Isaakson

Autoroute 7 , Rastplatz des Morières,
Provence, Frankreich

I saakson kam eigentlich gut mit vielen Menschen klar, er fand sich sogar untypisch unterhaltsam für einen Mann, der aus einem kleinen Kaff kurz vor dem Polarkreis stammte. Bei Europol war er beliebt, weil er kollegial war und alle Mitarbeiter der Zentrale gleichbehandelte, egal, ob es sich um den Boss oder die Sekretärin handelte.

Doch die Fahrt in diesem VW -Bus war bis hierher die Hölle gewesen. Die beiden Bullen versuchten seit dem Start in Paris, sich mit einer Auswahl an Heldengeschichten zu übertrumpfen: Wer bei welcher Geiselnahme schneller zum Maschinengewehr gegriffen hatte, wer bei der Razzia in der Banlieue die Kids besser zusammengeschlagen hatte, wer die scharfe Kollegin von der Staatsanwaltschaft schneller rumbekommen hatte. Es war fürchterlich. Nach drei Stunden Fahrt war er so froh gewesen, bei Europol zu arbeiten, statt für eine durch und durch militarisierte Polizei wie die französische. Es schien, die Mitgliedstaaten schickten wirklich nur die smartesten Kollegen nach Den Haag. Ein Glück.

Er war jedenfalls froh, wenn dieser Einsatz in ein paar Stunden beendet war. Als sie vor fünf Minuten auf den Rastplatz gefahren waren, hatten die Bullen entgegen der Anweisung ihre Masken aufgesetzt und die Maschinenpistolen auf den Schoß genommen, so, als stünden sie nicht an einer Esso-Tankstelle im französischen Hinterland, sondern auf dem Marktplatz von Mogadischu. Er hingegen war ausgestiegen und hatte ein paar Meter neben dem Wagen an einen Zaun gepinkelt, der den Rastplatz von einem großen Feld trennte, das komplett im Dunkeln lag. Kurz bevor er wieder einsteigen wollte, hatte er das Rasseln der schweren Maschine gehört und sich leise die Marke aufgesagt, bevor er das Ungetüm gesehen hatte: Ducati Panigale V 4 Speciale .

Er hatte Motorräder immer geliebt. Wer fuhr auf solch einer Maschine durch die Nacht? Und warum? Er sah den Rennboliden vor der Raststätte scharf bremsen, sah den Fahrer absteigen und hineingehen, ohne sich umzudrehen.

Er kratzte sich am Kopf. Etwas stimmte hier nicht.

Dann tat sich etwas am Lkw. Die Tür öffnete sich wieder, obwohl sie schon geschlossen worden war. Zara stieg umständlich heraus. Was war da los? Er setzte sich wieder in den Bus, gerade machten sich die Bullen am Funk zu schaffen.

»Alles okay bei euch, Artur?«

»Alles bestens. Unsere Passagierin hat nur ’ne schwache Blase.«

»Typisch …«, murmelte der Beifahrerbulle im Bus.

»Funkdisziplin, Kollegen«, schalt de Trappier im Vorauskommando.

»Spießer«, murmelte der Fahrerbulle.

Isaakson aber starrte in die Dunkelheit. Nach Minuten sah er Zara wieder aus der Raststätte treten. Sie ging schnurstracks auf den Lkw zu und stieg ein. Er wusste nicht, was es war, was ihn ansprang, was ihn zusammenfahren ließ, was ihn so dermaßen an etwas erinnerte, als wäre er wieder in dem abgedunkelten Raum in dem Hotel in Südspanien, und als würde er sie spüren, ihre Haut, ihre Lippen, ihre Gestalt, die so geschmeidig und gleichzeitig gespannt war, wie er es noch nie bei einer Frau erlebt hatte. Er betrachtete, wie der Lkw den Motor anschaltete, die Rücklichter leuchteten tiefrot, dann wollten auch die Bullen anfahren.

»Nein, wir warten noch«, sagte er.

Der Beifahrer drehte sich zu ihm um.

»Verrückt geworden?«, fragte er schroff. »Wir müssen dranbleiben. Der Lkw hat kein GPS -Tracking. Wenn wir den verlieren.«

»Ich sage, wir warten noch«, entgegnete Isaakson. »Europol ist die übergeordnete Behörde für diesen Transport – und das ist ein Befehl.«

Die beiden Polizisten sahen sich durch die Masken an, dann zuckte der Fahrer mit den Schultern.

»Auf dein Risiko, Kollege.«

Die beiden auf den vorderen Sitzen sahen dem Lkw hinterher, der sich auf die Autobahn einfädelte, Isaakson aber beobachtete pausenlos den Eingang zur Raststätte. Es dauerte zwei oder drei Minuten, dann sah er die Gestalt durch die Schiebetür treten, sie trug wieder den Helm, der Gang war derselbe wie vorhin. An der Ducati blieb der Fahrer stehen, steckte nach kurzem Zögern den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um, drückte dann den Starterknopf, und der Motor röhrte los. Doch was dann geschah, war mehr als eigenartig. Zweimal ging der Fahrer um die Maschine herum, prüfte alles, dann nahm er den Lenker und hob sie vom Ständer, als prüfe er ihr Gewicht. Erst dann setzte er sich darauf, ruckte mehrfach auf dem Sitz herum, stellte das schwere Motorrad schließlich aufrecht. Es dauerte weitere vier Minuten, Isaakson hatte die Uhr des Busses im Blick, bis der Fahrer alle Einstellungen der Spiegel vorgenommen hatte und mehrfach vom Leerlauf in den ersten und offenbar versehentlich in den zweiten Gang geschaltet hatte. Erst dann mühte er sich mit dem Schleifpunkt ab, fuhr langsam an, bremste wieder, fuhr wieder an, bremste wieder. Dann erst beschleunigte er und fuhr nach Sekunden auf die Autobahn, allerdings nur mit etwa achtzig Stundenkilometern.

Es war unmöglich. Und war es doch nicht. Er wusste nicht, was hier geschehen war. Und wieso. In einem aber war sich Isaakson sicher: Das hier war nicht dieselbe Person, die die Maschine zehn Minuten früher mit hohem Tempo auf den Rastplatz gefahren hatte.

Er behielt seine Entdeckung für sich. Es war besser so.

»Fahren wir. Holen wir den Lkw ein.«

»Echt jetzt? Was haben wir hier gemacht?«

»Fahren wir«, wiederholte der Schwede.