Zoë

Ramatuelle, Provence, Frankreich

D er Knall, der von den Felsen zurückgeworfen wurde. Ein Schuss! Es war nur der erste, gleich darauf folgten weitere, Zoë ging in den Angriffsmodus. Sie war auf der kleinen Anhöhe hinter dem Haus, warf sich zu Boden und drehte sich gleichzeitig auf den Rücken, die Waffe hatte sie in Sekundenbruchteilen in die Höhe gerissen, doch sie sah, wie die Kugeln in der anderen Richtung in den Sand einschlugen.

Xavi, durchfuhr es sie. Er hatte hinter einem Felsen Deckung gesucht, für einen Moment war es ganz still. Der Scheißkerl musste entweder hinter dem Haus stehen – oder sich sein Ziel aus dem Inneren gesucht haben. Letzteres wäre besser – dann war er weniger beweglich.

Sie sah in beide Richtungen, der Strand war ansonsten menschenleer. Xavi hob den Kopf, er suchte sie, doch sofort schlug eine neue Salve in den Stein ein, die Kugeln spritzten herum, er musste aufpassen, dass ihn kein Querschläger traf. Runter, zeigte sie mit der Bewegung ihrer Hand an, doch er sah sie nicht.

Sie ging in der Hocke voran, nahm die wenigen Meter bis an die Nordseite des Hauses, niemand war hier, sie blieb auf den Knien, lugte durchs Fenster, doch die Vorhänge waren zugezogen. Sie konnte nicht hineinsehen, aber er konnte sie auch nicht sehen. Gut so.

War Chiara bei ihm? Sie konnte nicht warten.

»Carlos«, rief sie laut, »Carlos Zuffa, du Scheißmörder, komm raus und lass es uns zu Ende bringen.«

Es dauerte nicht mal eine Sekunde, dann hörte sie seine Stimme, verstand aber nicht, was er sagte.

»Lass Chiara da raus«, rief sie, dabei beugte sie sich vor und blickte vorsichtig um die Hausecke zur Tür, die aus der Hütte zum Strand führte. Sie war verschlossen.

»Lass das Mädchen raus«, rief sie erneut, und dann meinte sie, die Stimme zu hören. Ihre Stimme. Chiara . Nun hatte sie verstehen können, was gesprochen wurde – und sie musste kurz lächeln, weil sie jedes Wort verstanden hatte.

»Siehst du? Sie ist gekommen.« Das hatte Benitos Tochter gesagt.

»Chiara«, rief sie, »ich bin hier, ich hole dich raus.«

Wieder lugte sie hinter der Ecke hervor, dann wagte sie es, blitzschnell gab sie ihr Versteck auf und lief gebückt unter dem Fenster hindurch, und genau in diesem Augenblick …

Flog die Tür auf. Er stand direkt hinter Chiara, eng an sie geschmiegt, seine Pistole klemmte an ihrer Schläfe. Er sah Zoë an, sein Grinsen wie damals, als sie ihn mochte wegen seines fiesen Humors, heute aber sah sie alles, seine Bosheit, den Abgrund, der er selbst war.

»Du weißt, dass ich nicht zögere, Zoë.«

»Oh ja, das weiß ich«, sagte sie. »Bleib ruhig, lass sie gehen, und dann klären wir das.«

»Hör auf mit diesem Bullshit, Zoë. Ich bin kein Amateur. Geh mir aus dem Weg.«

»Du willst das Gold. Du willst Chiara nicht töten.«

»Ich werde dich töten.«

»Aber nicht, wenn ich die Waffe auf dich richte.«

Es war eine vertrackte Situation. Er hielt Chiara fest, Zoë konnte fast nicht hinsehen, wie er so nah hinter ihr stand, es war obszön, dazu die Waffe, die er fest an ihren Kopf gedrückt hielt, es tat Chiara weh, sie sah es. Doch die junge Frau sah Zoë fest an, beinahe lächelte sie.

»Geh uns aus dem Weg«, befahl er.

»Erschieß ihn«, sagte Chiara, Zoë kannte sie zu gut, sie hörte, dass da Angst war in ihrer Stimme. »Erschieß ihn«, wiederholte sie. »Nun mach schon.«

Zoë schüttelte kaum merklich den Kopf, Chiara konnte es nicht sehen, aber es war nicht gut, dass sie Zuffa jetzt schon so nervös machte, seine Augen waren geweitet, alles an ihm war gespannt. Zoë hatte Xavi beobachtet, Sekundenbruchteile nur, aber zu lange, den guten alten Xavi, der sich von hinten angeschlichen hatte, verdammt, dachte sie, warum machte sie jetzt diesen Fehler, und gerade als Xavi die Pistole hob und zielte, reagierte Carlos, zog Chiara genau vor seinen Kopf und wandte sich um, er schien nicht mal zu zielen, er drückte nur ab, ein Mal, der Schuss wurde von den Felsen zurückgeworfen und hallte über den Strand, und dann ging Xavi zu Boden, sein Schrei ein Fanal.

»Xavi«, schrie Zoë, Chiara schrie auf, sie schrie, sie weinte, und Zuffa stand einfach da, die Waffe wieder an sie gepresst.

»Geh mir aus dem Weg«, schrie er. Und Zoë, die Chiara nun hätte retten können, indem sie Zuffa einfach eine Kugel in den Kopf jagte, mit all der Genauigkeit und Präzision, zu der sie fähig war wie sonst keiner, den sie kannte, konnte in diesem Moment nur denken: Nicht auch noch Xavi – er durfte nicht sterben –, sie konnte nicht schon wieder jemanden verlieren, den sie liebte. Nicht Xavi, nicht Xavi. Nein.

Sie gab ihren Platz auf, senkte die Waffe und rannte los, auf ihn zu. In ihrem Rücken zog Zuffa Chiara mit sich, die immer noch schrie. »Zoë«, schrie sie, »Zoë.«

Sie drehte sich um, sah sie nur noch von hinten, sie bogen in den kleinen Weg ein, der zu dem Parkplatz führte, dann waren sie verschwunden. Sie aber war bei Xavi, kniete sich zu ihm, er war ganz blass, das Blut kam aus dem Bauch, eine klaffende Wunde, es strömte daraus hervor, sie beugte sich zu ihm, flüsterte: »Xavi, alles gut, Xavi, bleib bei mir.«

Sie nahm das Handy aus der Tasche, wählte ihre Nummer, schrie: »Wir hatten sie fast, am Strand von Cap Camarat, aber nun hat er Xavi angeschossen. Schick uns Hilfe, bitte.«

Und Zara, am anderen Ende, sagte etwas, schnell und planvoll, es hatte Zoë immer aufgeregt, diese Kühle ihrer Schwester, nun aber half ihr dieser Ton, sie wurde ruhiger, drückte auf die Wunde, zog ihre Jacke aus und ihr weißes Trägertop und stopfte es auf die Wunde, presste mit aller Kraft darauf, er war bewusstlos, ansonsten wäre er vor Schmerzen verrückt geworden.

Zara, die einzigartige Zara.

Nach nicht mal zehn Minuten hörte Zoë das Geräusch des Helikopters, nach weiteren zwanzig Sekunden sah sie ihn auch, er setzte zur Landung auf dem Strand an, sie winkte wie wild mit den Armen, sie sah die Aufschrift »Gendarmerie«, sie würden ihn retten. Kurz bevor er aufsetzte, nahm sie die Waffe, die neben Xavi lag, dann durchsuchte sie seine Tasche nach seiner Geldbörse, sie fand keine, er war immer noch ein Profi. Sie nahm seine Pistole, versteckte sie, genau wie ihre eigene, in ihrer Hose, dann rannte sie los, weg vom Strand, in die Richtung, die Carlos Zuffa genommen hatte. Sein Bus war längst weg, wohin auch immer. Sie versteckte sich in Reichweite des Leuchtturms und wartete, bis der Hubschrauber nach Minuten wieder aufstieg und nach Osten bog, in Richtung Nizza. Er war nicht gestorben, Xavi lebte. Sonst wären sie nicht so schnell wieder abgeflogen.