Ramatuelle, Provence, Frankreich
S ie wird dich töten«, hatte sie gesagt. Er hatte sie überrascht angesehen. Es war, als hätte sie ihn überhaupt erst wieder zurück in diese Welt geholt.
Er war so nervös und fahrig gewesen, am Lenkrad des Busses, als sie in Marseille auf die Autobahn gefahren waren. Sein Schrei, den würde sie nie vergessen. Dann war er kurz vor Toulon gänzlich in sich versunken gewesen, da war nur das Motorengeräusch, keine Musik, kein Wort. Sie hatte immer wieder den Türgriff angesehen. Sollte sie die alte Schiebetür öffnen und sich hinausfallen lassen? Mitten auf die Autobahn, bei Tempo hundertzwanzig? Sie hatte den Gedanken verworfen.
Irgendwo hinter Hyères hatte die Autobahn geendet, und sie waren auf die kurvige Départementale gefahren, immer tiefer hinein in die Provence. Die Weinfelder entlang der Straße zeichneten ein idyllisches Bild, wie gerne hatte sie in Berlin den provenzalischen Rosé getrunken und an zu Hause gedacht.
Nun war sie wieder hier, in der Gewalt dieses brutalen Mannes, eine Gefangene, eine Geisel.
Hinter La Croix-Valmer waren sie nach Ramatuelle abgebogen, hatten den kleinen Ort durchquert. Es waren unzählige Touristen auf den Straßen unterwegs gewesen, sie hatten in den Restaurants gesessen und auf den Terrassen, der alte Campanile auf der Kirche war vorübergeschwebt, sie erinnerte sich, einmal hier gewesen zu sein mit Papa, er hatte geschäftlich zu tun, sie hatte auf dem Dorfplatz mit anderen Kindern gespielt.
An einer Schranke hatte er angehalten und aufgeschlossen, dann waren sie am Rande eines Felsens auf eine kleine Lichtung gefahren. Dort hatte er den Bus abgestellt, dann hatte er wortlos die Tür geöffnet und ihr befohlen, auszusteigen. Sie hatte die Sonne gespürt und einmal tief durchgeatmet, sich gereckt und sich dabei unauffällig umgesehen. Könnte sie es riskieren, einfach loszulaufen? Er hatte ihre Überlegung unterbrochen, indem er sie am Arm gepackt und den steinigen Weg hinuntergezogen hatte bis zu einem malerischen Strand. Kleine Kiesel, weiter unten weißer Sand, die Wasserkante: und dann Türkis, weiter hinten ein tiefes Blau, bis zum Horizont. Irgendwo dort hinten war Korsika. Papa. Sicherheit.
Die Hütte hatte sie fast übersehen, so ging die Farbe des grauen Holzes in den Stein über. Er schloss rasch auf und zerrte sie hinein, sie stieß einen leisen Schrei aus, doch da hatte er die Tür schon hinter sich zugeschlagen.
Sie hatte sich umgesehen in dem Dämmerlicht. Die Fensterläden waren noch geschlossen, durch die schmalen Schlitze fiel nur wenig Sonne hinein. Es gab ein Feldbett und einen kleinen Schrank aus altem Sperrholz, in der Ecke standen ein Gaskocher und ein winziger Kühlschrank. Sonst gab es nichts, es schien nicht mal Strom zu geben, dachte sie. Er zeigte auf die Liege, dann ging er hinaus und zog die Tür zu, sie hörte den Schlüssel, der sich von draußen im Schloss drehte. Sie spürte, wie sehr sie zitterte. Nach einer halben Stunde traute sie sich, aufzustehen. Sie ging zu den Fenstern, versuchte, sie aufzudrücken, doch sie sahen zerbrechlicher aus, als sie es in Wirklichkeit waren. Womöglich war es irgendein Spezialglas. Sie suchte ein Werkzeug, doch es gab in dieser Hütte nichts, nicht einmal Besteck. Auch die Tür saß fest in den Angeln. Die wenigen Möbelstücke waren festgeschraubt. Nach einer weiteren halben Stunde setzte sie sich wieder aufs Bett und fing an zu weinen. Sie hatte nicht vor ihm heulen wollen, keine Schwäche, keine Angst, doch nun brach es aus ihr heraus, sie schluchzte hemmungslos, rollte sich auf der Liege zusammen, und bald war das muffig riechende Kissen klitschnass. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein.
Stunden später, sie wusste nicht, wie viele, war er zurückgekehrt. Draußen war die Nacht hereingebrochen. In der Hütte war es dunkel, doch der Mann holte Kerzen aus einer Tüte, zündete sie wortlos an und verteilte sie. Dann nahm er aus einer anderen Tüte zwei Plastikschüsseln und reichte ihr eine davon, dazu einen Löffel. Er öffnete seine eigene Schüssel, und sofort verteilte sich der Duft von Fisch und Tomaten in der kleinen Hütte. Sie spürte, wie hungrig sie war, dennoch sah sie immer wieder ängstlich zu ihm. Doch er aß, ohne sie anzusehen, also öffnete auch sie ihre Schüssel. Die Fischsuppe sah köstlich aus, der, der sie gekocht hatte, hatte die Croûtons und die Knoblauchmayonnaise, die Rouille, schon hineingetan.
Wenn er sie vergiften wollte, dann wäre es eben so. Sie nahm den Plastiklöffel und aß gierig, es war fantastisch, der dunkelrote Sud mit dem Knoblauch und dem Thymian, der Geschmack von Rascasse und Rotbarben, die krossen Brotstücke, die Würzigkeit, die Tiefe.
Als sie fertig war und die kleine Flasche Wasser ausgetrunken hatte, hatte sie neuen Mut.
»Sie wird dich töten.«
Er stellte seine Schüssel ab und sah sie lange und herausfordernd an. Sofort überfiel sie wieder die Angst, sie rieb sich die immer noch schmerzenden Arme und sah die blauen Flecken, dort, wo er sie vorhin so heftig gepackt und den Berg runtergezerrt hatte. Leise sagte er: »Du meinst die sagenumwobene Fürstin der Unterwelt?«
»Ich meine Zoë. Meine Schwester.«
»Ach, kleine Chiara, nicht mal für ihre leibliche Schwester würde Zoë etwas riskieren. Meinst du, sie riskiert für dich sogar ihr Leben?«
»Du wirst schon sehen. Sie ist auf dem Weg zu mir.«
»Du kennst sie schon so lange, hm?«
»Sie hat auf mich aufgepasst, als ich ein kleines Mädchen war. Sie wird mich niemals im Stich lassen. Und zwar nicht, weil sie mir wegen ihrer Geschäfte mit Papa verpflichtet ist. Sondern, weil sie mich liebt. Aber ich glaube, du weißt gar nicht, was das ist.«
Er stand plötzlich aus seinem Schneidersitz auf und trat ganz nah an sie heran.
»Ich kann dich mit einem Schlag töten«, flüsterte er.
»Aber dann ist dein Plan im Eimer«, entgegnete sie, mit mehr Mut als Verstand.
»Niemand weiß, dass du tot bist.«
»Mein Vater wird nie tun, was du sagst, ohne ein Lebenszeichen von dir.«
»Glaubst du, dein Vater wird überhaupt etwas tun, um dich zu retten?«
Sie senkte ihren Kopf.
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Zoë?«
»Wen sonst?«
»Das werde ich dir nicht sagen.«
Er griff nach ihr, so schnell und grob, dass sie nichts machen konnte, er zog sie hoch, und sie versuchte, zu entkommen, doch er hielt sie so fest, dass sie sich nicht bewegen konnte, dann drückte er sie gegen die Holzwand, sein Arm an ihrem Hals, er drückte zu, dass sie keine Luft mehr bekam, sie spürte die harte Wand und sah sein Gesicht ganz nah, seine wütenden Augen, sie roch seinen Atem, sie wandte den Kopf ab, er sagte leise und drohend: »Du redest, wenn ich dich etwas frage. Und du machst alles, was ich will. Verstanden?«
Sie ließ die Arme sinken, geschlagen, sie hatte Angst, nackte Angst vor seiner Kraft, vor seiner Gewalt, sie nickte, er ließ sie sofort los. Sie sank auf den Boden herab. Er trat einen Schritt zurück und setzte sich wieder im Schneidersitz auf den Boden wie ein Guru.
»Setz dich aufs Bett.«
Sie tat, wie er es befohlen hatte.
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Vor zwei Jahren«, sagte sie leise.
»Vor zwei Jahren. Deine Schwester. Ich verstehe.«
»Sie hatte sich zurückgezogen. Und ich war nach Berlin gegangen.«
»Weißt du, was sie getan hat, deine Schwester?«
Sie sah ihn an, hörte den gezügelten Zorn in seiner Stimme, als stehe er kurz vor einer Explosion.
»Sie hat meinen Bruder umgebracht. Sie hat …«
Das Handy in seiner Tasche vibrierte. Er drehte sich weg, hob ab und ging hinaus. Sie sah ihn durch die Luken vor dem Fenster stehen, hörte seine gedämpfte Stimme.
»Ja?«
Er hörte zu.
»Oben bei dir am Leuchtturm?«
Wieder Stille.
»Wann?«
Gleich darauf: »Nein, du musst keine Polizei rufen, danke, ich kümmere mich darum. Ich kenne die Besucher, sie wollen zu mir. Einen schönen Abend für dich.«
Sie wusste nicht, ob sie hoffen oder bangen sollte, doch als er nach Sekunden wieder die Tür geöffnet hatte und sie sein Gesicht sah., überfiel sie die pure Angst. Er hielt die Waffe schon in der Hand und zischte: »Still, kein Wort.«