Kapitel eins

MAI 1935

Es war mir nicht schwergefallen, die edel aussehende Einladungskarte zur Abschlussfeier des Mädcheninternats Lakeside im Juli zu ignorieren. Schwieriger war es schon, die beharrlichen Briefe meiner geliebten Bernadette unbeachtet zu lassen, die mich flehentlich bat, beim »wichtigsten Ereignis ihres Lebens« nicht zu fehlen. Doch mit einem Anruf aus den Vereinigten Staaten hätte ich niemals gerechnet, als Portia mich hinunter in den Flur ans Telefon rief.

»Mrs Murray?«

Ich erkannte die Stimme am anderen Ende der Leitung sofort. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Siebzehn Jahre und fast 1300 Kilometer waren wie weggewischt. Schnell zog ich ein Spitzentaschentuch heraus und wickelte es um die Sprechmuschel, um meine Stimme zu verfälschen. Ein Teil von mir war sogar stolz darauf, in einem solchen Moment an so etwas zu denken.

»Mrs Murray, sind Sie dran?«

»Ja.«

»Guten Morgen. Hier spricht Mrs Meyer – Direktorin Dorothy Meyer vom Mädcheninternat Lakeside in Conneticut.« Mrs Meyer. Dorothy. Dot – meine Dot. Mir fehlten die Worte.

»Ich – ich rufe wegen Ihrer Tochter Bernadette an.«

Und dann ging mir mit einem Mal auf: Wenn die Schulleiterin aus dem Ausland anrief, dann musste es überaus wichtig sein. »Geht es Bernadette gut?«

»Ja, ja, keine Sorge. Ich will Sie auch gar nicht beunruhigen. Bernadette hat mich nur gebeten, Sie persönlich zu unserer Abschlussfeier einzuladen. Ihre Tochter hat sich in den letzten fünf Jahren sehr angestrengt und möchte an diesem denkwürdigen Tag unbedingt ihre Mutter dabeihaben.«

»Nein, Mrs –« Ich brachte ihren Namen nicht über die Lippen.

»Meyer.« Sie hielt inne, als hätte ich ihn vergessen. »Mrs Murray, es steht mir natürlich nicht zu, mich einzumischen oder Sie zu drängen, aber Bernadette hat geäußert, dass Sie vielleicht aus Angst nicht in die Öffentlichkeit treten möchten.«

»Das steht Ihnen tatsächlich nicht zu.« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte.

Einen Augenblick herrschte Stille.

»Mrs Murray, Bernadette trägt ihre eigenen Narben, und doch hat sie sich sehr bemüht, ihre Schüchternheit zu überwinden und in der Schule erfolgreich zu sein. Sie ist schnell aus ihrem Schneckenhaus herausgekommen und hat enge Freundschaften geschlossen. Ihre Freundinnen sehen ihre Narben gar nicht mehr. Sie lieben ihren Charakter, ihre Lebendigkeit und ihre Fürsorglichkeit. Sie lieben sie. Wie wir alle. Bernadette soll sogar die Abschiedsrede halten. Seien Sie versichert, dass wir Sie als Mutter eines wunderbaren Mädchens willkommen heißen. Auf eine solche Tochter können Sie stolz sein.«

Es freute mich, dass Bernadette so erfolgreich und beliebt war. Genau aus diesem Grund hatte ich sie dort hingeschickt. Das hatte ich mir für sie gewünscht, denn ich selbst hatte es ihr nie geben können. Dots Stimme klang noch genauso wie vor vielen Jahren. Wenn sie nur wüsste … aber sie durfte es niemals erfahren.

»Grüßen Sie Bernadette herzlich von mir, Mrs – auf Wiederhören.« Während Dot noch sprach, ließ ich mit zitternden Händen den Hörer sinken und schaffte es erst im zweiten Anlauf, ihn auf die Gabel zu balancieren. Ich nahm mein Taschentuch und begann, die Ecken zu kneten.

»Geht es Bernadette gut?« Portia, meine langjährige Haushälterin – eigentlich mehr Freundin als Hausmädchen –, war auf dem Treppenabsatz stehen geblieben und hatte zugehört.

Ich schluckte, schob die Vergangenheit beiseite und rief mich zurück in die Gegenwart, auch wenn ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. »Ja, alles in Ordnung.«

»Die Frau möchte, dass du zur Abschlussfeier kommst, stimmt’s? Deshalb hat sie angerufen?«

»Ich gehe aber nicht hin.«

»Du bist es Bernadette schuldig.«

Portia war zwar meine Freundin – meine einzige –, aber sie drängte mich zu sehr, und in solchen Momenten wollte ich sie am liebsten in ihre Schranken weisen. Auch wenn sie über Standesgrenzen genauso die Nase rümpfte wie ich.

Ich ging in die Bibliothek, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Sie folgte mir. »Du hast sie auf diese Schule geschickt, damit sie lernt, aus sich herauszugehen und in ein Leben hineinzuwachsen, das ihr in diesen Gefängnismauern hier verwehrt war. Jetzt hat sie es geschafft, und darauf solltest du stolz sein.«

»Ich war schon immer stolz auf Bernadette. Und unser Zuhause ist kein Gefängnis.«

»Du kannst ja einen Schleier tragen, wenn du Bedenken hast.«

»Lass es einfach, Portia. Das geht dich nichts an.«

»Es geht mich nichts an, nachdem ich mich all die Jahre um euch gekümmert habe? Du bist schon fast wie diese Miss Haversham aus dem Dickens-Roman, den du mir kürzlich vorgelesen hast; du wirst noch bis an dein Lebensende …«

»Portia, bitte. Und außerdem heißt sie Havisham.«

Portia sagte nichts mehr. Ich hatte sie gekränkt und es tat mir sofort leid. Nach einer langen Weile ging sie zurück in die Küche und murmelte vor sich hin: »Du solltest ein bisschen was von dem Mumm zeigen, den du immer predigst – und ein bisschen Respekt könnte auch nicht schaden.« Noch als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, vernahm ich ihr unverständliches Grummeln, hörte Töpfe auf den Herd knallen und Geschirr mit lautem Klirren im Spülbecken landen.

In der Bibliothek schloss ich die Tür, lehnte mich mit dem Rücken dagegen und presste die Lippen aufeinander. Wenn ich die Erinnerungen nur auch so leicht aussperren könnte.

Ich zog die Vorhänge zur Seite und öffnete alle Fenster weit, um die Sonne einzulassen.

In Halifax war endlich der Frühling eingezogen. Der verlockende Duft von Flieder, vermischt mit dem der ersten Rosen, Wicken, Maiglöckchen und Pfingstrosen strömte durch die offenen Fenster herein. Es war immer noch kühl genug, um abends nach Sonnenuntergang den Ofen zu schüren, aber tagsüber wollte ich Frühlingsluft riechen.

Ich legte mir eine weitere Strickjacke um die Schultern, setzte mich an meinen Schreibtisch und rückte den Stapel mit den Seiten meines Manuskripts gerade, das ich überarbeiten wollte. Es gab viel zu tun an diesem Tag, und ich würde mich von Dorothys Anruf nicht von der Arbeit abhalten lassen.

Mir stockte der Atem.

Dorothy. Dot. Dottie. Meine beste Freundin. Früher. Vor langer Zeit. Was würdest du sagen, wenn du wüsstest, dass die Frau am anderen Ende der Leitung tatsächlich ich war, nicht Rosaline Murray? Dass Bernadette in Wirklichkeit … Nein. Ich würde diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Aber die Erinnerung an Dot, und mit ihr an Ruth und Susannah, die Ladys von Lakeside, an meine Jahre am Mädcheninternat Lakeside … und so vieles mehr … ich wollte mich nicht daran erinnern. Aber wie könnte ich es vergessen?

.

HERBST 1905

Niemals wäre ich auf ein Internat gegangen, niemals hätte ich die Mädchen kennengelernt, wenn der Sturm nicht gewesen wäre – der verheerende Sturm, der völlig unvermittelt zwischen dem Festland und der Prinz-Edward-Insel losbrach.

Es hätte nur ein Tagesausflug nach Halifax zum Einkaufen werden sollen. Meine Eltern hatten eigentlich vor der Nacht zurück sein wollen. Wind, Regen und Dunkelheit kamen – meine Eltern aber kamen nicht. Genauso wie sie Tag für Tag im Leben eins gewesen waren, gingen sie gemeinsam in den Tod.

Ich war elf Jahre alt und am Tag des Sturms in der Schule. So nannten wir ihn. Es gab ein Leben vor dem Tag des Sturms und ein Leben danach. Mit 22 anderen Kindern besuchte ich eine Dorfschule, in der alle Klassen in zwei Klassenzimmern untergebracht waren. Unsere Lehrerin schickte uns nach Hause, als der Himmel sich verdunkelte. Im Rückblick finde ich das unverantwortlich. Wir hätten im Schulhaus bleiben und den Sturm gemeinsam durchstehen sollen. Aber die Lehrerin war noch jung und in meinen Augen nicht so hell im Kopf.

Als ich völlig durchnässt zu Hause ankam, schürte ich ein Feuer, machte mir ein spärliches Abendessen und schrieb noch ein wenig Tagebuch, bevor ich ins Bett ging. Der Sturm tobte bis zur Morgendämmerung. In meinen elf, beinahe zwölf Lebensjahren hatte ich auf der Insel schon so manches Unwetter erlebt. Normalerweise hätte ich keine Angst gehabt. Ich hätte geglaubt, dass die Fähre meiner Eltern wegen des Sturms bestimmt im Hafen von Halifax festsaß und am nächsten Morgen eintreffen würde. Aber irgendwie spürte ich im Dunkel der Nacht, dass es diesmal anders war; dass meine Eltern niemals zurückkommen würden und ich am nächsten Morgen tatsächlich ein Waisenkind wäre. Und ich fragte mich: Was soll ich dann nur tun?

Nach und nach wurden Leichen am Ufer der Prinz-Edward-Insel angeschwemmt – zuerst vereinzelt, dann oft zwei oder drei auf einmal. Ich hörte, dass ein ortsansässiger Fischer meine Eltern schon identifiziert hatte, noch bevor ich zum Hafen kam. Wer der Fischer war, habe ich nie erfahren. Ich erinnere mich, dass ich zwei Tage nach dem Sturm am Strand einen der hochhackigen roten Schuhe meiner Mutter fand. Sie war so stolz darauf gewesen, solche Schuhe zu besitzen. Der zweite blieb verschwunden.

Die Beisetzungen der Opfer zogen sich die ganze Woche über hin. Mein Halbbruder Lemuel kam aus Halifax, um der Beerdigung beizuwohnen, den Nachlass unserer Eltern zu regeln und das Haus zu verkaufen. Er war Vaters Sohn aus erster Ehe – Vaters Frau war bei der Geburt des zweiten Kindes verstorben.

Der Schock, das Verpacken von Mutters und Vaters Büchern und der Verkauf und Abtransport von Mutters Harmonium gab mir beinahe den Rest – ich war noch nicht einmal fähig, Tagebuch zu schreiben, obwohl das mein abendliches Ritual war, seit ich schreiben konnte. Nach außen hin ließ ich mir wenig anmerken. Ich wollte nicht weinen vor meinem Halbbruder, den ich kaum kannte, der schon lange ausgezogen und dreizehn Jahre älter war als ich.

Im Rückblick kommt es mir naiv vor, zu denken, ich könnte weiter auf der Insel leben. Ich hatte geglaubt, Lemuel würde mir erlauben, zu meiner besten Freundin, Eliza Billings, und ihrer Familie zu ziehen. Wir waren von klein auf unzertrennlich gewesen: in der Kirche, in der Schule, bei gemeinsamen Urlauben am Strand. Zu Elizas und meinem Erstaunen boten ihre Eltern es nicht einmal an und Lemuel spöttelte über meine Vorstellung von Wohltätigkeit.

Da begriff ich: Er wollte, dass ich die Insel verließ, die Insel mit ihren zerklüfteten Hügeln und Tälern, den rauen Winden und weitläufigen Wäldern, mit ihren Millionen von Wildblumen im Sommer, ihrer felsigen Steilküste aus rotem Sandstein. Wie sollte ich ohne all das leben können, ohne die frische Meeresbrise am Morgen? Es war ein Teil meines Lebens, ein Teil von mir.

Die Vorstellung, Lemuel könnte wollen, dass ich mit ihm, seiner Frau und seinem kleinen Sohn in Halifax lebte, ließ mich erschaudern. Ich hasste die Stadt und war seiner Frau bisher erst zweimal begegnet – aber er hatte ganz andere Pläne für mich.

»Du gehst ab nächste Woche ins Mädcheninternat Lakeside in Connecticut. Es ist eine gute Mädchenschule mit einem ausgezeichneten Ruf. Dort solltest du gut zurechtkommen.«

»Ich soll weg von der Prinz-Edward-Insel?« Als ich diese Worte laut aussprach, stieg plötzlich ein dicker Kloß in meiner Kehle auf, größer und rauer als jeder Stein an der Küste.

»Na ja, hierbleiben kannst du ja schlecht. Wir haben schließlich keine Verwandten mehr auf der Insel.«

»Was ist mit den MacNeills, die das Postamt betreiben? Sind die nicht entfernt mit uns verwandt?«

»Die sind zu alt«, widersprach er, »und außerdem sind sie nicht Vaters MacNeills. Sie haben keinerlei Verpflichtung.«

»Aber …«

»Ein kleiner Koffer, Adelaide. Mehr brauchst du nicht. Die Kleiderordnung ist streng. Wenn es dort eine Schuluniform gibt, sorge ich bei der Schulleitung dafür, dass du sie bekommst. Du reist morgen früh ab.«

»Morgen früh? Ich soll alle meine Sachen zurücklassen?« Mein Zuhause verlassen – den Ort, wo mein Körper, mein Herz und meine Seele wohnen?

Er ließ den Blick über die Puppen auf meinem Regal schweifen, über die Bücherstapel neben meinem Bett, die Körbe voller Steine und Kiefernzapfen in meinem Zimmer – und schüttelte dann angewidert den Kopf.

»Ich muss mich zumindest verabschieden von …«

»Niemand erwartet das von einem Mädchen in deinem Alter nach einem solchen Ereignis. Ich muss beruflich zurück nach Halifax, und je früher du in der Schule einsteigst, desto besser; desto weniger Stoff versäumst du. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass du vielleicht eine Klasse wiederholen musst, um mit den anderen mithalten zu können. Die Prinz-Edward-Insel hat in Sachen Bildung nicht viel zu bieten.« Hätte er geschnaubt, hätte es nicht spöttischer klingen können.

Alle erwarten ein Wort zum Abschied und ein Dankeschön für das, was sie für mich getan haben, was sie für mich waren, und ich muss sie bitten, ja anflehen, mir im fernen Connecticut zu schreiben. Selbst einem Mädchen in meinem Alter war all das schmerzlich bewusst.

Aber natürlich sagte ich das nicht. Ich ging in mein Zimmer an diesem letzten Abend im alten Haus; dem Haus, in dem ich geboren wurde, wo meine Eltern mich noch vor wenigen Wochen an sich gedrückt, mich geküsst und mir versichert hatten, wie sehr sie mich liebten. Leise schloss ich meine Tür, lehnte mich dagegen und brach in Tränen aus.

In diesem zarten Alter ahnte ich noch nicht, dass das Mädcheninternat Lakeside meine Rettung sein würde – vor Lemuel und seiner Kaltherzigkeit; davor, als Pflegekind im staatlichen System zu landen und von Familie zu Familie, von Ort zu Ort geschoben zu werden. Ich ahnte noch nicht, dass ich dort ein Zuhause und eine Familie finden und sie eines Tages jäh wieder verlieren sollte.