Autoroute 7
, Rastplatz des Morières,
Provence, Frankreich
R astplatz und Tankpause in fünf Minuten. Vorhut und Nachhut schirmen ab. Alle verstanden?« De Trappiers Stimme über Funk klang so freundlich und beseelt, als sei er der Reiseführer auf einem Sonntagsausflug.
Zara zwang sich zur Ruhe. Sie durfte sich nichts anmerken lassen.
Zwischenzeitlich hatte sie gedacht, sie kämen von ihrem Plan ab. Sie hatten viel zu lange aus Paris hinaus gebraucht. Der Feierabendverkehr war wie stets eine Katastrophe gewesen, die ewige Baustelle an der Porte d’Orléans hatte ihr Übriges zu einer Ausweitung der Verzögerung getan. Als sie endlich auf der Autoroute 6 angekommen und die Hochhäuser der südlichen Banlieue hinter sich gelassen hatten, war die Stimmung in dem Lkw gewesen, wie sie stets war, wenn Franzosen Paris nur noch im Rückspiegel sehen: Es wurde tief durchgeatmet, und dann endlich fiel der Stress von allen ab, sie hatten gelächelt und geplaudert – und sogar Zara hatte mitgespielt, obwohl sie wusste, dass die größte Aufgabe noch vor ihr lag.
Mittlerweile war es zwei Minuten nach drei Uhr nachts. Der Polizist hatte vor zwei Stunden seine Jacke ausgezogen und sich unter den Kopf geklemmt, nach drei Minuten hatte sie nur noch sein rhythmisches Atmen gehört. Auch der Fahrer hatte vor einer halben Stunde mehrfach herzhaft gegähnt. Seitdem hatte sie ihn immer wieder argwöhnisch beobachtet – das hätte noch gefehlt: eine Stunde vor dem größten Raub durch Sekundenschlaf in der Leitplanke zu landen und dann zwei Jahre Reha-Urlaub auf Kosten der Banque de France.
Aber gut, lange würde sie das hier ja nicht mehr mitmachen müssen.
Die Autobahn war seit Stunden fast gänzlich leer, ab und zu überholte sie eine dunkle Limousine mit hoher Geschwindigkeit, noch seltener überholten sie irgendeinen belgischen Wohnwagen, der mit siebzig Stundenkilometern vor sich hin zuckelte. In der Ferne sah sie die roten und blauen Lichter der Raststätte, denen sie rasch näher kamen. Der Polizist neben ihr hatte sich wieder aufgerichtet, wuschelte sich durch die grauen Haare, dann legte er die Waffe ordentlich im Fußraum griffbereit. Noch eine Minute später setzte der Fahrer den Blinker und ließ den Wagen auf der rechten Spur auf den Parkplatz rollen, sie überholten die schwarze Limousine aus der Vorhut, dann hielten sie an einer der Zapfsäulen für Lkws. Neben ihnen stand ein dunkelgrüner Truck aus Spanien, laut der Aufschrift hatte er Orangen geladen.
»Eigentlich müsste der Sprit reichen«, sagte der Fahrer, »aber ich tanke lieber, nicht, dass wir ausgerechnet irgendwo vor Marseille stehen bleiben.«
»Gut, ich bleibe bei Ihnen«, sagte der Polizist. »Die große Flinte lass ich natürlich drinnen.«
»Das wäre gut. Eine Ballerei an der Zapfsäule wäre nicht zielführend«, antwortete der Fahrer grinsend.
Zara sah auf die Uhr, dann wandte sie sich um. Hoffentlich waren sie nicht zu früh. »Ich bleibe hier«, sagte sie.
Die Männer stiegen aus, der Polizist ging um die Kabine herum und sicherte das Fahrzeug von vorne ab, während der Fahrer den Tankdeckel aufschraubte und der Diesel hörbar in den Tank lief. Immer wieder sah sie sich um, doch sie entdeckte niemanden. Es durfte nicht schiefgehen. Sie genoss die Einsamkeit in der Kabine, nur für eine Minute die eigenen Gedanken sammeln.
Sie beobachtete, wie der Polizist hineinging, um zu bezahlen. In diesem Moment sah sie den einsamen Scheinwerfer hinter sich aus dem Dunkel auftauchen, dann hörte sie das schwere Röhren, und ihr war bewusst, dass sich alle Augen in der Limousine und in dem VW -Bus auf dieses Gefährt richten würden. Es war die größte Gefahr.
Der Fahrer des Motorrades stieg ab und ging zielstrebig auf die Raststätte zu, behielt den Helm aber auf, bis er in diesem hell erleuchteten Glaskasten verschwand. Sie sah den Polizisten wieder herauskommen, er hielt eine Dose mit einem Energydrink in der Hand und einige Schokoriegel. Er stieg pfeifend wieder ein, auch der Fahrer hatte einige Meter von der Zapfsäule entfernt seine Zigarette ausgedrückt und kam wieder auf den Lkw zu.
»So, dann kann es ja weitergehen.«
»Hm«, sagte Zara zögernd, »tut mir ja leid, aber jetzt muss ich irgendwie doch mal auf die Toilette.«
Die beiden Männer sahen sie belustigt an, dann winkte der Polizist mit der Hand. »Na, dann mal los.«
Er drehte sich zur Seite weg und öffnete die Tür, sodass sie an ihm vorbeiklettern konnte, dann stand sie draußen in der dunklen Nacht und atmete die kühle Luft. Zielstrebig ging sie auf das Gebäude zu, die Schiebetür öffnete sich, und dann durchmaß sie mit schnellem Schritt diesen Prototyp einer Raststätte, der von Lille bis Nizza gleich aussah: die Selbstbedienungsautomaten für Kaffee links an der Wand, das Sammelsurium von Reisebedarf bis zu fertigen Sandwiches in den Tiefkühltruhen zur Rechten, die Bedienungstheke für Sandwiches und Kaffee für jene, die mit den Automaten nicht klarkamen, und – weiter hinten – die Sanitäreinrichtungen. Darauf steuerte sie zu, erst kamen die Männer, dann die Frauen, sie trat ein, weiße Fliesen, weiße Waschbecken, die Spiegel in dem fahlen Neonlicht. Sie ging schnurtracks durch den Raum und machte alles, wie sie es besprochen hatten. Die dritte Tür auf der rechten Seite, ein schmales Brett aus Sperrholz, sie griff nach dem schwarzen Hebel und öffnete sie. Und da – stand sie selbst. Wieder einmal. Und auf einmal hatte sie dieses unglaubliche Verlangen danach, ihren jüngeren Zwilling in den Arm zu nehmen, sie wollte sogar lächeln, weil sie sich wirklich freute, oder war es die Anspannung? Doch sie hielt sich zurück, setzte ihre professionelle Miene auf und sagte: »Ich dachte, du bist zu spät.«
Und Zoë, die sie gar nicht richtig ansah, sondern die sich auf die rechte Seite der engen Kabine drückte, während sich zwischen ihnen nur die weiße Toilette befand, sagte: »Ja, ich musste so weit auf der Autobahn zurückfahren, um die Richtung zu wechseln.«
»Aber nun ist ja alles gut«, sagte Zara und ärgerte sich über den relativierenden, nichtssagenden Satz. Sie betrachtete die andere, sie hatten es bis ins Detail besprochen, die Haarlänge, Zara hatte in Berlin noch zwei Zentimeter abschneiden lassen müssen, die Haare zu einem Zopf gebunden, Zopfgummi in Hellbraun, die schwarze Jeans, das weiße T-Shirt, die schwarze Jacke aus leichtem Stoff.
»Gibt es etwas zu beachten? Irgendwelche Besonderheiten?«
»Ich habe auf dem Weg nicht viel gesagt. Der Fahrer und der Polizist sind beide sehr gesprächig.«
»Bei dir klingt das, als wären sie Schwätzer. Wahrscheinlich sind sie einfach nur gut gelaunt.«
»Das meinte ich. Und der Polizist sieht sehr gut aus.«
»Warum sagst du mir das?«
»Na, du fängst doch gerne was mit meinen Kollegen an.«
Zoë verzog keine Miene. »Sonst noch was?«
»Nichts. Viel Glück.«
Zoë hielt Zara den Helm hin, und die nahm ihn.
»Fahr mir die Maschine nicht kaputt.«
»Habt ihr eine Spur von dem Mädchen?«
»Ich hoffe, der Plan läuft glatt. Dann kriegen wir sie wieder. Das zumindest glaube ich den Al-Hamsis. Chiara ist denen doch völlig egal. Also, ich muss los. So lange kannst nicht mal du pinkeln.«
Sie öffnete die Tür, doch Zara fasste schnell nach ihrer Hand. Zoë war völlig überrascht und drehte sich abrupt um, als wolle sie angreifen, doch Zara sah sie nur sanft an. »Bitte, pass auf dich auf.«
Zoë nickte, dann ging sie, und Zara schloss schnell die Tür hinter ihr.