Nizza, Côte d’Azur, Frankreich
Sechs Jahre zuvor
R émy«, schrie er, »nein, ich erlaube das nicht.«
»Brüll mich nicht so an. Du bist nicht Papa.«
»Aber ich bin dein Bruder, verdammt noch mal. Und ich verbiete dir, dass du das machst.«
Der andere riss sich los, seine Augen waren weit aufgerissen, sein Blick so wütend.
»Du bist ein junger, wütender Mann, Rémy«, sagte er, nun leiser, ruhiger, »ich weiß das, ich war auch mal so.«
»Rede doch keinen Unsinn, du warst schon immer erfolgreich. Verdammt, lass mich los, und lass mich in Ruhe.«
Rémy warf das fettige Papier in den nächsten Mülleimer und rannte los. Carlos hätte ihn gern in Ruhe gelassen, aber es ging nicht. Das hier war zu wichtig. Er folgte ihm, er musste natürlich aufpassen, er durfte nicht auffallen, nicht hier in der Altstadt, wo es vor Polizisten nur so wimmelte. Dort vorne neben dem Blumenmarkt auf dem Cours Saleya befand sich sogar die Wache der Police municipale.
Er wusste gar nicht, wie es so weit hatte kommen können. Sie hatten sich richtig gefreut, einander zu sehen, hatten sich sogar umarmt, als sie sich vor einer halben Stunde zum Socca-Essen bei Chez Thérésa getroffen hatten. Er hatte immer gefunden, dass ihre fettigen Kichererbsenfladen viel besser waren als die von Chez René Socca . Etwas Salz und Pfeffer darüber, und der braun gebackene Teig war eine Delikatesse. Schon als Jungs hatten sie sich für dieses Essen vom Schulhof geschlichen. Eigentlich heilte es alle Streitigkeiten, heute aber war es erst beim Essen richtig eskaliert.
Nicht rennen, mahnte er sich, versuchte aber, Rémy, der zügig in Richtung Strand ging, nicht aus dem Blick zu verlieren. Carlos erinnerte sich an die Worte seines kleinen Bruders, vorhin, nachdem sie den ersten Bissen genommen hatten.
»Ich geh nicht mehr in die Uni.«
»Was? Wieso denn nicht? Es hat dir doch gefallen.«
»Es ist Zeitverschwendung.«
»Ist es nicht. Du könntest der Erste aus der Familie sein, der es schafft.«
Rémys Lachen klang noch in seinem Ohr.
»So ein Unsinn. Was denn schaffen? Meinst du, so ein Studium macht aus mir einen anderen Menschen? Jeder weiß, wo ich herkomme, an meiner Sprache, an meiner dunklen Haut, an meiner Adresse auf dem Lebenslauf. Die Uni kann das nur überlackieren, aber die Grundierung, die ist der Vorort von Nizza. Und das kann ich niemals wegmachen. Also würde ich mich fünf Jahre abrackern und dann einen mies bezahlten Job in irgendeinem Unternehmen kriegen, bei dem ich über mir all die französischen Kinder aus feinem Hause habe, die das Zehnfache verdienen und allesamt auf mich herabsehen. Vergiss es – ich habe da keinen Bock drauf.«
»Und was willst du dann machen? Lieferdienstfahrer werden wie Papa?«
»Ich hab schon was in Aussicht.«
Aufgrund der Art, wie Rémy das gesagt hatte, war er hellhörig geworden.
»Was?«
»Sag ich dir nicht.«
»Sag es mir. Bitte.«
»Nein.«
Carlos war in diesem Moment der Appetit auf Socca vergangen.
»Hat es mit Al-Hamsi zu tun?«
Rémy hatte weggesehen und so getan, als beobachte er das Treiben auf dem Blumenmarkt, die aufgehübschten Touristinnen, die beiden Taschendiebe an der Ecke, die Carlos längst entdeckt hatte.
»Du willst für die Al-Hamsis arbeiten? Hör mir zu«, sagte er lauter und fasste Rémy am Arm, damit der sich ihm zuwandte, »die Al-Hamsis sind ganz neu im Geschäft und benehmen sich trotzdem, als würde alles schon ihnen gehören. Sie haben keine Ehre im Leib, sie haben keinen Kodex, sie halten sich an nichts. Sie sind nur brutal und wollen den Markt übernehmen, um jeden Preis. Du bist Kanonenfutter für die.«
»Shokran ist nicht so, wie du es sagst. Er ist gut zu mir.«
»Er will dich ködern, um an mich ranzukommen.«
Da war Rémy aufgesprungen und zischte: »Geht es immer um dich? Nur um dich? Kann es nicht sein, dass Shokran mich einfach in seiner Truppe will, weil er glaubt, dass ich Zukunft habe? Dass ich das Geschäft gut kann?«
»Willst du wirklich Drogen verkaufen? Geldtransporter überfallen? Dich ständig umdrehen, weil du Schiss hast, dass die Bullen dir folgen? Oder sonst wer? Willst du eine Waffe tragen und damit notfalls Leute erschießen? Denn das ist mein Leben, Rémy, das ist mein verdammtes Leben.«
»Ich will Geld verdienen, so viel Geld wie du. Und ich will mich nicht mein ganzes Leben lang herumkommandieren lassen.«
Da war er explodiert, hatte geschrien, er erlaube es nicht. Und nun folgte er seinem Bruder. Und endlich, an der Unterführung, die zu den Quais und hinüber zum Strand zeigte, während links der Weg in die Berge zum alten Schloss der Stadt und diesem unglaublichen Aussichtspunkt über die sichelförmige Bucht abging, an dieser Unterführung also erreichte er ihn und hielt ihn am Arm fest und zog ihn zu sich herum, er meinte sogar, dass Rémy absichtlich langsamer geworden war, damit er ihn einholen konnte. Carlos Gesicht war ganz nah an dem seines Bruders, es war beinahe eine zärtliche Geste, als er ihm über den Arm strich.
»Du darfst das nicht machen.«
»Wieso? Wovor willst du mich beschützen?«
»Der Pate will die Al-Hamsis zerstören. Er wird nicht zulassen, dass sie den Markt übernehmen, seinen Markt. Wenn er hört, dass du für sie arbeitest, wird er toben. Aber nicht nur das: Er plant den großen Gegenschlag. Die nächsten Wochen werden nicht lustig.«
Das Lächeln auf seinem Gesicht, diese Überlegenheit, die er immer ausgestrahlt hatte.
»Ich bin zu klug, als dass mir etwas zustoßen könnte.«
»Das ist nicht deine Welt. Da gelten andere Gesetze. Da geht es nicht um klug oder dumm. Da geht es um das Recht des Stärkeren.«
Rémy senkte den Kopf.
»Gut, ich überlege es mir.«
»Versprochen?«
Doch sein Bruder wandte sich ab und trottete mit hängendem Kopf hinüber zum Strand. Sollte er die Zeit für sich haben, dachte Carlos und wandte sich in Richtung Altstadt um.