Kapitel fünfzehn

MAI 1935

Es war erst zehn Uhr, aber ich hatte den Gedanken, zu schreiben oder mein Manuskript auch nur zu überarbeiten, schon aufgegeben. Wieder verbrachte ich den Vormittag in meinem Garten, nicht mit Umgraben oder Unkrautjäten, sondern ich saß einfach nur da und beobachtete die entzückenden Spatzen, die abwechselnd in meiner Vogeltränke planschten und sich um die wenigen Krümel stritten, die Portia von unserem Frühstück verstreut hatte.

Ihr eifriger Wettstreit um Nahrung und ihre Revierkämpfe, bei denen so manche Federn flogen, waren witzig und zugleich erschreckend anzusehen. Eine Feder landete weniger als einen Meter von mir. Ich hob sie auf, erstaunt, dass etwas so Kleines und Schlichtes, so Zerbrechliches, gleichzeitig so weich sein konnte. Ich drehte sie in meinen Fingern. Dennoch war es eine Feder, und Federn konnten, wie ich wusste, gefährlich sein.

Portia hatte recht gehabt. Sich der Erinnerung hinzugeben, kann genauso gefährlich sein. Wenn man einmal damit angefangen hat, kann man kaum mehr aufhören. Erinnerungen können den Himmel auf die Erde holen; sie können aber auch die Hölle bedeuten, jeden einzelnen Gedanken gefangen nehmen – heimtückisch, hartnäckig, unerbittlich. Ich dachte genauso ungern wie Portia an diese längst vergangenen Tage zurück. Das Leben vor 1917 war eine andere Welt, eine andere Zeit, ein anderes Ich … in einem Augenblick weggerissen, für immer vergangen, nichts war mehr wie zuvor. Und welchen Sinn hatte das Zurückdenken, die Sehnsucht nach der Vergangenheit, die unter den Trümmern von Feuer und Zerstörung begraben lag?

Wenn der Krieg nicht gewesen wäre … dieser verhasste, nutzlose, sinnlose Krieg. Solange ich dem Krieg, dem Schicksal, den Umständen genügend Schuld zuwies, konnte ich so tun, als hätte ich überhaupt keinen Anteil an dem Geschehen.

Ich hatte es nicht kommen sehen … genauso wenig wie Mrs Salley oder ihr Sohn.

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JULI 1917

Tyrannen. Emma Lockheed und Augusta Blake waren Tyrannen der schlimmsten Sorte … noch schlimmer in ihrer hinterhältigen Art, als es die miese Mildred je gewesen war. Ihr unablässiges Drangsalieren anderer gab ihnen irgendwie ein erhöhtes Gefühl von Wichtigkeit, von Macht und die unerschütterliche Überzeugung, dass sie im Recht und wahre Patriotinnen waren … Jetzt noch, so viele Jahre später, drehte sich mir beim bloßen Gedanken daran der Magen um und mein Herz schmerzte. Aber so begann die Tyrannei – zumindest wurde damit offenbar, was in den Herzen mancher längst loderte.

In den Zeitungen und Zeitschriften war von Mädchen zu lesen, die weiße Federn an Männer ohne Uniform verteilten. Ich glaubte, die Mädchen sahen darin etwas Mutiges und Kühnes, Patriotisches, ja sogar Romantisches, ungeachtet ihrer Beteuerungen, dass sie so etwas niemals wagen würden.

Kaum hatte es sich im Internat herumgesprochen, dass weiße Federn an Jugendliche und Männer in der Stadt verteilt worden waren, begann die Gerüchteküche zu brodeln. Oft bekam ich geflüsterte Bruchstücke mit, die weder für meine noch für die Ohren anderer Lehrkräfte bestimmt waren, während ich an den langen Abenden mit den Mädchen strickte. Ich tat dann immer so, als wüsste ich von nichts. Das hielt ich für die beste Strategie, um ein wachsames Auge auf sie zu haben. Aus meiner eigenen Schulzeit wusste ich, dass wir Pläne geschmiedet hatten, die wir den Lehrern nie verraten hätten. Ach, hätte ich doch nur genauer hingehört! Vielleicht hätte ich das verhängnisvolle Geschehen verhindern oder zumindest die Täterinnen abschrecken können.

Aber gedankenlos, wie ich war, gab ich mich viel lieber meinen Träumen von Stephen hin, stellte mir vor, was er wohl gerade tat, fragte mich, ob er an mich dachte, und sorgte mich um Dinge, die ich nicht ändern konnte. Ich hatte ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen und nur wenig von ihm gehört, obwohl ich die kurze Szene, in der er mich zur Schule begleitet hatte, immer wieder im Kopf Revue passieren ließ.

Nur, wenn ich zufällig seine Mutter in der Stadt traf, konnte ich etwas erfahren. Nur dann konnten wir Briefe austauschen, die wir immer in unserer Handtasche bereithielten, für den Fall, dass wir uns begegneten. Ich übergab ihr meine Briefe an Stephen und sie steckte mir Briefe von ihm zu.

Deshalb war mir jede Gelegenheit, jeder Vorwand recht, in die Stadt gehen zu können. Zu Hause durfte ich die Meyers nicht mehr besuchen, denn seit meiner späten Rückkehr am Weihnachtsabend ließ Mrs Evans mich nicht mehr aus den Augen. Sie war früher von ihrem Familientreffen zurückgekehrt und hatte mitbekommen, dass ich vermisst wurde. Meine Stelle konnte ich nicht aufs Spiel setzen. Sie sicherte mir meinen Lebensunterhalt und ermöglichte es mir, in der Nähe der Meyers zu wohnen.

Ich fragte mich, ob Dorothy sie wohl besuchte, wenn sie das Wochenende bei ihrer Familie verbrachte, denn das Haus der Meyers grenzte direkt an ihre Felder, aber sie erzählte nie davon. Wenn ich sie fragte, würde sie es bestimmt abstreiten. All das ging mir durch den Kopf, während wir Socken und Helmmützen, Schals, Pulswärmer und sogar Handschuhe mit freiliegenden Zeigefingern für unsere Soldaten strickten. Doch an einem Abend holte mich eine giftige Bemerkung aus meinen Gedanken.

»Er ist ein Feigling, sag ich dir! Schau dir bloß seine Muskeln an, wie er die schweren Mehlsäcke für seine Mutter schleppt! Der faule Hund sollte sich melden. Wenn jemand eine weiße Feder verdient, dann er – oder seine Mutter, der es offenbar gefällt, dass er ihr immer noch am Rockzipfel hängt.« Augustas bissige Worte waren nicht zu überhören.

»Aber ist er nicht ein bisschen dumm?«, wandte Margaret, ein eher schüchternes Mädchen aus New Hampshire, ein. »Er würde doch die anderen Soldaten und bestimmt auch sich selbst in Gefahr bringen.« Doch dann kam ihr Selbstbewusstsein ins Wanken und sie fügte flüsternd hinzu: »Oder nicht?«

»Stark, wie er ist, könnte er doch zumindest Gräben für die anderen schaufeln«, beharrte Emma. »Wenn er sich nicht meldet, sollte er sich schämen.«

Eingreifen konnte ich schlecht, denn damit würde ich verraten, dass ich zugehört hatte, aber die beteiligten Mädchen zur Seite zu nehmen und ein Wörtchen mit ihnen zu reden, war sicherlich angebracht. Es war fast an der Zeit, die Nadeln wegzulegen und sich zum Schlafengehen fertig zu machen. Ich verstaute mein Strickzeug in meiner Tasche und wollte gerade die Nachtruhe ankündigen, als ich mitbekam, wie Augusta ihren Freundinnen etwas zuflüsterte. »Na ja, er ist ja nicht einmal der Schlimmste. Schau dir doch die Meyer-Brüder an – beide kerngesund. Die verschanzen sich in ihrer Universität und hinter ihrer Arbeit, während unsere Jungs im Kampf gegen die Deutschen sterben. Die Meyers, die haben Schlimmeres verdient als weiße Federn!«

»Zeit zum Schlafengehen, Mädchen!« Meine Stimme klang schriller, als ich beabsichtigt hatte. Ich hätte mehr sagen sollen, das war mir eigentlich klar, aber ich zögerte – gegenüber einer Dreizehnjährigen, angesichts solcher Vorurteile und der Boshaftigkeit, mit der sie verbreitet wurden, auch wenn die Mädchen von dem, wovon sie sprachen, nichts verstanden. Ich wusste, dass ich ein Auge auf sie haben sollte, aber es wäre mir niemals eingefallen, dass mehr daraus werden könnte als ein Aufwallen pubertärer Fantasie.

Am nächsten Samstagnachmittag ging ich zur Bäckerei, um eine Schachtel Scones zu kaufen und Mrs Salley damit meine Unterstützung zu zeigen. Seit dem Herzinfarkt ihres Mannes hatte sie es schwer, ihr Geschäft am Laufen zu halten. Ich würde ihr zwar nie sagen, was ich gehört hatte, wusste aber, dass ihr Sohn zur Zielscheibe von Spott und so manchem gemeinen Streich geworden war. Cal war ein freundlicher, hilfsbereiter Junge – na ja, ein Junge im Körper eines Mannes – mit einem schüchternen Lächeln. Ihr älterer Sohn studierte. Mrs Salley erzählte mir, er sei nach Hause gekommen, um sie während der Krankheit seines Vaters zu unterstützen, sie ihn aber gleich wieder weggeschickt habe, mit den Worten: »Eine gute Ausbildung ist der beste Weg, unserer Familie langfristig zu helfen.« Sie wollte nichts davon wissen, dass er auf Dauer zu Hause blieb, obwohl ich mich fragte, ob sie diese Entscheidung wohl manchmal bereute.

»Geht es Cal gut? Ich habe ihn in letzter Zeit gar nicht gesehen«, fragte ich beiläufig, um ihr meine Solidarität und Verbundenheit auszudrücken.

Seufzend schüttelte sie den Kopf. »Er ist ganz in sich gekehrt, seit die Mädchen ihn angegriffen haben, und fürchtet sich vor seinem eigenen Schatten. Das kenne ich von ihm gar nicht.«

»Mädchen?« Ich tat, als wüsste ich von nichts, konnte mir aber denken, dass sie Mädchen aus unserem Internat meinte.

Mrs Salley stemmte die Hände in die Hüften. »Von Ihrer Schule, Miss MacNeill. Zwei von den jüngeren Mädchen. Die verteilen schon eine ganze Zeit lang hier und da weiße Federn. Und als ihnen die Opfer ausgingen, sind sie auf meinen Cal los. Sie haben ihn halb zu Tode erschreckt, ihm erzählt, er würde bald eingezogen und in die Schützengräben geschickt, die Deutschen würden ihn mit Maschinengewehrfeuer niedermähen oder mit Flammenwerfern in Brand stecken, wenn er nicht spurt.«

»Was?«, keuchte ich. »Bestimmt nicht. Wie können Sie sich so sicher sein, dass es Mädchen von uns waren?«

»Wer sonst redet hier so hochnäsig, als wären sie etwas Besseres? Sie waren schon drei Samstage hintereinander hier. Nach den ersten beiden Malen habe ich meinen Cal am Samstag mit Mr Stoop aus der Stadt rausgeschickt, um Vorräte einzukaufen.«

»Nur unsere älteren Mädchen dürfen samstagnachmittags zum Tee in die Stadt gehen, da macht Mrs Evans keine Ausnahmen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass welche von ihnen so etwas täten.«

Mrs Salley hob die Brauen.

»Können Sie die Mädchen beschreiben?« Ich wollte es nicht glauben.

»Sie tragen lange Röcke, stecken sich das Haar hoch und schminken sich, als wären sie fast erwachsen, trotzdem schätze ich sie nicht älter als zwölf oder dreizehn. Die eine ist flachsblond, die andere braun mit einem Stich Rot, wenn die Sonne draufscheint. Hübsche Mädchen, aber durchtrieben.«

Ihre Beschreibung passte genau auf Augusta und Emma. Aber ich brauchte gar nicht zu raten. Denn draußen vor dem Schaufenster hörten wir sie. Augustas näselnde Stimme hätte ich überall herausgehört. Ich erkannte auch von hinten den Mann, den sie mit ihren weißen Federn in der Hand belästigt hatten. Emma, den Blick unverfroren kokett auf sein Gesicht geheftet, steckte ihm gerade eine in die Brusttasche.

»Da sind sie! Ich habe es Ihnen ja gesagt!«, schimpfte Mrs Salley.

Fassungslos griff ich mir an die Kehle und eine unbändige Wut stieg in mir hoch. Ich ließ meine Tüte auf dem Ladentisch liegen und stürzte zur Tür hinaus. »Emma! Augusta! Was denkt ihr euch eigentlich, und was macht ihr überhaupt in der Stadt?«

Sie drehten sich um und machten große Augen. Emma war so geistesgegenwärtig, einen betretenen, verängstigten Blick aufzusetzen, aber Augusta warf trotzig den Kopf in den Nacken. »Wir stehen für das ein, was in unserem Land gut und richtig ist. Dieser Verräter hier trägt keine Uniform. Wir geben ihm für seine Feigheit die weiße Feder.«

Mein Herz pochte. »Mr Meyer«, flehte ich Stephen an, zitternd vor Zorn und Scham über die Mädchen, doch auch, weil Stephen mir so nah war, »bitte verzeihen Sie diesen unwissenden Mädchen. Sie haben sich unmöglich verhalten und werden die Konsequenzen ihres unsäglichen Handelns zu spüren bekommen.«

»Unsägliches Handeln?«, widersprach Augusta. »Er ist doch der Deutsche! Er ist derjenige, der sich weigert, für das Land zu kämpfen, das ihn aufgenommen hat. Das macht ihn zum Feigling und Verräter.«

Ich hätte ihr am liebsten eine Ohrfeige verpasst.

»Miss MacNeill.« Stephen nahm in meiner Gegenwart den Hut ab und lächelte steif. »Ich weiß, dass Sie Ihren Schülerinnen nicht beibringen, sich in der Öffentlichkeit so zu verhalten.«

Emma und Augusta blickten zwischen Stephen und mir hin und her. Ein wenig zu scharfsinnig bemerkte Emma: »Es stimmt also, Miss MacNeill. Und er … ein Deutscher.« Den letzten Satz sagte sie mit Verwunderung.

»Seht zu, dass ihr zurück ins Internat kommt, Mädchen, und zwar sofort. Macht euer Haar auf und wascht euch die Schminke vom Gesicht. Und dann ab auf euer Zimmer, bis ich wieder da bin. Ich gehe gleich mit euch zu Mrs Evans.«

Emma sah aus, als wollte sie protestieren, aber Augusta zog ihre Freundin wortlos weg und sie stolzierten hocherhobenen Hauptes bis zum Ende des Blocks; dann rannten die beiden die Straße zur Schule hinauf.

»Es tut mir leid, Stephen, so sehr leid.«

»Das ist nicht das erste Mal. Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist.« Er sah aus, als würde er am liebsten meine Hand nehmen, oder mein Gesicht in seine Hände. Ich wollte seine Berührung spüren, mehr als alles andere auf der Welt. »Es ist zu gefährlich, wenn wir zusammen in der Öffentlichkeit gesehen werden. Geh jetzt lieber.«

»Wann können wir uns treffen?«

In seinen Augen lag ein verlorener Blick. »Wenn dieser Wahnsinn vorbei ist.« Er setzte seinen Hut wieder auf, lüftete ihn kurz und ging davon.

Ich wusste, dass Mrs Salley durchs Fenster schaute – Mrs Salley und wahrscheinlich alle Ladenbesitzer und Geschäftsleute an der Straße. So gefasst wie möglich machte ich mich auf den Weg zurück zur Schule. Ich musste mich jetzt als Allererstes um die Mädchen kümmern, sosehr ich mich auch davor fürchtete.

»Miss MacNeill!« Mrs Salley stand auf der Treppe ihrer Bäckerei und hielt mir ein Paket hin. »Ihre Scones.«

»Danke, Mrs Salley.« Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen.

»Ich nehme an, die Mädchen sind Ihrem jungen Mann auf die Füße getreten. Sie kümmern sich doch darum, oder?«

»Darauf können Sie sich verlassen.« War Stephen mein junger Mann? Ich wusste es nicht.

Sie drückte meinen Unterarm. Die Berührung war so ungewohnt, dass ich zurückwich, aber sie flüsterte: »So manches ist anders, als es scheint. Lassen Sie sich von den Einheimischen nicht fertigmachen. Die Meyers sind gute Menschen. Wir alle kommen irgendwo her. Die meisten haben es nur vergessen.«

Tränen stiegen mir in die Augen, und ich griff nach ihrer Hand. »Danke. Es gibt Dinge, die keiner von uns ändern kann.«

»Das weiß ich nur zu gut.« Ihr Lächeln verblasste, als Mr Stoops Wagen angerollt kam, auf dem Sitz hinter dem Fahrer Mrs Salleys erwachsener Sohn, der wie ein kleiner Junge jedem zuwinkte.

Eine Stunde später stand ich vor Mrs Evans, allerdings nicht mit Augusta und Emma. Sofort bei meiner Rückkehr war ich ins Direktorat gerufen worden.

»Schließen Sie die Tür, Miss MacNeill.« Mrs Evans bot mir keinen Stuhl an, obwohl sie selbst hinter ihrem Schreibtisch sitzen blieb. »Man hat mir gesagt, Sie seien in Farmington im Gespräch mit Mr Meyer gesehen worden.«

Wenn mir vor Erstaunen die Kinnlade heruntergefallen wäre, hätte es mich nicht gewundert. »Ja, aber –«

»Habe ich Sie nicht genau davor gewarnt?«

»Es war nur –«

»Es ist mir egal, was es nur war. Die Meyers sind zu feindlichen Ausländern erklärt worden, und die Tatsache, dass –«

»Feindliche Ausländer? Was meinen Sie mit feindlichen Ausländern?«

»Sie sind Deutsche, Miss MacNeill, wie Sie sehr wohl wissen. Deutsche auf amerikanischem Boden sind zu ansässigen Ausländern erklärt worden. Einige werden im Moment interniert. Mit dem Feind zu verkehren, ist –«

»Stephen – Mr Meyer – ist weder mein noch Ihr Feind. Er ist Amerikaner.«

»Deutschamerikaner vielleicht, aber er stammt aus einer Einwanderfamilie und trägt keine Uniform.«

»Das gibt diesen Mädchen nicht das Recht, ihn auf der Straße mit weißen Federn anzupöbeln!«

»Ich habe das Gerücht gehört und weiß nicht, wer die Mädchen sind, die das machen. Ich will es auch gar nicht wissen. Ein Teil von mir kann nicht anders, als sie für ihren Mut zu bewundern. Uns widerfährt in diesem Krieg großes Unrecht. Jeder fähige Mann wird gebraucht.«

»Ihren Mut?« Mir fehlten die Worte.

»Ich habe beschlossen, dass Sie zu Ihrer Familie nach Halifax zurückkehren müssen. Bald ist Sommer, und Miss Belding kann bis dahin Ihre Klassen übernehmen. Wenn Sie glauben, sich von Familie Meyer fernhalten und Ihre Verantwortung für den Ruf des Mädcheninternats Lakeside wieder übernehmen zu können, dann dürfen Sie im Herbst zurückkommen. Wenn nicht, nun, dann gehe ich davon aus, dass Sie mir vor September Bescheid geben.«

»Sie entlassen mich?«

»Sagen wir, ich gebe Ihnen Gelegenheit, Ihre Loyalität zu beweisen. Sehen Sie es als Bewährungsprobe an, wenn es sein muss.«

Ich stand da, sprachlos und regungslos.

Mrs Evans rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Bei der Abschlussfeier werden einflussreiche Eltern und Angehörige erwartet. Ich möchte keine Gerüchte oder Skandale.«

Das Blut kochte in meinen Adern. »Und wohlhabende, nicht zu vergessen.«

Nun richtete Mrs Evans sich zu ihrer vollen Größe auf. »Nein, wir sollten nicht vergessen, dass es die wohlhabenden Eltern unserer Schülerinnen sind, die unser Internat durch ihr Schulgeld, ihre Patenschaften und großzügigen Zuwendungen am Laufen halten. Was glauben Sie, wie lange das noch so weitergehen könnte, wenn bekannt würde, dass eine unserer Lehrkräfte des Verrats bezichtigt wird? Es wäre ein Skandal!«

Es war so ungerecht, völlig unverhältnismäßig.

»Sie können gehen. Wenn Sie nicht genügend Geld für Ihre Fahrkarte haben, können wir Sie sicherlich aus dem Schulbudget unterstützen.«

»Wann soll ich gehen? Nächste Woche ist die Theateraufführung. Ich führe Regie …«

»Es gibt keinen Grund zum Aufschub. Am Montagmorgen fahren Züge. Bis dahin haben Sie Zeit, Ihren Schreibtisch zu räumen. Miss Belding wird ab heute Abend Ihre Aufgaben bei den Mädchen übernehmen. Mr Potts kann Sie zum Bahnhof fahren.«

»Am Montag? Aber die Frühjahrsaufführung … die Mädchen haben so unermüdlich geprobt.«

»Dann kann ja auch Miss Belding Regie führen. Es wird sicher reibungslos klappen.« Mrs Evans blieb standhaft.

Ich fühlte mich, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.

»Das ist alles, Miss MacNeill. Sie können gehen.«

Entlassen. Mein Herz pochte heftig in meiner Brust. Wie sich meine Füße zur Tür bewegten, wie meine Hand den Knauf drehte, wie ich die Tür hinter mir schloss und hinaus in den Flur trat, wusste ich nicht.

Ein Rauschen hinter dem Vorhang am gegenüberliegenden Fenster – und die Füße, die darunter hervorschauten – weckten meine Aufmerksamkeit. Als ich die Gardine beiseiteschob, blickte ich in die schadenfrohen Gesichter von Augusta Blake und Emma Lockheed. Augustas Augen funkelten in hasserfülltem Triumph.

Keuchend griff ich nach Augustas Arm und drückte ihn fester, als mir bewusst war und als ich es mir hätte herausnehmen dürfen. »Ihr meint, ihr hättet gewonnen, aber irgendwann wird alle Welt begreifen, wie boshaft und niederträchtig ihr seid. Haltet euch bloß von Cal Salley fern! Lasst ihn in Ruhe! Er ist ein armer Junge, der ohne eigenes Verschulden …«

Die Tür hinter mir ging auf. »Miss MacNeill!«

»Sie tut mir weh, Mrs Evans, weil sie denkt, ich hätte sie verpetzt!«, wimmerte Augusta und täuschte Tränen vor.

Ich ließ Augustas Arm los.

»Packen Sie Ihre Koffer, Miss MacNeill. Und du, Augusta, geh zur Krankenschwester und lass deinen Arm anschauen.«

So schnell ich konnte, ging ich davon. Das Hämmern in meinen Ohren war mehr, als ich ertragen konnte.

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Einen Monat später, als ich elend und einsam im Haus meines Bruders in Halifax saß, bekam ich einen Brief von Dot.

Liebe Addie,

es tut mir so leid, dass ich dich vor deiner Abreise nicht mehr gesehen habe, und leider habe ich auch gleich in meinem ersten Brief schlechte Nachrichten.

Ich habe die Gerüchte gehört über das, was in der Stadt passiert ist, und später mit Mrs Evans und Augusta. Weil ich weiß, dass du schon immer vernarrt in Stephen warst, habe ich alles darauf geschoben und mir gedacht, dass ein paar Monate in Halifax dir vielleicht helfen würden, ihn dir aus dem Kopf zu schlagen. Mit der Zeit würden sich die Wogen schon legen.

Ich weiß, dass du immer nett zu den Meyers und den Salleys sein wolltest, deshalb wird dich die Nachricht umso härter treffen. Es fällt mir auch richtig schwer, es dir zu schreiben.

Cal Salley hat sich das Leben genommen. Seine Mutter hat ihn selbst im Keller gefunden – erhängt. Sie sagt, er habe die Sticheleien der Mädchen nicht länger ertragen können. Sie hatten ihn davon überzeugt, dass er eingezogen und als Kanonenfutter an die Front geschickt werden würde. Dumm, wie er sei, könne er ohnehin nichts anderes tun, als Gräben zu schaufeln und als menschlicher Schutzschild für echte Männer zu dienen. Das aber sei seine patriotische Pflicht. Offenbar haben sie ihn nicht in Ruhe gelassen.

Das alles kam heraus, als Mrs Salley zur Zeitung ging und sagte, dass Mädchen aus Lakeside ihren Sohn terrorisiert hätten. Es gab natürlich einen Riesenskandal, und nach polizeilichen Ermittlungen wurde Mrs Evans entlassen, weil sie nicht besser auf die Mädchen aufgepasst hatte. Augusta und Emma haben geheult und beteuert, wie sehr sie es bereuten, aber das kann Cal auch nicht zurückbringen.

Augustas Eltern haben sie von der Schule genommen. Sie darf im Herbst auch nicht zurückkommen. Emma war in der ganzen Sache offenbar eher Mitläuferin als Anführerin, deshalb darf sie auf Bewährung bleiben, vorerst bis zu einem Gespräch mit ihren Eltern, wenn sie aus Übersee zurückkehren. Es wird wohl etwas mit deren großzügiger finanzieller Unterstützung zu tun haben, dass Emma so glimpflich davongekommen ist.

Jedenfalls tut es mir unendlich leid, dass es so weit kommen musste. Hätte ich doch nur den Mund aufgemacht oder die Mädchen zur Rede gestellt, als ich mitbekam, wie sie sich davonstahlen! Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass sie Cal immer wieder belästigten. Wir waren alle auf seiner Beerdigung, auch wenn er als Selbstmörder nicht auf dem kirchlichen Friedhof beigesetzt werden durfte. Mrs Salley ist außer sich vor Schmerz und schafft es kaum, den Betrieb in der Bäckerei aufrechtzuerhalten. Es tut weh, sie nur anzusehen.

Ich habe gehört, dass die Mädchen auch Stephen eine weiße Feder gegeben hatten. Kürzlich habe ich ihn gesehen, jetzt, wo er den Sommer über zu Hause ist. Früher oder später wird er sich wohl doch melden, auch wenn es mir im Herzen wehtut, ihn mir dort drüben vorzustellen.

Ich habe dir immer wieder geraten, Stephen zu vergessen, und vermutlich weißt du, warum. Nicht weil er Deutscher ist, auch wenn ich wünschte, er wäre es nicht. Stephen ist der einzige Mann, an dem mir jemals etwas gelegen ist. Bitte lass ihn los. Du bist klug, hübsch und als Autorin erfolgreich. Du kannst jeden Mann haben, den du willst. Jetzt, wo du in Halifax bist, kannst du ja vielleicht einen Kanadier finden, jemanden, der mehr so ist wie du.

Es tut mir leid, dass wir gestritten haben. Ich hoffe, wir können Freundinnen bleiben.

Deine Lakeside-Schwester
Dot