Zoë

Hafenviertel, Marseille, Provence, Frankreich

D ie ganze Fahrt über hatte sie sich kopflos gefühlt, wütend, traurig, verloren sogar. Wie hatte sie es so weit kommen lassen können? Nach der großen Trauer um ihren Papa hatte sie sich endlich wieder berappelt, hatte angefangen, ihr Leben in dem Strandort ein wenig genießen zu können. Doch nun steckte sie inmitten eines neuen Wahnsinns, der schon ein Opfer gefordert hatte. Xavi lebte, immerhin. Aber er wäre fast gestorben.

Vielleicht wäre es besser, hatte sie gedacht, während sie auf der fast leeren Autoroute von Nizza aus hierher gerast war, wenn sie sich von aller Welt fernhielt, besonders aber von den wenigen Menschen, die ihr etwas bedeuteten. Sie brachte alle in Gefahr, so war es schlicht und einfach.

Doch nun hatte sie auf dem Boulevard Garibaldi geparkt und war ins Dickicht der kleinen Gassen der Marseiller Altstadt gelaufen, und sofort hatte sie dieses Gefühl erfasst, welches diese Stadt immer in ihr auslöste: eine Ruhe, ein Gefühl von Heimat, aber auch diese Lebenseinstellung, die den Provenzalen wie wenig anderen Menschen zu eigen war: Das Leben war hart, es gab nichts geschenkt – aber hey, sie lebten in der wohl schönsten Region der Welt, und irgendwie ging es weiter, mit ein wenig Härte, aber mit ganz viel Herz.

Sie ging durch die kleine Rue du Marché des Capucins und betrachtete die Männer hinter ihren Fischständen, ihre alten, sonnengegerbten Gesichter, die verkniffenen Mienen, die Vorsicht, aber auch die Freude, wenn sie in der Masse von Menschen ein vertrautes Wesen entdeckt hatten. Sie musste lächeln über diesen Anblick, den sie so sehr liebte. Sie sah, wie das Eis von den großen Markttischen auf die Straße tropfte und im Rinnstein versickerte, sah die aufgerissenen Münder der Drachenköpfe, die auf die Straße ragenden Schwerter der espadons, all die Doraden und Tintenfische und Rotbarben, die darauf warteten, in Tüten verpackt und in kleine alte Wohnungen getragen zu werden, wo sie arabische Frauen mit Ras el-Hanout und Couscous zubereiteten.

Es war ein Gewirr von erzählenden Stimmen und von litaneihaften Rufen, ein Verhandeln um den besten Preis für Händler und Kunde, ein Singsang aus tausend Kehlen, Französisch, Persisch, Arabisch, Farsi, nur wenige westliche Touristen waren hier, die meisten kauften ihre teureren und älteren Fische an den Touristenständen unten am Hafen oder gingen gleich in eines der nobel übertünchten Restaurants an den Quais.

Sie hatte immer penibel darauf geachtet, dass niemand wusste, wie sie aussah, dass es weder bei den Verbrechern noch bei der Polizei Fotos von ihr gab, keine aktuellen zumindest. Und nun war sie schon so lange drüben in Italien, dass nur noch ihr Ruf geblieben war, die meisten Legendengeschichten, die von ihr handelten, waren schon fünf Jahre alt.

Deshalb war es kein Problem, hier umherzulaufen. Niemand würde sie finden, aber sie würde die finden, die sie suchte.

Sie wich auf die ruhigere Rue Pavillon aus und strebte weiter in Richtung Westen, in Richtung Hafen. Als sie das Ende der Straße erreichte, tat sich das Panorama des Vieux Port vor ihr auf: der Fischmarkt für die Touristen, genau wie das überdimensionierte Schattendach von Sir Norman Foster, das die Stadtoberen genau an die Promenade gesetzt hatten, um die, die auf Schiff und Bus warteten, vor der erbarmungslosen Sommersonne zu schützen. Vor ihr wartete die Fähre zum Hafen von l’Estaque auf Gäste und die zum Château d’If, der geheimnisvollen Gefängnisinsel des Grafen von Monte Christo.

Sie wandte sich um und betrachtete all die pastellgelben Gebäude hinter ihr, die sie sich wieder in Italien wähnen ließen, die strahlend weiße Kirche von Saint-Férreol-les-Augustins, dann ging sie nach links zum Quai de Rive Neuve.

Sie würde die Anlegestelle nie vergessen. Ganz einfach, weil sie seine Idee so genial gefunden hatte. Steg 3 , Nummer 463 .

Es war malerisch: auf der Linken die Terrassen der Cafés, die Sonnenschirme, die hölzernen Tische, die bezogenen Stühle mit dem Rohrgeflecht. Früher waren das die Herbergen für den Feierabend der Fischer, nun saßen hier die Touristen, doch immer noch reservierten sich die Arbeiter und Seeleute ihren Platz an der Bar, wo der café serré ein Viertel vom normalen Preis kostete.

In der Mitte verlief die Straße, früher eine rumpelige Piste, heute eine glänzende Promenade, belegt mit glatten Steinen, auf der die Autos und Busse nur noch in Schrittgeschwindigkeit fahren durften. Und gleich rechts daneben schloss der Fußweg an, der direkt zu den Stegen führte, eine lange Reihe von einem ganzen Kilometer, auf beiden Seiten des Hafens, Steg an Steg, an jedem lagen Hunderte Boote, weiße Jachten, kleine bunte Fischerboote. Sie öffnete die Tür zu Steg Nummer 3 , eine kleine weiße Metalltür, und betrat den Holzsteg, der unter ihr ein wenig vibrierte, bei jedem Schritt, ein angenehmes Gefühl, beinahe ein Wiegen.

Die Nummern der Bootsanleger standen auf kleinen Platten auf dem Steg, sie arbeitete sich nach vorne, bis ganz kurz vor der Wasserkante. Da war Nummer 463 . Sie wunderte sich, seit dem letzten Mal hatte er sich verändert. Er sah sie und fing sofort an zu lachen.

»Welch hoher Besuch.«

»Du hast dich aber vergrößert, Abdul.«

»Ach, weißt du, es war doch etwas zu wenig Platz für meine Körperfülle.«

Es stimmte. Er hatte nicht nur ein größeres Boot besorgt, eine kleine Jacht sogar, weiß und sicher über sechzehn, siebzehn Meter lang, mit einem Holzdeck und einer Kabine, von der aus eine Treppe nach unten in den Schiffskörper führte. Auch er selbst hatte ordentlich zugelegt, sein brauner Bauch spannte über den kurzen Shorts, er schrubbte gerade das Deck, deshalb hatte er sich obenrum frei gemacht, so schien ihr, doch ihm war es nicht die Spur peinlich. Sie kannten sich schon zu lange. Er sah gut aus, das hätte sie sagen sollen, dachte sie, weil es stimmte: Er sah gut aus, so, als hätte er ein gutes Leben.

»Das Leben auf dem Wasser bekommt dir.«

»Solltest du auch mal probieren«, gab er zurück, doch dann sah er gleich betreten drein. »Sorry, so meinte ich es nicht. Nur, weil ich gehört habe, was alles passiert ist.«

»Schon gut, Abdul. Es war wirklich kein gutes Jahr.«

»Komm, nun komm schon.«

Er reichte ihr die Hand, und sie ergriff sie und ließ sich von ihm an Bord ziehen. Von keinem anderen Mann hätte sie derlei Hilfe akzeptiert, außer von Xavi. Und eben von Abdul.

»Hältst du immer noch die Füße still?«

Es war sein Plan gewesen, so einfach wie genial. Nach ihren letzten gemeinsamen Drogengeschäften waren ihm die Bullen reichlich nahe gekommen. Also hatte sich Abdul mit Zoës Hilfe ein kleines Fischerboot gekauft und lieferte den Fisch – beinahe ausschließlich für das Restaurant von Zoës Vater. Auch Maman hatte den Großhändler aus Marseille ohne weitere Nachfragen akzeptiert. Im Sommer brauchte die Gastronomie am Strand so viel Fisch, dass der Maghrebiner manchmal gar nicht hinterherkam, im Winter, wenn Chez Fred geschlossen war, machte Abdul Urlaub in der Heimat.

Es war einträglich – und er konnte es so lange ehrlich betreiben, bis die Hafenpolizei nicht mehr ständig sein Boot und die Lagerhalle draußen in Castellane durchsuchte. Wenn es so weit war, in ein bis zwei Jahren nämlich, könnte er sein altes Geschäftsmodell wiederaufnehmen. Wenn er denn wollte.

Sie versank für einen Moment in dieser Szenerie, die Boote, die durch die sanften Wellenbewegungen hin und her schwankten, die Masten und Leinen, die aneinanderstießen und dieses charakteristische Klacken verursachten, der Geruch nach Schiffsdiesel und Fisch und die Brise, die vom offenen Meer in den alten Hafen drückte. Hier waren es nur kleine Boote, die Fischer, die Segler, die Reichen – während einige Kilometer nördlich von hier die großen Kähne anlegten, die Containerschiffe, die Kreuzfahrtriesen, die Tanker, die aus allen Weltmeeren im wichtigsten Hafen des Landes anlandeten. Es war eine Industriezone sondergleichen, ein Lärm und ein Schmutz herrschten dort, wo die Vororte wie La Castellane in Sichtweite lagen.

»Na, hier und da mache ich wieder ein paar kleine Dinger, aber nur so viel, dass die Bullen mir abnehmen würden, es wäre zum Eigenbedarf. Es ist noch zu früh für große Dinger.«

»Und wenn ich dich für ein Ding bräuchte, das so groß ist, dass es für immer reicht?«

»Für mein für immer oder für dein für immer? «

»Was meinst du?«

»Siehst du, du hattest immer das neueste Motorrad, das beste Essen, und ich will nicht wissen, in was für einer Hütte du wohnst. Mir reicht es, einfach und zufrieden zu sein. Aber wenn ich noch einmal ein dickes Ding drehe, dann brauche ich dein für immer . Dann muss es wirklich dafür reichen, dass ich für immer von hier verschwinden kann. Und auch noch die Kohle habe, genug Bullen zu schmieren, dass sie nie wieder nach mir suchen werden.«

»So ein Ding wäre das.«

Er setzte sich auf die Bank an Deck und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Puuh, Zoë, du schaffst mich. Was ist es?«

Sie erzählte es ihm.

Er wurde erst blass, dann dunkelrot im Gesicht, und sein Atem ging schwer.

»Und da kommst du zu mir?«

»Ich wüsste nicht, zu wem sonst.«

»Was ist mit Xavi?«

Sie trat nervös von einem Bein aufs andere. Er erwischte sie immer. »Er war mit im Boot. Aber es hat ihn gestern erwischt.«

»Was? Wie erwischt? «

»Man hat ihn angeschossen. Wir haben ein Problem gehabt, mit einem, der auch auf den Transport aus ist.«

»Wie geht es ihm?«

»Besser. Er liegt im Krankenhaus.«

Er schlug sich mit der Hand an den Kopf.

»Verdammt, Zoë. Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Doch, das ist es. Der Preis ist hoch. Aber der Gewinn ist höher.«

»Was ist mit dem, der auf Xavi geschossen hat?«

»Ich kriege ihn.«

»Er lebt also?«

»Noch.«

»Wer ist es?«

»Weiß ich nicht.« Die Lüge musste sein. Er würde nie mitmachen, wenn er wüsste, wer der andere war.

»Okay. Was brauchst du, Zoë?«

Sie blickte auf, als überlege sie, doch sie beobachtete in Wahrheit das riesige Boot, diese Jacht, die eben aus dem offenen Meer in den alten Hafen der Stadt einscherte. Es war, als würden alle Blicke von der Energie dieser Jacht angezogen, sie war so lang wie die, die ständig in den Glamourzeitschriften abgebildet waren, irgendwelche Oligarchen-Kähne. Sie sah niemanden an Deck, sicher standen sie alle hinter der verspiegelten Brücke und passten auf, dass der spitze Rumpf des Bootes nicht gegen irgendein Hindernis fuhr. Sie sah den Namen Prince Oriental, sie sah die Flagge am Heck, der rote Balken vertikal, der grüne, weiße und schwarze horizontal – die Vereinigten Arabischen Emirate. Es konnte kein Zweifel sein. Überpünktlich, sie waren überpünktlich.

»Männer. Waffen. Eine Truppe, die mich absichert.«

»Wie lange Vorlauf habe ich? Ich denke, ich brauche eine gute Woche.«

»Der Transport ist heute Nacht.«

Die Überraschung auf seinem Gesicht hätte nicht größer sein können. Sein Mund verzog sich nach einer Weile, und er fiel in ein Lachen ein, das ein wenig verrückt klang.

»Du verarschst mich wirklich bei so einer Sache? Ach, Zoë, du bist wirklich unverbesserlich. Machst dich über mich lustig …«

»Es ist kein Scherz, leider.«

»Heute Nacht? Sieben Stunden Vorbereitung für den größten Bruch seit dem Postraub von 1963

Seine großen Augen würde sie nicht mehr vergessen – und hinterher schwor sie, dass er in diesem Moment das Vertrauen in sie verloren hatte. Und dennoch war da dieses Glühen, als hätte sie noch einmal den Pioniergeist in ihm geweckt, das Unmögliche möglich werden zu lassen.

»Schaffst du das?«

»Nein, verdammt. Es ist nicht zu schaffen.«

»Machst du es trotzdem? Mit dem, was du bis dahin auftreiben kannst?«

»Du musst mir alles ganz genau erklären. Jede Einzelheit. Minute für Minute.«

»Das werde ich.«

»Wo wirst du sein?«

»Auf dem Transport.«