Serge Clignancourt

Rastplatz de Cabannes, Provence, Frankreich
Zwei Stunden zuvor

E s herrschte Stille. Kein Auto fuhr vorbei, kein Vogel sang. Sogar das Stöhnen der Frau hatte aufgehört. Er kniete sich hin und fühlte ihren Puls. Da war etwas. Ein schnelles Pochen, das sich kräftig anfühlte, ganz anders, als er es erwartet hatte.

Er betrachtete die Wunde unterhalb der Brust, mitten im Oberkörper. Das Blut rann daraus, hellrot und ohne zu gerinnen. Ihm wurde schlecht. Er wusste, dass er es nicht würde stoppen können.

Er sprach sie leise an. »Zara, Zara«, sagte er.

Sie hatte sein Leben gerettet. Nicht nur einmal.

Und nun würde sie deshalb sterben?

Das durfte nicht sein.

Er betrachtete das Gold in dem Transporter. Den toten Polizisten. Den toten Killer. Und die bewusstlose, blutende Frau.

Das Telefon ragte ein Stück aus ihrer Hosentasche heraus.

Es gab einen Code. Verdammt. Aber da war ja diese Notfalltaste, die seine Frau ihm einst gezeigt hatte. Er drückte darauf. Seine Frau hatte den Eintrag bei ihm eingerichtet, so standen dort sein Name, seine Blutgruppe, die Angaben, dass er unter Bluthochdruck litt und täglich Betablocker nahm. Dazu die Nummer seiner Frau. Hier aber standen keine Angaben. Nur zwei Nummern. Er wählte die obere. Er wusste nicht, wer nun abheben sollte, mitten in der Nacht. Doch nach nur einem Klingeln nahm jemand ab.

Die Stimme eines Mannes, eine eindrucksvolle, tiefe Stimme.

»Da bist du.«

»Nein, Zara ist angeschossen. Ihr geht es gar nicht gut.«

»Wem? Zara? Wer ist da?«

»Hier ist der Fahrer des Transporters, den Zara begleitet hat.«

»Was erzählen Sie da, und was machen Sie mit ihrem Handy?«

»Ich stehe neben ihr. Sie liegt am Boden und blutet stark. Sie lebt, aber ich weiß nicht, wie lange noch.«

»Wo sind Sie?«

»Auf der Aire de Cabannes an der A7.«

»Ich schicke Ihnen sofort Hilfe. Warten Sie, bleiben Sie dran.«

Musik in der Leitung, nur eine Minute, dann wieder die Stimme, nun ruhiger, lockender.

»Ich habe einen Kontakt in Avignon angerufen. Es kommt gleich ein Hubschrauber. Hören Sie, sagten Sie, Sie sind der Fahrer des Transporters? Des Goldtransporters?«

»Woher wissen Sie davon?«

»Sie hat mir davon erzählt.«

»Sind Sie ihr Ehemann?«

»Sagen wir, ich bin ihr bester Freund.«

»Sie hat mein Leben gerettet, Ihre Freundin, mein Leben. Ich bin ihr zutiefst dankbar. Sie hat gesagt, ich müsse ihr helfen. Helfen, indem ich das Gold wegschaffe.«

»Das hat sie gesagt?«

»Ja, sie hat mich gebeten, das zu tun. Um ihre kleine Schwester zu retten.«

Kurze Pause am anderen Ende der Leitung, dann sprach der alte Mann weiter.

»Ist der Transporter fahrbereit?«

»Natürlich.«

»Gut. Dann fahren Sie. Fahren Sie an der nächsten Ausfahrt von der Autobahn. Nehmen Sie die Départementale 973 gen Osten. Fahren Sie nicht wieder auf die Autobahn. Sondern erst, wenn Sie bei Fréjus sind, dann immer Richtung Italien. Fahren Sie kurz vor Nizza ab, Ausfahrt 48. Dort rufe ich Sie wieder an. Und noch etwas: Machen Sie mir ein Foto vom Gold und schicken es mir auf diese Nummer. Verstanden?«

»Die werden mich ins Gefängnis stecken. Ich werde meine Frau nie wiedersehen. Meinen Enkel.«

»Doch, werden Sie. Rufen Sie Ihre Frau an. Sie soll jetzt aus Ihrer Wohnung verschwinden. Genau wie Ihr Enkel. Wir werden Sie alle zusammenführen. Sie bekommen fünf Prozent von allem. Fünf Prozent. Haben Sie verstanden?«

»Das wären … fünfundzwanzig Millionen Euro.«

»Es muss ja auch für Ihre ganze Familie reichen. Also los, fahren Sie. Die werden gleich bei Ihnen sein.«

»Monsieur. Damit ich Ihnen vertrauen kann, muss ich wissen, wer Sie sind.«

Kurzes Räuspern am anderen Ende der Leitung.

»Mein Name ist Benito Bolatelli. Man nennt mich auch den Paten Frankreichs.«

Serge Clignancourt schaute in die Dunkelheit und schüttelte den Kopf. Wo war er nur hineingeraten? Aber sein Entschluss stand fest. Er kletterte durch das Loch in den Laderaum, dann machte er ein Foto von den glänzenden Barren und sandte es an die Telefonnummer. Mit einem letzten Blick auf Zara verschloss Serge Clignancourt die Reste der Ladeluke, stieg in den Lkw und ließ den Motor an. Als er fünf Minuten später von der Autobahn auf die menschenleere Landstraße abbog, wählte er die zweite Nummer, die in den Notfallkontakten der jungen Frau hinterlegt war. Kurz darauf antwortete eine Stimme, und Serge zuckte zusammen. Das war doch exakt die Stimme der Frau, die eben noch stark blutend neben ihm gelegen hatte.