Shokran Al-Hamsi

Cagnes-sur-Mer, Côte d’Azur, Frankreich

W ürde sie es tun? Er wusste es nicht. Er konnte es nicht einschätzen.

Was in den letzten Stunden geschehen war, hatte seine Welt auf den Kopf gestellt. Seine Ansichten darüber, was er von Menschen erwarten konnte. Er hatte angenommen, sie sei wie ihr Vater. Oder er müsste sie hassen, wie er ihren Vater hasste. Und auf einmal legte er all seine Hoffnungen in sie.

Er musste Zeit schinden. Darauf kam es jetzt an.

Natürlich wollte er das Gold. Aber er wollte auch, dass sie es tat. Er hoffte, er hätte genug Überzeugungsarbeit geleistet.

Er trat hinaus auf den kleinen Platz, der von der Sonne beschienen war, während die Täler ringsum noch vom Morgennebel verhangen waren. Von den neuen Ortsteilen hinunter zum Meer war noch gar nichts zu sehen. Er schloss die Tür des Châteaus hinter sich, den Butler hatte er schon in der Nacht nach Hause geschickt. Niemand war mehr da, außer Chiara. Und Silas. Er schritt aus, ging an dem Boulefeld vorbei, das, von Holzleisten eingefasst, das Zentrum des Platzes bildete. Am Abend warfen die sechs Platanen herrliche Schatten auf die Spieler. Gegenüber lagen die Restaurants auf dem Dorfplatz, doch es war noch zu früh, als dass einer der Wirte die Rollläden hinaufziehen würde.

Er hatte an der Rue sous Barri geparkt und ging in Richtung der steinernen Treppe. Er sah den Schatten erst, als sich die Waffe schon gegen seine Stirn drückte.

»Du dachtest, ich wüsste nicht, wo du bist. Aber ich wusste es schon immer. Los, wir gehen wieder hinein.«

Die Kälte des Metalls an seiner Schläfe. Er war starr vor Angst.

Der Pate. Er war selbst gekommen. Offenbar allein.

Er wusste nicht, ob seine Beine ihn tragen würden, aber er versuchte es, ging langsam wieder auf das Schloss zu.

»Ich wusste, dass sie bei dir ist. Ich habe es an deiner Stimme gehört.«

»Sie sollten mich erschießen, Bolatelli. Sie sollten es zu Ende bringen.«

»Das werde ich. Aber erst will ich sie sehen«, erklärte der Pate leise.

Langsam, Schritt für Schritt, gingen sie vorwärts. Al-Hamsi dachte, dass alle Blicke aus den angrenzenden Häusern auf sie gerichtet sein mussten – aber da war niemand. Die Restaurants waren leer, die Bewohner lebten in den angrenzenden Straßen. Hier war nur sein Château. Er wollte die Tür wieder öffnen, versuchte es zumindest, doch der Schlüssel rutschte aus seiner Hand, er musste sich bücken, griff danach, die Waffe folgte ihm an seinem Kopf.

»Es geht ihr gut, Monsieur Bolatelli, wirklich, ich schwöre.«

»Du hast Angst. Ich weiß es. Los. Schließ auf.«

Diesmal gelang es ihm, und das Portal öffnete sich. Er hörte nichts, im Haus war Stille.

»Sie ist …« Er wies nach oben.

»Geh vor.«

Sie stiegen die Treppe empor, und dann zeigte Shokran auf die Tür, die nur angelehnt war. Bolatelli hatte es verworfen, eine Falle zu vermuten, so schien es, er nahm die Waffe von seinem Kopf und ging schnell voran, riss die Tür auf, Al-Hamsi hörte ihren Aufschrei, dann den von Bolatelli.

»Papa …«

»Chiara …«

Und dann rannten sie aufeinander zu. Shokran Al-Hamsi trat in die Tür, sah, dass sie immer noch neben dem Gerät stand, das sie offenbar soeben ausgeschaltet hatte. Als sie in den Armen ihres Vaters lag, sah sie über dessen Schulter zu ihm herüber. Sie nickte ein Mal, dann sah er die zwei Tränen, die über ihre Wangen liefen, und wandte schnell den Blick ab.

Die Rufe hörten sie alle drei gleichzeitig.

»Polizei, alle auf den Boden, Polizei, legen Sie sich auf den Boden!«