Polizeipräsidium, Tempelhof, Berlin, Deutschland
D er nächtliche Verkehr rauschte vorbei an dem grauen Block, der früher die Vorderseite des mittlerweile geschlossenen Flughafens gebildet hatte. Heute waren die Rollbahnen am Tag nur noch Vergnügungsstätte für Skateboarder und Picknicker, des Nachts auch für Feierwütige, die über die Zäune stiegen. Unter den wachsamen Augen der Hauptstadtpolizei. Gegenüber trat Zara in den modernen und gleichsam gesichtslosen Block des Landeskriminalamtes. Das kleine Büro, auf das sie vor Jahren gegenüber Rui Vicentes bestanden hatte, befand sich im dritten Stock der Behörde, unter dem Dach also. Ein Kämmerchen, dessen weiße Tür immer geschlossen war. Auf dem Schild stand Europol – Zutritt verboten .
Niemand sonst hatte einen Schlüssel, niemand sonst durfte hier arbeiten. Deshalb sah es aus, wie es normalerweise auch in ihr aussah: sauber und aufgeräumt. Ihre Schwester hätte gesagt: steril .
Doch auch heute noch fühlte sie die innere Unruhe, die sie gestern befallen hatte, als Zoë und dieser Kriminelle sie heimgesucht hatten.
In der Nacht hatte sie nicht schlafen können, doch sie zweifelte, dass das an dem schweren Eisbein zum Abendessen gelegen hatte. Ihr Entschluss stand fest: Sie wollte das Problem lösen und dann schnell ihr Leben wiederhaben.
Andererseits: Die letzten beiden Male war es Zoë gewesen, die ihr aus der Patsche geholfen hatte – diesmal war sie dran. Das war nur fair. Und sie wusste es – auch, wenn sie es ihrer Zwillingsschwester gegenüber nie zugegeben hätte.
Ihrer Zwillingsschwester, die nun zusammen mit diesem Xavi wieder ihre Koffer packte, um in ein paar Stunden zum Flughafen zu fahren. Sie selber hätte noch Zeit. Zeit für die Vorbereitung eines Planes, den sie hoffte, nie ausführen zu müssen.
Sie knipste das fahle Neonlicht an und setzte sich hinter den Schreibtisch, auf dem nicht ein Papier herumlag, nur der Computer stand da, der über eine sichere Leitung ans Netz der Polizeibehörde in Den Haag angeschlossen war. Es dauerte nur Sekunden, dann war das Programm hochgefahren, das sie mit allen aktuellen Ermittlungen des Kontinents verband. Rui könnte sehen, wonach sie gesucht hatte – doch das musste sie riskieren.
Sie suchte im Dossier der französischen Police nationale nach dem Goldtransport. Sie runzelte die Stirn, dann öffnete sie die Maske der Gendarmerie. Die Informationen hier waren noch spärlicher, das Verteidigungsministerium teilte nicht gern Informationen mit dem Innenministerium. Die Furchen auf ihrer Stirn wurden tiefer. Sie las weiter, suchte Unterordner ab, doch da war nichts. Gar nichts.
Es war, als befasse sich die Polizei im Nachbarland überhaupt nicht mit dem Gold. Das konnte nicht sein.
Sie wählte die Nummer des Bereitschaftsdienstes in Den Haag. Eine dünne Männerstimme.
»Vasilis? Hier ist Zara.«
»Misses von Hardenberg? Es ist spät.«
Sie hörte die Schüchternheit in seiner Stimme. Sie wusste, dass sie gefürchtet war, dort drüben in der Zentrale. Als allzu gesetzestreue Paragrafenreiterin mit einem guten Draht zum Boss. Sie schob die Angst ihrer Kollegen darauf, dass sie sie einfach nicht richtig kannten, weil sie so gut wie nie im Hauptquartier auftauchte. Dennoch kannte sie jeden Kollegen, als lese sie täglich alle Personalakten.
»Ja, Vasilis. Ich bin es. Pass auf, ich habe ein Problem.«
»Ja?«
»Gab es bei euch eine Voranfrage der französischen Kollegen wegen einer Gefahrenanalyse für einen großen Goldtransport? Von Paris in den Süden?«
Der Mann, der vor zwei Jahren und vier Monaten von der griechischen Polizei entsandt worden war, atmete schwer.
»Ich weiß nicht …«, stammelte er, »ich weiß nicht, ob ich Ihnen sagen …«
»Vasilis, bitte. Es ist alles in Ordnung. Ich habe die höchste Sicherheitsstufe. Ich hätte auch Rui anrufen können, aber ich wollte ihn nicht aufwecken. Also, sag schon …«
»Meinst du, er schläft jemals? Rui? Aber gut, wir schicken einen Mann. Den Schweden. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, es läuft alles nur über die höchste Ebene. Ruis Büro.«
»Den Schweden?«
»Ja.«
»Weiß er schon Bescheid?«
»Ich kann wirklich nichts sagen, Misses von Hardenberg, wirklich. Ich komme in Teufels Küche.«
»Das heißt, er ist schon losgeflogen? Ich dachte, es passiert alles erst nächste Woche …«
»Rufen Sie Rui an.«
»Das mache ich. Aber sag mir, wann ist er losgeflogen? Was ist da los?«
Die Stimme des Griechen klang nun anders. Selbstbewusst, laut, deutlich: »Passen Sie auf, hier überschlagen sich die Ereignisse. Mich rufen ständig Leute an deswegen. Eben hat so ein grober Bulle aus Marseille angerufen und mich fast durch den Hörer gezogen. Also, dieser ganze Mistauftrag kann mir gestohlen bleiben. Und Sie mir im Übrigen auch, Sie Phantom, Sie.«
Mit diesen Worten legte er auf, sodass das Geräusch des aufgeknallten Hörers in ihrem Ohr widerzuhallen schien.
So hatte Zara Vasilis noch nie erlebt. Sie erinnerte sich an ihn als einen winzigen Mann mit buschigem Vollbart, ein Crack im Internet, einer, der in der Kantine jeden Tag das Gleiche aß. Verdammt, was war denn da los?
Isaakson. Sie musste ihn anrufen. Sie wählte seine Nummer.
Die Mailbox. Verdammt.
Was hatte Vasilis gesagt? Ein grober Bulle aus Marseille . Ehrlich gesagt kannte sie nur einen, der die Chuzpe besaß, bei Europol Wind zu machen. Sie wählte die Nummer des Hôtel de Police, doch dann sah sie noch mal auf die Uhr. Sie legte auf und schlug in ihrem Handy seine Nummer nach. Es klingelte nur zweimal.
»Navarro?«
Er klang hellwach.
»Hier ist Zara von Hardenberg.«
Sie hörte regelrecht, wie er ihrer Stimme nachspürte, die Stille, drei, vier Sekunden, eine gebannte Stille.
»Ich dachte, wir sprechen nie wieder miteinander.«
»Ich wäre froh gewesen darüber. Aber es geht leider nicht.«
»Wie geht es Ihrer Schwester?«
Er fragte es ohne Hohn oder Ironie, er klang ernstlich interessiert.
»Sie ist, wie sie immer ist. Sie hasst jeden.«
»Das höre ich gerne. Haben Sie schon mal überlegt, ob sie auf der richtigen Seite steht? Immerhin hat sie den verdammten Al-Hamsis richtig eine verpasst.«
»Ihre Bewertung der schweren Verbrechen meiner Schwester werde ich mir sicher nicht zu eigen machen, wenn Sie einverstanden sind.«
»Was wollen Sie?«
»Ich frage mich eher: Was wollen Sie? Sie haben bei uns angerufen.«
»Ich dachte, Sie sind kaltgestellt. Nach den Ereignissen in der Provence. Deshalb schicken die doch den Schweden.«
»Sagen Sie mir, was los ist, Navarro.«
»Ich habe keine Ahnung, welchen Wahnsinn Paris da gerade plant.«
»Was meinen Sie?«
»Ich habe die ganze Idee von Anfang an für Irrsinn gehalten. Mehr als ein Dutzend Tonnen Gold über die Autobahn zu transportieren – und dann auch noch ausgerechnet in den Hafen von Marseille. Da kann man es gleich in der Pariser Banlieue auf eine Europalette packen und dabei zusehen, wie die Kids es wegtragen. Gut, aber der Auftrag kam eben von ganz oben. Also habe ich angefangen, eine Truppe zusammenzustellen. Und nun, wo ich einigermaßen vorbereitet bin, drehen die alles um – und auf einmal soll alles viel schneller gehen. Und damit wird es nicht nur Irrsinn, sondern völlig unmöglich.«
»Was soll das heißen? Wann soll der Transport gehen?«
»Morgen.«
»Morgen?«
»Ja, morgen. Der Schwede ist schon auf dem Weg. Na, sagen Sie mal, kriegen Sie denn gar nichts mit? Sind Sie überhaupt noch an Bord bei Europol?«
»Navarro«, sagte sie schnell, »ich sage es Ihnen und nur Ihnen. Der Transport ist in Gefahr.«
»Was soll passieren?«
»Das weiß ich nicht. Ich versuche, zu Ihnen zu kommen.«
»Sie oder Ihre Schwester?«
»Wieso fragen Sie das?«
»Wenn Sie kommen, wird es nervig für mich. Wenn Ihre Schwester kommt, gibt es ein infernalisches Blutbad.«
»Ach, wissen Sie, in diesen Tagen weiß ich manchmal gar nicht mehr, wer wer ist.«