Saint-Laurent-du-Var, Côte d’Azur, Frankreich
Sechs Jahre zuvor
E r trat hinaus auf den Balkon, weil er sich immer noch nicht sattsehen konnte an seiner neuen Heimat. Vor den Fenstern gab es nur noch eine schmale Promenade, und dann begann schon der Strand, schlugen die Wellen des Mittelmeeres auf die Kiesel des Plage Goélands. Die Flugzeuge, die zum Landen auf dem Aéroport Nice Côte d’Azur ansetzten, flogen hier schon so tief, dass man meinte, sie berühren zu können, und jeder, der in Nizza ankam, sah schon vorher sein Haus, gesäumt von den Palmen vor der Tür. Er war so froh, diese Wohnung gekauft zu haben, die allen Besuchern gleich zeigte, dass sie mit einem standesgemäßen Mann verhandelten. Es war der Anfang – und es war wichtig, um hier im alten Europa Fuß zu fassen.
Die Anlage war ganz neu gebaut worden, es war der luxuriöseste Apartmentblock an der ganzen Côte. Zwei sichelförmige Häuser, die gebaut waren wie Kreuzfahrtschiffe, mit Balkonen, die sich übereinanderschoben, sodass jeder Besitzer einen unverbauten Meerblick genoss. Hier lebten keine Franzosen, nur Russen, Chinesen, Amerikaner. Und er. Der erste Mann vom Golf. Er hatte es geschafft. Und wusste dennoch, dass er noch einen weiten Weg zu gehen hatte. Die ersten Monate waren erfolgreich gewesen. Und doch hatte er erst einen Bruchteil der Geschäfte an Land gezogen, die er brauchte, um die Macht des Paten zu brechen. Er wollte alles, den ganzen Kuchen.
Dafür war er bereit, alles zu tun. Die Preise kaputt zu machen, mit dem billigen Koks, das er in einer extra gebauten Fabrik drüben in der Sahara so lang strecken ließ, bis der Stoff zwar wahnsinnig dreckig war, dafür aber knallte, wie es die Feierwütigen hier unten noch nicht erlebt hatten. Er würde Prostituierte aus Afrika holen, die den Markt überschwemmten, sodass die Klubs des Paten am langen Arm verhungern würden. Und er würde über Leichen gehen, er würde es müssen, er hatte gar keine andere Wahl.
Es lief gut, sehr gut sogar. Shokran Al-Hamsi hatte viel gearbeitet, aber er hatte auch die Zeit genutzt, um sein europäisches Leben richtig zu beginnen, mit allem, was dazugehörte, mit allem, was drüben in Katar nicht möglich war.
So besann er sich und wandte sich wieder um, ging durch die riesige Tür in der Glasfront zurück ins offene Wohnzimmer, das direkt ins Schlafzimmer überging.
Nächste Woche würde Silas kommen, er hatte noch Probleme mit dem Visum gehabt, aber dann würden sie gemeinsam durchstarten. Doch der junge Gast würde nur bis zu dem Tag von Silas Ankunft hier wohnen dürfen. Nicht einmal sein Bruder wusste von Shokrans wahren Gelüsten.
Er ging zu dem Bett und betrachtete die schlafende Gestalt, seinen dunklen Rücken, die wilden braunen Locken, den muskulösen Rücken, den festen Po. Letzte Nacht, als sie sich aneinander abreagiert hatten, waren sie noch lange wach geblieben, Arm in Arm, hatten die Flugzeuge beobachtet und nicht miteinander gesprochen. Shokran war überzeugt, noch nie so etwas gefühlt zu haben.
Klar, es gab viele Schwule am Golf, aber niemand sprach darüber, und für einen Mann in seiner Stellung war es fast unmöglich, dergleichen auszuleben, ohne dass seine Familie ihn verstieß.
Er stieg ins Bett und kuschelte sich an den Rücken des jungen Mannes, der zu stöhnen begann und dessen Hand nach Shokrans Geschlecht zu suchen begann. Er hielt sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf, das gefiel Shokran. Doch gestern Nacht war es besonders heftig gewesen, er war ein regelrechtes Raubtier gewesen, hatte gekratzt und gebissen, er war so leidenschaftlich, doch als Shokran ihn gefragt hatte, was los sei, hatte er nichts sagen wollen.
»Halt, Rémy, warte«, sagte er nun und schob die Hand des Jungen von seinem Schwanz, hielt sie jedoch fest. »Wir müssen erst noch etwas klären.«
Er hatte keine Ahnung, wie alt Rémy Zuffa genau war, er schätzte ihn auf Mitte, Ende zwanzig. Die hohen Wangenknochen, die Locken, der ganze Körper, all das hatte ihn vom ersten Tag ihres Kennenlernens an in einer Bar in Nizza sofort gereizt.
»Erzähl«, sagte Rémy.
»Du willst es immer noch?«
»Für euch arbeiten? Klar.«
»Darauf hatte ich gehofft. Weil wir uns dann noch öfter sehen können.«
»Das würde ich sehr gern. Ich liebe es, mit dir zusammen zu sein.
Shokran Al-Hamsi musste die Rührung über diese Worte gut verstecken, er schwor sich, diesen Satz in sich einzuschließen und ihn nicht mehr zu vergessen.
»Pass auf, wir planen nächste Woche eine große Sache in Saint-Tropez. Ein Bruch, der von uns reden macht. Es ist ein Freund und Financier des Paten, der in seiner Villa große Mengen Bargeld und Schmuck hat. Wir wollen ihn ausnehmen wie einen Wolfsbarsch, wir wollen alles mitnehmen. Du kriegst zehn Prozent der Beute.«
»So viel? Für einen Anfänger? Wie viele Leute sind wir denn?«
»Vier Leute. Aber du musst keine Angst haben. Du hast erfahrene Männer an deiner Seite. Sie passen auf dich auf. Und: Ja, jeder kriegt das Gleiche. Ich habe gar nicht so viel Interesse an dem Geld. Ich will vielmehr ein Zeichen setzen: Wer mit dem Paten zusammenarbeitet, den haben wir ab sofort im Visier. Nur der, der mit uns arbeitet, wird sicher leben und seinen Reichtum mehren. Also, bist du dabei?«
»Ich bin dabei.«