Anruf auf +316423236223

D as Klingeln mitten in der Nacht riss sie schon lange nicht mehr aus dem Schlaf. Eigentlich. Doch heute war es, als hätte Magda eine Vorahnung. Sie erwachte und setzte sich im Bett auf, sie war sogar ein paar Sekunden schneller wach als Rui, der erst den Hörer von dem Telefon auf dem Nachttisch abnahm und sich dann aufrichtete.

»Ja?«

»Senhor Vicentes? Hier ist Isaakson.«

Er war schlecht eingeschlafen und ständig aufgewacht, vor anderthalb Stunden das letzte Mal. Nun wusste er, warum. Die verdammten Vorahnungen. Er konnte die Panik in seiner Stimme nicht verbergen.

»Was ist passiert?«

»Der Lkw war verschwunden, ich meine … das heißt, er ist immer noch verschwunden. Aber … wir sind jetzt auf dem Parkplatz, und hier ist ein Schlachtfeld, Zara …«

»Isaakson, was ist passiert?«

»Wir haben eben den Rettungswagen gerufen. Sie liegt hier, sie wurde angeschossen. Sie ist nicht ansprechbar.«

»Was sagst du da?«

Alle Förmlichkeit war dahin, er bestand nur noch aus Angst.

»Sie hat eine schwere Bauchwunde. Es sieht nicht gut aus.«

»Verdammt …«

»Es gibt zwei weitere Opfer. Zwei Männer. Einer davon ist Artur Gavalier, der Polizist, der den Transport im Lkw begleitet hat.«

»Und der andere?«

»Negativ. Keine Papiere.«

»Schick mir sofort ein Foto von dem zweiten Toten.«

»Klar.«

»Wo ist der Lkw?«

»Wie vom Erdboden verschluckt.«

»Kümmere dich um Zara. Sie darf nicht sterben. Hast du verstanden? Sie darf nicht sterben.«

»Ja, Chef, ich …«

»Was ist das für ein Lärm?«

»Ein Hubschrauber. Ein Rettungshubschrauber. Haben Sie uns den geschickt?«

»Du hast mich doch eben erst angerufen.«

»Moment, er landet.«

Ohrenbetäubender Lärm im Hintergrund, Rui hielt den Hörer vom Ohr, nach einer Minute hörte er wieder Isaaksons Stimme.

»Hier, hierher. Hier ist das Opfer.«

»Gehen Sie aus dem Weg, Monsieur.«

»Isaakson, Europol. Wer hat Sie gerufen?«

»Der Anruf war anonym. Uns wurde eine Schusswunde gemeldet, wir sind sofort in Avignon gestartet. Und nun lassen Sie uns unsere Arbeit machen, okay?«

Rui hörte, wie Isaakson sich von dem Hubschrauber entfernte, bevor er sich wieder meldete.

»Keine Ahnung, wer die Kollegen informiert hat.«

»Wir werden versuchen, den Anrufer zu orten. Aber Zara hat jetzt Vorrang. Ich sehe euren Standort über meine Fangschaltung. Sie fliegen sie sicher ins Krankenhaus nach Marseille. Ich werde Hilfe schicken.«

»Was für Hilfe?«

Doch da hatte Rui schon aufgelegt. Unter den sorgenvollen Blicken von Magda wählte er eine andere Nummer. Er hatte sie noch nie angerufen. Doch er kannte sie auswendig. Weil er sich immer davor gefürchtet hatte, dass der Tag kommen könnte, an dem er sie wählen müsste. Es dauerte eine Weile, erst beim sechsten oder siebten Klingeln hob der andere ab.

»Ja, Herrgott? Es ist mitten in der Nacht. Was gibt’s denn? Michael hat Bereitschaft.«

»Verzeihen Sie, Herr von Hardenberg, es ist nicht das Krankenhaus. Ich bin es, Rui Vicentes, der Chef Ihrer Frau.«

Sofort war der Ärger aus der Stimme am anderen Ende der Leitung verschwunden. Rui war so, als höre er erst das Rascheln einer Bettdecke und dann eine Kinderstimme. Er hoffte, dass er sich irrte.

»Ja? Was … was ist mit ihr?«

»Ich bin kein Freund von langen Ausflüchten, und Sie sind Arzt, Herr von Hardenberg, deshalb sage ich es ganz knapp: Ihre Frau wurde bei einem Einsatz angeschossen und schwebt in höchster Lebensgefahr. Ich war bei dem Einsatz nicht zugegen, aber der Partner Ihrer Frau. Er hat mir eben versichert, dass die Lage sehr ernst ist. Ich weiß, wie ungewöhnlich das ist, aber es ist ein Bauchschuss, und ich frage mich, ob Sie als die Koryphäe auf dem Gebiet nicht selbst …

»Ich werde sie operieren. Wo ist sie?«

»Sie wird in etwa fünfundvierzig Minuten im Krankenhaus von Marseille eintreffen. Ich werde Ihnen einen Helikopter schicken, der Sie zum Flughafen fliegt, dort wird eine Privatmaschine stehen. Auf diese Weise sollten Sie es in zweieinhalb Stunden nach Marseille schaffen. Einverstanden?«

»Ich suche meine Arztsachen zusammen.«

»Gut. Haben Sie vielen Dank.«

»Wofür? Dafür, dass ich den Menschen retten will, der mir am wichtigsten auf der Welt ist? Verdammt … was ist da passiert?«

Rui beendete das Gespräch und wählte die Nummer seiner Leitstelle, bestellte den Helikopter und den Learjet nach Berlin und sich selbst einen Helikopter, der in einer halben Stunde am Strand von Scheveningen landen würde.

»Wird sie es schaffen?«, fragte Magda leise.

»Wenn er sie operiert, hat sie eine winzige Chance.«

Jetzt erst betrachtete er das Foto des zweiten Mannes, das Isaakson ihm auf sein Handy geschickt hatte. Carlos Zuffa. Er hasste diese Vorahnungen.