Rastplatz de Cabannes, Autoroute 7 , Provence, Frankreich
D u«, schrie Carlos, »komm hier rüber, raus aus dem Lkw. Weg von dem Gold.«
»Ich?« Serges Stimme klang aufgelöst, immer noch starrte er zu dem toten Artur im Staub hinüber.
»Du, raus da.«
»Ich …«
»Ein letztes Mal, raus da, sonst knall ich dich inmitten der Barren ab.«
»Lass ihn in Ruhe, Zuffa.«
Carlos sah um die Ecke zu ihr.
»Er stirbt, und zwar jetzt. Ich will keine weiteren Überraschungen. Von dem Bullen im Lkw hast du mir nichts gesagt. Raus da.«
Serge stieg langsam aus, sein Gesicht zu Boden gerichtet, seine Schultern hingen schlaff herunter. Das Urteil über ihn war gesprochen, so schien es. Zuffa hob seine Waffe und legte auf den Fahrer an. Doch Zoë zog ihre Pistole und sprang mit einem Satz durch das Loch in der Ladetür, stellte sich vor Serge und richtete ihre Waffe wiederum auf Carlos.
»Ich habe gesagt, du lässt ihn in Ruhe. Er wird nicht sterben.«
»Und was willst du mit ihm machen?«, fragte Zuffa und lachte höhnisch. »Meinst du, wir machen den größten Raub seit hundert Jahren, und er marschiert hier einfach von dannen? Und sagt den Bullen nichts? Bist du jetzt total durchgedreht? Ist der alte Sack jetzt dein Maskottchen? Du hast doch sonst kein Problem damit, Leute über den Haufen zu knallen.«
Er zielte, statt auf Serge nun auf Zoë.
»Oder erschießt du nur noch Verwandte von mir?«
»Du weißt, dass es zwischen uns nur noch darum geht.«
»Darum, dass du meinen Bruder erschossen hast?«
Sie hatte ihn noch nie so gehört wie in diesen sieben Worten, sie hörte an dem Vibrieren seiner Stimmbänder, dass es ihm ernst war, dass der ganze Zynismus aus seinem Wesen verschwunden und tiefem Schmerz gewichen war.
»Ja, und es war ein Versehen. Ich wollte dein Leben retten. Ich hätte nie geschossen, wenn ich ihn erkannt hätte. Wenn er nicht diese Maske getragen hätte.«
»Aber du hast. Es ist passiert. Er ist tot.«
Sie stand da, die Waffe hochgereckt, vor Serge, ihr gegenüber stand Carlos, seine Waffe auf sie gerichtet, neben ihnen der Lkw mit dem Gold, daneben die Leiche des Polizisten, ein Stillleben in der Mitte dieses dunklen Parkplatzes, von allen anderen Menschen verlassen, auf der Autobahn rauschte ab und zu ein Fahrzeug vorbei. Es war der denkbar schlechteste Moment für diese Abrechnung.
»Es war ein Versehen«, sagte sie leise, doch dann hob sie ihre Stimme, als hätte auch sie der Schmerz wieder erreicht. »Aber du hast meinen Vater nicht aus Versehen erschossen, sondern weil du genau das wolltest. Du wolltest nie meinen Tod. Du wolltest nur, dass ich genauso leide, wie du es tust.«
»Es hat mir etwas Linderung verschafft, dich zusammensinken zu sehen, neben seiner Leiche.« Seine Stimme. Wieder purer Hohn.
»Das glaube ich dir nicht«, sagte sie, nur mit Mühe konnte sie sich zusammenreißen und drückte nicht ab. »Das glaube ich dir nicht. Nichts kann dir Linderung verschaffen, so wie nichts meinen Schmerz lindern kann. Du bist genauso kaputt, wie du es schon immer warst. Du entführst ernsthaft Chiara. Meine kleine Chiara. Wo ist sie? Sag es mir.«
»Sie ist weg. Und wenn wir das hier nicht zu Ende bringen, dann stirbt sie wie eine lästige kleine Fliege.«
»Wie lange kennst du Chiara …«
»Erspar mir deine Sentimentalitäten, Zoë. Du bist doch die Eiskalte von uns. Erspar es mir einfach. Und geh mir aus dem Weg. Ich werde ihn jetzt …« Er ging ein Stück zur Seite, sie machte es ihm nach. Er wurde wütend. »Die Kugel reicht für euch beide«, schrie er. Sie sah, wie er auf ihren Kopf zielte, sie kannte seine Waffe, ihre Durchschlagskraft, er hatte recht, es würde reichen, für Zoë und Serge in ihrem Schatten. Sie drückte ab.
Er stand da, als habe er die Kugel schon lange erwartet, vielleicht schon seit Jahren, und dennoch schaffte er es noch, überrascht dreinzuschauen, das kleine Loch in seiner Brust, der Schrei von Serge hinter ihr, der sicher dachte, es sei die Kugel gewesen, die für ihn bestimmt war, dann drehte sich Carlos zur Seite und fiel neben dem Polizisten auf den Boden, blieb liegen, verkrampft, die Beine irgendwie übereinander, die Waffe neben ihm.
Zoës Augen füllten sich mit Tränen. Augenblicklich. Verdammt. Sie hatte ihn erschossen. Da war alles. Trauer. Wut. Erleichterung. Sie lebte. Wie auch immer.
Sie drehte sich zu Serge um, er stand hinter ihr und zitterte, die Augen geschlossen, die Hände an den Ohren, sie nahm ihn in die Arme, flüsterte: »Alles ist gut, wirklich, alles ist gut, es ist vorbei.«
Und er, sein Mund an ihrem Ohr: »Warum tust du das?«
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte sie, »wir müssen sie hier wegschaffen. Ich brauche das Gold. Ich muss jemanden retten.«
»Wen? Diese Chiara? Was ist mit ihr?«
»Sie wurde entführt. Sie ist die Tochter meines Chefs.«
»Aber …«
»Ich muss ihn anrufen. Dann fahren wir weg von hier. Okay? Bleibst du hier stehen?«
»Ich bewege mich nicht …«
Der Schuss hallte durch die Nacht wie eine Wiederholung, eine Wiederholung des Knalls von vor zehn Minuten, die Kugel, die Artur aus dem Leben gerissen hatte. Doch das Echo dieser zweiten Kugel legte ein Gefühl des Schocks auf ihr Gesicht, weil sie sah, wie Serge sie ansah, voller Schreck, voller Angst, sein Blick, und das war ihr größtes Leiden, sah so aus wie jener von Xavi auf der Treppe, die Erinnerung war ganz plötzlich da, so wie jede Nacht, diesmal aber kam sie Sekundenbruchteile vor dem Schmerz, der ihr in die Eingeweide fuhr, sie war noch nie angeschossen worden, noch nie in ihrem ganzen Leben, sie hatte keine Vorstellung davon, aber jetzt, jetzt wusste sie, wie es war, wenn sich die Kugel einen Weg bahnte, irgendwo unterhalb ihrer Brust, Adern zerriss, Venen, Sehnen, Organe, sie hätte nicht zu sagen vermocht, welche, es war nur, als sei ein großer Klumpen Blut in ihr zerplatzt und würde alle Nervenenden zusammenpressen, bis da nur noch Schmerz war, Schmerz und Angst, kalt und heiß gleichermaßen. Aus Serges Gesicht wurde der dunkle Himmel, und kurz bevor ihr die Sinne schwanden, sah sie die Hand von Carlos Zuffa, die sich mit der rauchenden Waffe ein letztes Mal senkte und auf dem Boden aufschlug.