Cagnes-sur-Mer, Côte d’Azur, Frankreich
S ie erwachte von Stimmen vor ihrem Fenster. Nur langsam öffnete sie die von der Schminke verklebten Augen, seit dem Berghain hatte sie nicht mehr geduscht. Sie stank, fand sie. Langsam sah sie sich um. Er hatte sie am Mittag in das Haus geführt, das einem Schloss glich. Sie hatte niemanden gesehen. Es ging endlos die alte Treppe aus Holz hinauf, jeder Schritt knarzte. Dann war sie in den Raum gekommen, er hatte hinter ihr die Tür zugemacht, sie hatte sich auf das Himmelbett gelegt und war sofort eingeschlafen.
Die Angst machte sie dermaßen müde.
Nun sah sie sich um. Das Fenster stand offen, von draußen wehte frische Luft herein. Von dort kamen die Stimmen. Sie stand auf und ging die paar Schritte bis zu dem kleinen Fenster in der dicken Steinwand. Sie konnte gerade so den Kopf hinausstrecken. Es ging tief hinab, sicher zwanzig oder dreißig Meter. Die Menschen, die sie gehört hatte, waren offenbar die letzten Gäste auf der Terrasse des Restaurants auf dem Dorfplatz. Sie sah nur die offenen Sonnenschirme, und sie hörte das Lachen. Wie gern sie jetzt da unten sitzen würde.
In der Ferne sah sie das Mittelmeer, tief unten am Ende des abfallenden Berges. Eine endlose hellblaue Fläche.
Sie hatten sie ins Turmzimmer gesperrt. Herrgott, was wollten sie von ihr? Sie ging zurück zum Bett, legte sich hin und dachte nach.
Natürlich war sie ein Ziel, sie hatte nie etwas anderes angenommen. Ihr Vater war der größte Mafiaboss Frankreichs, er hatte mehr Feinde als der Staatspräsident – und das war eine echte Kunst. Doch dass sie sie in Berlin gefunden hatten, überraschte sie. Sie studierte nun schon zwei Jahre dort, in absoluter Vertraulichkeit, unter anderem Namen. Dass sie in den angesagtesten Techno-Klub der Welt ging, wusste nicht mal ihr Vater. Dass dieser Typ ihr dort aufgelauert hatte, hieß, dass sie exzellent vorbereitet waren. Und das wiederum sprach dagegen, dass sie Geld wollten. Sie wollten etwas anderes. Es durchfuhr sie: Sie wollten ihren Vater. Seine Macht. Sein Geschäft. Die Angst ergriff sie, und sie rollte sich zusammen wie ein Embryo. Denn die Erkenntnis war elementar: Egal, was sie wollten – sie würden es nicht bekommen. Benito Bolatelli verhandelte nicht. Niemals. Er war zwar alt geworden – und sicher nicht mehr auf dem Höhepunkt seiner Macht –, doch jetzt aufzugeben, wäre das Eingeständnis, dass seine Zeit abgelaufen war. Da könnte er auch gleich die Waffe gegen sich selbst richten.
Chiara hegte keinen Zweifel daran, dass er sie opfern würde, um seine Macht zu erhalten. Seinen Reichtum.
Langsam beruhigte sich ihr Atem. Die Erkenntnis, dass sie ohne ihn auskommen musste, hatte sie beruhigt. Weil die nächsten Schritte alternativlos waren. Sie durfte nicht auf ihn warten. Sie musste hier aus eigener Kraft rauskommen. Und dafür musste sie mehr erfahren.
Sie richtete sich wieder auf und stellte die Beine auf den Boden. Das Parkett knarzte auch in diesem Raum ganz oben. Sie würde vorsichtig sein müssen.
Chiara Bolatelli erhob sich und ging leise zur Tür. Sie war fest davon überzeugt, dass sie verschlossen war, doch als sie die Klinke leise herunterdrückte, sprang sie geräuschlos auf. Sie hatten sie nicht eingesperrt.
Der Flur vor der Tür war winzig, sie war wirklich ganz oben in dem Château, die Treppe führte nur noch hinab, in eine düstere Tiefe. In diesem Flur war es, als wäre längst Nacht und nicht helllichter Tag. Das Haus schien in tiefer Siesta zu liegen. Sie nahm eine Stufe nach der anderen, hielt immer wieder inne, um zu lauschen, ob sie ein Geräusch hören würde, jemanden, der nach ihr sah, der gleich die Waffe auf sie richten würde – oder Schlimmeres.
Sie musste zugeben, dass sie keine Angst hatte zu sterben – auch wenn sie es nicht wollte. Aber sie hatte pure Angst davor, dass sie ihr Gewalt antaten, sie sogar vergewaltigten.
Doch sie vernahm nichts, da war niemand. Sie stieg eine Etage hinab, dann noch eine, überall waren Türen, doch sie wollte es nicht riskieren, ins Schlafzimmer des Entführers zu treten.
Irgendwo unter ihr sah sie einen Lichtschein.
Sie nahm Stufe um Stufe, eine weitere Etage, da war es, das Licht unter der Tür. Viel zu laut, da war sie sich sicher, dachte sie, jeder Schritt tönte in ihren Ohren wie ein Knall. Sie lauschte an der Tür, da war ein Rasseln, ein mechanisches Geräusch, wie ein Pumpen.
Sie drückte gegen das Holz, die Tür war nur angelehnt, sie glitt auf, die Fenster waren alle geschlossen, der Raum war von zwei Nachtlichtern beleuchtet, hinter einem durchsichtigen Vorhang stand das Bett wie auf einer Intensivstation. Der Mann darin war an Maschinen angeschlossen, sie kannte sie alle beim Namen: Da waren eine Herz-Lungen-Maschine, der Messer für die Vitalwerte, daneben eine Dialysemaschine. Nur neue Geräte. Es musste Unsummen gekostet haben, sie hätte sich gewünscht, dass das Krankenhaus auf Korsika so ausgestattet wäre.
Sie trat langsam näher. Ob der Mann schlief oder wachte, war nicht zu sagen. Sein Atem war rasselnd, aber es war ja auch der Atem der Maschine, nicht sein eigener. Der Schlauch im Mund, die Kanülen in den Armen, die bleiche Haut. Sie hätte ihn beinahe nicht erkannt. Aber nun, da sie genau neben ihm stand, sah sie, wen sie da vor sich hatte. Das Geräusch hinter ihr ließ ihr Herz aussetzen.