Cagnes-sur-Mer, Côte d’Azur, Frankreich
S ie standen einander gegenüber in dem großen Flur, im ganzen Haus herrschte endlich Stille, sie waren allein, nur sie drei, es war ein Augenblick, in dem sie alle den Blick gesenkt hielten, doch es war Rui, der ihn zuerst hob, und sie sah das Lächeln in seinem Gesicht. Da musste auch sie lächeln, weil die ganze Anspannung endlich von ihr abfiel.
»Wir haben es wirklich geschafft«, sagte er. »Es ist alles aufgegangen. Alles.«
»Nun, fast alles«, antwortete Zara.
»Tut mir leid«, entgegnete Rui schnell, »aber sie ist über den Berg, oder?«
»So war der letzte Stand. Ja.«
»All das war also wirklich euer Plan«, stellte Isaakson fest und betrachtete beide kopfschüttelnd. Sie hatte kein schlechtes Gewissen, ihn nicht eingeweiht zu haben. Sie hatte sogar darauf bestanden.
»Es tut mir leid, Isaakson«, sagte Rui. »Nur wir beide wussten davon, von all dem. Zara und ich sitzen seit einem halben Jahr daran. Dass die Dinge nun aber so zusammenlaufen, damit haben wir nicht gerechnet.«
»Wie konntet ihr von der Entführung des Mädchens wissen? Immerhin hat das ja alles ausgelöst. Die beiden Männer wären sich sonst nie alleine begegnet.«
Zara hätte die Details gerne für sich behalten, aber sie wusste, dass das nicht möglich war. Nicht, wenn sie weiter mit ihm zusammenarbeiten wollte.
»Zuffa wusste von uns, wo sie sich aufhielt. Sie war in Berlin eigentlich sehr gut versteckt. Aber ich habe sie gefunden – und daraufhin konnte auch er sie finden.«
»Ihr habt Bolatellis Tochter entführen lassen?«
»Wir kamen nur über sie an ihn ran. Wir mussten ihn aus seiner Höhle locken. Niemals hätten wir ihn in Korsika gekriegt. Niemals.«
»Aber wie wusstet ihr, dass sich Bolatelli hierher aufmachte?«
»Serge Clignancourt.«
»Der Fahrer?«
»Ich habe ihn schon im Lkw mit einem Sender ausgestattet. Als Bolatelli ihn anrief, hatten wir auch Bolatellis Handy. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen.«
»Weißt du, Isaakson«, fügte Rui hinzu, »diese Clanbosse haben immer eine riesige Hülle um sich aufgebaut, die sie schützt. Acht Verteidigungsringe, sozusagen. Ist man aber erst einmal ganz dicht an ihnen dran, sind sie so gut wie ungeschützt. Weil sie glauben, dass ohnehin niemand derart nah an sie herankommt.«
»So wussten wir, wo Bolatelli seinen Widersacher vermutete – und konnten ihm folgen. Der Zugriff war dann ein Kinderspiel.«
»Und damit habt ihr die französische Mafia quasi im Alleingang besiegt.«
Ruis Lächeln wurde breiter.
»Ich habe immer davon geträumt, einmal den Kopf des Drachen abzuschlagen, nicht nur den kleinen Zeh. Wer hätte gedacht, dass das gelingen kann?«
»Was ist mit Silas? Wie ist er gestorben?«, fragte Isaakson, und sie betraten zusammen das Schlafzimmer mit dem leeren Intensivbett, den abgeschalteten Maschinen und dem stechenden Geruch nach Desinfektionsmitteln.
»Er war ohnehin ein lebender Toter. Er wäre nie mehr aufgewacht, sagen die Ärzte. Sie wird es nicht gestehen. Und ich werde sie dafür nicht anzeigen.«
»Wen?«
»Chiara Balotelli. Hier, sieh dir das an.«
Sie reichte ihm die aufgezogene Spritze, in der noch ein kleiner Rest Flüssigkeit war.
»Was ist das?«, fragte der Schwede.
»Natrium-Pentobarbital.«
»Das Mittel, das sie in der Schweiz zur Sterbehilfe einsetzen?«
»Ja, und in vielen anderen Ländern. Hier in Frankreich ist es verboten. Man muss es richtig dosieren, damit es wirkt und die Patienten nicht quält. Sie hat es ihm verabreicht, immerhin hat sie neben ihrem Studium schon im Krankenhaus gearbeitet. Offenbar hat Shokran so lange auf sie eingeredet, bis sie es getan hat.«
»Das Mädchen, das er als Geisel nimmt, erlöst seinen Bruder«, sagte Isaakson, »es ist unglaublich.«
»Bolatellis Tochter lebt, das ist die Hauptsache, sie kann nichts für das alles«, sagte Rui und trat langsam aus dem Schloss hinaus in den strahlenden Tag.