Zoë

Autoroute 7 , Rastplatz de Cabannes,
Provence, Frankreich

F ahren Sie rückwärts.«

»Aber da ist die Gehwegkante!«

»Das soll für Sie ein Problem sein?«

Serge legte den Rückwärtsgang ein, das Fahrzeug fing an zu piepen, dann setzte er zurück, holperte über die hohe Kante und ging gewissermaßen hinter der Toilette in Deckung. Zoë prüfte währenddessen den Puls des Polizisten. Er war schwach, aber er lebte. Nach ihrer Erfahrung sollte er mindestens noch zwanzig Minuten außer Gefecht sein. Das sollte reichen. Wenn sie dann noch nicht von hier verschwunden waren, waren sie ohnehin tot.

Sie wäre gern noch im Wagen sitzen geblieben. Sie hatte sich auf alles vorbereitet. Auf fast alles. Das Treffen mit ihm, darauf war sie doch nicht gefasst. Sie musste sich regelrecht einen Ruck geben. »Aussteigen«, befahl sie. Dann kletterte sie selbst aus der Kabine und ging vorne um den Lkw herum, Serge stand an seiner Tür und wusste nicht so recht, was er tun sollte.

»Kommen Sie, gehen wir. Nach hinten …«, sagte sie und wies ihm den Weg. Sie wollte ihn nicht mehr verängstigen, jetzt, wo alles glattging.

Er ging voran, sie hinterher, und als sie die Rückseite erreicht hatten, fummelte er schon in einer Kiste und befestigte das Zeug an der Ladebordwand.

Carlos .

»Carlos«, sagte sie leise.

»Pünktlich auf die Minute«, sagte er tonlos. »Los, hilf mir. Und du«, zischte er Serge an, »bleib da stehen und rühr dich nicht vom Fleck.«

Sie stellte sich neben ihn und half ihm, die Kabel an dem Sprengstoff zu verbinden. Sie überschlug die Menge, die sie anbrachten. Ja, das sollte locker reichen. Er hatte beide Seiten der Ladetür mit Sprengsätzen von je einem Kilo versehen, gerade brachte er die Zeitschaltuhr an und tippte mehrfach darauf herum. Gleich darauf zeigte sie: dreißig Sekunden.

»Alles bereit?«, fragte der Mann, den sie so sehr hasste, wie niemanden sonst auf dieser Welt. Sie nickte. Leise fragte sie: »Wo ist Chiara?«

»Nicht jetzt«, zischte er. Stattdessen drückte er den Knopf, und sie sah die Uhr herunterzählen. Carlos Zuffa aber rannte los, hinter das Klohäuschen. Sie packte Serge am Arm und zog den ängstlich dreinblickenden Mann mit sich.

»Bitte, tun Sie mir nichts«, presste er hervor, »ich werde nächstes Jahr Opa. Und meine Frau, ich will meine Frau wieder …«

»Ich habe gesagt, Ihnen passiert nichts. Oder etwa nicht?«, fragte sie. »Aber nun kommen Sie. Weg hier.«

Auch sie gingen in Sichtweite von Carlos hinter dem Haus aus Beton in Deckung, dann schrie Zoë, die im Kopf mitgezählt hatte: »Runter«.

Eine Sekunde später gab es einen Knall, einen enormen Krach, die Wände des Häuschens gerieten in Schwingung, eine Scheibe zerbarst, sie hörten Glas splittern. Die Druckwelle lief einmal um die Toilette herum, sie spürten die Kraft der Detonation. Carlos war zuerst wieder auf den Beinen. Er rannte zurück, Zoë folgte ihm, genau wie Serge.

Die Explosion war zielgenau gewesen: Die beiden Türen des Laderaums wurden nur noch von den Angeln gehalten, in der Mitte klaffte ein riesiges Loch. Auch das Touchpad war verkohlt, de Trappiers Handabdruck spielte nun keine Rolle mehr.

Sowohl Carlos als auch Zoë blieben einen Moment stehen, als sie erkannten, was da nackt, nur in etwas Folie verpackt, in dem Wagen war: die Goldbarren, fein säuberlich übereinandergeschichtet, deren Glanz sprichwörtlich die Nacht erhellte.

»Wie gehen wir vor?«

»Wir nehmen die Hälfte heraus und laden sie um. Das schaffen wir zu dritt in fünfzehn Minuten. Ich nehme den Bus mit der Hälfte, du nimmst den Lkw. Das Ziel ist eine Lagerhalle, gleich hier in Cavaillon. Dort warten wir ein paar Stunden, dann laden wir wieder um, verteilen das Gold auf vier Wagen, und dann sind wir auf und davon.«

»Und Chiara kommt frei.«

»Mach, was ich dir sage, dann kommt sie frei.«

»Wo ist sie?«

»Dort, wo du sie niemals befreien kannst.«

Er sah sie nur kurz an, dann trat er näher an den Lkw heran, nahm einen Trennschleifer aus seiner Tasche und fing an, das übrig gebliebene Blech herauszuschneiden. Die Funken sprühten, das Kreischen wurde von den Bäumen zurückgeworfen. Zoë und Serge sahen ihm zu. Nach einer Minute ließ er ab. »Los, umladen«, befahl er und öffnete die Hecktür seines Busses.

Zoë stieg hinein und nahm einen Barren, sie hatte das Gewicht des Goldes unterschätzt. Über zwölf Kilo für ein so kleines Stück Metall, es würde eine elende Bucklerei. Sie reichte Serge zwei Barren, und er ging zu dem Bus und reichte sie Carlos. Doch gerade, als der sie in den Laderaum des Busses betten wollte, hörte sie die Stimme: »Stehen bleiben, ihr seid verhaftet.«

Sie sah ihn erst, als er um die Ecke trat, er blutete aus seinem rechten Ohr und hielt seine Maschinenpistole im Anschlag, seine Augen waren angstgeweitet, Serge riss sofort seine Arme hoch und hielt sie ganz steif nach oben, Zoë ging an die Ladekante, doch in diesem Moment plärrte das Funkgerät: »De Trappier für Serge Clignancourt. Wo steckt ihr?«

Die Ablenkung war minimal, Artur wandte nur ganz leicht den Kopf ab, doch das reichte. Carlos ließ den rechten Barren fallen, dadurch war die Ablenkung fundamental, er riss die Waffe aus seiner Hose, wobei er den Vorteil hatte, voll bei Sinnen zu sein und nicht vor Kurzem in einer Lkw-Kabine zunächst bewusstlos geschlagen worden zu sein und dann eine TNT -Explosion überlebt zu haben. Er zielte in Sekundenbruchteilen, nur ein Schuss, sie sah, wie Arturs Körper zurückgerissen wurde, sah, wie der Polizist fiel und dann die Waffe auf ihm aufschlug und wie er leblos im Staub des Rastplatzes liegen blieb. Dann war Stille.