Saint-Tropez, Provence, Frankreich
Sechs Jahre zuvor
E rst war es ein Kratzen an der Tür gewesen, wie von einer Katze, aber ihr war gleich klar gewesen, dass es jemand war, der nichts von Schlössern verstand. Nicht jeder hatte Xavis Erfahrung.
Sie hatte geflüstert: »Sie kommen.«
Carlos hatte aus der Ferne geantwortet: »Hier auch.«
Erst hatte sie gezögert, dann hatte sie es auch gehört. An der anderen Tür, der Hintertür. Grobere Geräusche.
Sie kamen von zwei Seiten.
Zoë schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft – sie füllte ihre Lungen ein letztes Mal komplett, für ihr Gehirn und dafür, dass sie gleich nicht mehr atmen musste, um beim Abgeben der Schüsse ganz ruhig zu sein. Sie sah links an der Kommode vorbei, hinter der sie sich verbarg. Sie hatten das Schloss immer noch nicht aufgekriegt. Amateure.
Sie biss sich voller Wucht in den kleinen Finger der Hand, die nicht die Waffe hielt, er war der empfindlichste. Es tat höllisch weh, aber sie gab keinen Mucks von sich. Sofort war sie absolut im Hier und Jetzt und nicht nur ihr Geist, sondern auch ihr Körper war durch den Schmerz voller Adrenalin.
Endlich, endlich hatten sie die Tür offen.
Wir warten, wonach sie suchen. Das war die Ansage gewesen.
Draußen war es immer noch ein kleines bisschen heller als drinnen, deshalb zeichneten sich die zwei Personen, die hereinschlichen, als dunkle Schatten im Flur ab. Es war eigentümlich, wie viel Lärm Menschen machten, die versuchten, besonders still zu sein. Was für Laien hatten die Al-Hamsis denn hier an Bord geholt?
Die beiden Gestalten schlichen durch den Flur und kamen immer näher, gingen hinein in den Salon, sie konnte sie atmen hören. Sie lugte wieder an der Kommode vorbei. Die beiden Männer trugen Masken, sie waren groß und massiv, beide. Nun richtete sich einer von ihnen auf und ging auf die Wand zu.
»Guck dir mal die Schlampe an«, flüsterte er, und sie hörte seine ganze Primitivität in dem einen Satz, »los, damit fangen wir an.« Er griff danach und hob das riesige Gemälde mit geradezu spielerischer Geste von seiner Wandaufhängung. Der andere holte etwas aus seiner Tasche, sie erkannte am metallischen Glanz das lange Messer. Er ging auf das Bild zu, während der andere auf das große Bücherregal zuging und anfing, die alten Werke, die garantiert nie gelesen wurden, mit beiden Händen aus dem Bord zu ziehen. Es machte einen Heidenlärm, genau wie der Mann, der mit lautem Ratschen das Bild zerschnitt. Sie hatten alle Vorsicht fahren lassen. Um das Bild war es wirklich nicht schade, dachte Zoë, so lange könnte sie noch warten. Sie versuchte, zu erlauschen, was Carlos nebenan tat – und der Mann, der bei ihm eingestiegen war. Doch es war absolut still in der Küche.
»Feuerchen?«, fragte der Mann, der bisher die Bücher bearbeitet hatte. Er zog ein kleines Fläschchen aus seiner Tasche und vergoss den Inhalt auf dem Fußboden. Nun war es genug. Zoë erhob sich, es ging sekundenschnell, und schoss, der Schalldämpfer verschluckte den Knall, es war nur ein Ploppen, kurz und wirkungsvoll. Die Maske des Riesen verbarg das Blut, aber sie wusste, wo sie getroffen hatte, etwas oberhalb der Augen, genau in der Mitte der Stirn, kein Schrei würde mehr seinen Mund verlassen, keine Chance. Er wurde nach hinten gerissen und fiel um wie ein Stein, und der andere, der gerade die letzten Schnitte an dem Bild vorgenommen hatte, fuhr herum, nestelte an seiner Hose herum, doch bevor er die Waffe zitternd gefunden hatte, schoss sie noch einmal. Das gleiche Ploppen, der Schuss in die Schläfe, er fiel auf die Seite, dann war Stille. Sie ging leise auf die beiden Leichen zu, sie wollte sehen, wer sie waren, man musste die Feinde kennen, auch die ehemaligen.
»Laif? Claude?«
Das Krachen der Bücher musste anders geklungen haben als das Geräusch der aufschlagenden Körper, die Stimme kam aus dem Nebenraum, und sie klang besorgt.
»Alles in Ordnung bei …«
Sie hatte sich zwei Jahre antrainiert, das Ploppen zu hören, auch des Nachts, auch aus weiter Entfernung, sie wusste, dass es eines Tages ihr Leben retten könnte – deshalb hörte sie es natürlich, sie wusste, aus welcher Richtung es kam, wusste, wessen Waffe es gewesen war. Und dann, nach einer Sekunde, hörte sie Carlos’ Stimme: »Drei von drei. Alle erledigt. Bastarde.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. Sie redete nicht gern schlecht über Menschen, die sie gerade getötet hatte. Sie nahm die Maske ab und ging in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Immer noch lag das Haus im Dunkeln, sie wunderte sich, wo Xavi war, im Türrahmen zur Küche blieb sie stehen. Carlos war über den Leichnam gebeugt, er wollte dem Mann eben die Maske abziehen, doch Zoës Blick wurde wie magisch von ihm abgezogen, und dann sah sie den Schatten, den zitternden Schatten, in der Hintertür des Hauses, er stand nur vier oder fünf Meter von Carlos entfernt, die Hand mit der Waffe war wie Espenlaub, sie visierte den maskierten Zuffa an, es gab einen vierten Mann, verdammt, und Zoë, wie elektrisiert, wie gebannt, rief: »Stopp, Carlos!«, und der Schatten fuhr auf, doch dann drehte sich Carlos um, bewegte sich schnell, und der Schatten bewegte sich auch, sie sah seinen Finger ab Abzug, er drückte ab, und sie drückte auch ab, im selben Moment, und die Kugel aus seiner Waffe war laut und ungedämpft, raste durch die Küche und schlug irgendwo in einem Schrank ein, es gab ein lautes Scheppern und Knallen, und irgendwo brach ein Brett zusammen, ihre schallgedämpfte Kugel aber ging direkt in seine Brust, sie hatte den Kopf treffen wollen, aber er hatte sich bewegt, sich aufgerichtet, in panischer Angst, und dann brach er zusammen, blutüberstömt, und Zoë und Carlos sahen sich an, er riss sich die Maske vom Kopf.
»Verdammt, danke, Zoë, was für ein Bastard«, stieß er hervor, und dann ging er auf den Mann zu, der nur noch röchelte, und irgendetwas an dem Röcheln ließ Carlos innehalten und sein Gesicht verziehen, und Zoë sah zu ihm, fragend, und dann, nach Sekunden, machte auch sie ein paar Schritte auf ihn zu, weil sie besser hören wollte, nein, weil sie die Worte nicht glauben konnte und sie erst wie durch einen Schleier verstand, »mon frère , mon frère«. Mein Bruder.
Sie kamen zeitgleich bei dem Mann an, dessen Blut über den Marmorboden lief und in den alten Steinritzen versickerte, der Boden war eiskalt, als sie sich hinkniete, ebenso wie Carlos neben ihr es tat, und er war es, der die Maske abnahm von dem verzerrten Gesicht, und sie, die Rémy Zuffa nur einmal in ihrem Leben gesehen hatte, bei einem Fest bei Carlos’ Familie, schloss sofort die Augen, und in ihrem leeren Kopf flimmerte es, und es war, als hätte sie sich selbst angeschossen, erschossen.
Sie sah Carlos dabei zu, wie er den Kopf seines Bruders in die Hand nahm und ihn hielt, er senkte seinen Kopf und küsste ihn und flüsterte: »Rémy, Rémy«, und sie selbst nahm ihre Hände und drückte fest auf seine Brust, sie zog ihre Jacke aus, wollte irgendetwas abbinden, doch sie sah das dunkle Blut, mehr und mehr, und sie wusste, dass da nichts zu retten war, nichts, nichts, doch Carlos fuhr herum, als er wieder hochkam, schlug ihre Hand weg und schrie: »Fass ihn nicht an, lass ihn los!« Er glühte, sein Gesicht hochrot, er zitterte, schrie: »Verschwinde, verschwinde«, und sie ließ den Körper los, ohne aber den Blick von seinem Gesicht lösen zu können, diesem fahlen Gesicht mit den bittenden Augen, diesem Gesicht eines Jungen, und sie stand auf und ging langsam rückwärts, ohne jedoch ihre Augen abzuwenden, die Anklage sollte für immer bleiben, die Anklage in Rémys Augen, und sie blieb an der Außentür stehen und sah genau den Moment, in dem Rémys Schmerz zu viel wurde und gleichzeitig verschwand, weil er sich auflöste, und sie sah Carlos, der zerbrach, genau jetzt, das letzte bisschen, das ihn noch zu einem Menschen gemacht hatte, zerbrach, und dann blickte sie hoch und sah Xavi, der an der Treppe stand und auf die ganze Szenerie blickte, und in seinem Blick fand sie nichts, nur Leere und Trauer, sonst nichts. Leise ging sie aus der Tür und verschwand in der Dunkelheit.