresst den Paten damit. Dabei will er sich doch nur an mir rächen, weil ich seinen Bruder …«

»Ins Koma geschossen hast?«

Zoë nickte.

»Was sollst du tun?«

»Du weißt von dem Gold?«

»Von welchem Gold?«

»Dem Verkauf der Goldreserven.«

»Nein. Ich bin gerade an einer ganz anderen Sache dran.«

Zoë erklärte ihr von Frankreichs Plan, einen Teil des Staatsschatzes zu veräußern. Ihre Zwillingsschwester hörte aufmerksam zu. »Das Gerücht geht um, dass das Gold in Marseille auf ein Schiff geladen werden soll. Wir sollen den Konvoi angreifen. Und das Gold stehlen.«

»Wie bitte? Das ist doch absolut unmöglich.«

Zara hatte recht, befand Xavi. Die ganze Aktion war so abenteuerlich, dass sie klang wie eine unglaubliche Räuberpistole.

»Die werden alles aufbieten, um den Transport zu bewachen. Bis an die Zähne bewaffnet.«

»Und da kommst du ins Spiel.«

»Was meinst du?«

»Bolatelli will, dass du alles über den Transport herauskriegst. Du hast die höchste Sicherheitseinstufung bei Europol – für dich ist das kein Problem.«

»So ein …«

»Und er will, dass du dabei bist und mir hilfst, den Konvoi zu stoppen.«

Zara tippte sich an die Stirn. »Natürlich. Soll ich – Bolatellis Meinung nach – auch gleich noch den Fahrer erschießen?«

Zoë beugte sich über den Tisch vor, sie öffnete ihre Hände, eine bittende Geste.

»Ich wusste, dass du es nicht machen willst. Er hat mich fast umgebracht, weil ich dich nicht fragen wollte. Aber es geht um seine Tochter. Bitte, Zara.«

»Wer hat sie entführt? Was ist deine Vermutung?«

»Es ist der, mit dem ich eine Rechnung offen habe. Der Mann, der Papa erschossen hat. Carlos Zuffa.«

Zara legte ihre Gabel weg und sah aus dem Fenster. Sie schwieg länger, als Xavi es aushalten konnte.