Hôpital de la Timone, Marseille,
Provence, Frankreich
D er zweite Elektroschock war es. Der zweite.
»Sie ist wieder da«, rief die junge Ärztin, die als Einzige nicht in Trance verfallen war, vorhin, als seine Frau bereits ohne Puls und Herzfrequenz war.
»Wir müssen die Blutung stoppen, jetzt, Skalpell, bitte«, sagte er.
Der Chefarzt persönlich reichte es ihm.
Er hatte vorhin darauf geachtet, alles so zu machen wie üblich: den Kittel anlegen, die Haube, die Hände minutenlang desinfizieren, dann den Knopf an der Tür drücken. Als wäre es eine Operation wie jede andere.
Nun aber, als er das Skalpell in der Hand hielt, musste er kurz innehalten. Er fasste den Operationstisch an, schloss die Augen und sog die Luft ein, die steril roch, nach Desinfektion, aber auch nach Blut. Ihrem Blut.
»Ist alles okay?«, fragte die Ärztin leise. Dann schwieg sie wieder.
Er atmete weiter, bis er die Frequenz wieder heruntergefahren hatte. Dann öffnete er die Augen, trat von dem Tisch weg und ging um ihn herum, hinter den grünen Stoff, der den Kopf der Patientin am Hals abschirmte.
Er nickte dem Anästhesisten zu, dann erst senkte er seinen Blick, sah die Maske, durch die der Sauerstoff in ihre Nase geleitet wurde, und dann: ihr Gesicht. Die blonden Haare, von denen zwei Strähnen unter der Haube hervorschauten, die geschlossenen Augen, so friedlich, so, wie er sie immer beim Schlafen beobachtete. Er wollte diese Augen wieder geöffnet sehen, lächelnd. Ihre Grübchen neben den Lippen, diesen roten Lippen, die nun ganz blass waren, weil sie so viel Blut verloren hatte. Er spürte, wie Wut ihn durchflutete, auch Anspannung. Er wusste nicht, ob er es schaffen würde, aber es war richtig, sie anzusehen, nur so würde es gehen. Er ging zurück auf seine Position, die junge Ärztin deckte den Bauch auf, und er sah zum ersten Mal die Wunde genauer.
In diesem Augenblick setzten die Gedanken aus, und seine Intuition setzte ein. Dieses Gefühl, wenn das Metall durch die Haut glitt, durch die Adern, wenn das Blut aus dem Körper quoll, wenn sich alles seinen Blicken öffnete, was er wissen musste, um ein Leben zu retten.
»Hier verschließen«, sagte er, als er sah, wo die Kugel am stärksten gewütet hatte, sie mussten die Adern veröden, es war nicht leicht, weil sofort wieder alles voller Blut war, aber nach einigen Minuten war es geschafft. Sie hatten erst einmal Ruhe.
»Spreizer«, sagte er. Er hoffte, die Kugel war nicht zu weit gewandert.
Er führte den Spreizer ein, die Schwester gegenüber verstärkte das Licht, das die Wunde ausleuchtete.
»Darm nicht betroffen. Die Zerstörung ist oberhalb. Wir werden den Bauch instandsetzen müssen. Mehr Licht.«
Er versuchte, die Leber zu sehen, die Milz, doch der Bauchraum füllte sich zu schnell mit Blut, es war nicht zu machen.
»Trocknen«, rief er, und dann sah er die Kugel. »Zange.«
Er entnahm sie, wieder begann die Blutung.
»Wir müssen die andere Quelle finden«, sagte er, und die junge Ärztin beugte sich über Zara. »Wenn wir sie noch mal verlieren, dann war es das.«
Und dann sah er sie. Er war bisher zu abgelenkt gewesen, um auf den ganzen Körper zu achten, doch da war sie, unverkennbar, unterhalb des Bauches, eine kleine Narbe. Wann hatte er zuletzt einen Blinddarm operiert? Vor zehn Jahren, sicher noch länger war das her. Seit er Chefarzt war, machte er das nicht mehr. Aber er erkannte den Schnitt natürlich sofort. Er war nicht gekonnt gesetzt und nicht besonders gut genäht worden. Doch das größte Problem war: Er kannte den Bauch seiner Frau gut. Und Zara hatte nie eine Blinddarmoperation gehabt.