Kapitel siebzehn

MAI 1935

Ich ließ mich in meinen Lieblingssessel in der Bibliothek sinken und faltete den neuen Brief von Bernadette auf, der dicker als sonst war. Ich würde ihn auch Portia zu lesen geben, aber zuerst wollte ich ihn allein auf mich wirken lassen.

Liebe Mutter,

gestern Abend war unsere Frühjahrsaufführung: »Was ihr wollt« von William Shakespeare. Im beiliegenden Programmheft kannst du sehen, welche Rolle ich gespielt habe.

Es ist wohl nicht anmaßend zu sagen, dass du stolz auf mich gewesen wärst. Ich habe keine einzige Zeile vergessen und meinen Text fehlerfrei vorgetragen.

Zum ersten Mal seit Tagen lachte ich laut. »Ja, mein Schatz.« Ich griff nach dem Programm und sprach in den leeren Raum hinein. »Und wie! Ich bin so stolz auf dich. Immer.«

Als ich mich wieder dem Brief zuwandte, verging mir jedoch das Lachen.

Mrs Meyer hat mich für meinen Auftritt gelobt, und sie sagte, als das Licht durch die Weinreben hindurch auf mein Gesicht fiel, hätte ich sie an ein anderes Mädchen aus Nova Scotia erinnert, das vor langer Zeit mit ihr zusammen zur Schule gegangen sei. Als ich sie nach dem Namen des Mädchens fragte, sagte sie: Adelaide MacNeill – Addie. Sie sei ihre beste Freundin und außerdem Klassenbeste gewesen. Auch sie sei Lehrerin geworden und habe jedes Frühjahr, solange sie in Lakeside unterrichtete, bei dem gleichen Stück wie heute im Pavillon Regie geführt. Ich fragte sie, ob ihre Freundin manchmal zur Frühjahrsaufführung oder zur Abschlussfeier zurückkomme, aber sie sagte Nein, sie sei vor langer Zeit gestorben.

Das war so traurig, Mutter. Mrs Meyer schien den Tränen nah zu sein. Ich glaube auch nicht, dass sie heute eine beste Freundin hat. Ihr Mann scheint ihr einziger Freund zu sein.

Dabei musste ich an Vater denken, der nicht einmal ein Grab hat, das wir besuchen könnten. Du musst ihn furchtbar vermissen, selbst nach all den Jahren. Für mich ist es fast, als hätte es ihn nie gegeben. Ich wünschte, ich hätte ihn gekannt. Wir hatten Glück, du und ich, dass wir die Explosion und den Krieg überlebt haben. Trotz meiner Brandnarben bin ich froh darüber, dass ich leben darf – dass wir leben dürfen. Das ist ein großes Geschenk, findest du nicht auch?

Ich muss dich noch einmal fragen, Mutter: Möchtest du nicht doch zu meiner Abschlussfeier kommen? Es würde mir so viel bedeuten, diesen Tag mit dir zu feiern, und ich würde dir gerne alles zeigen, was in den letzten Jahren hier mein Lebensinhalt war. Ich möchte mit dir in der Stadt Tee trinken, so wie die anderen Mädchen mit ihren Müttern. Ich möchte dir den Pavillon am See zeigen, unter dem wir unsere Theaterstücke aufführen. Auf diesem See stand ich zum ersten Mal auf Schlittschuhen. Oh, wie ich das Schlittschuhlaufen liebe! Man fühlt sich so frei dabei! Und ich würde dir gerne jemand ganz Besonderen vorstellen, jemanden, den du nur hier kennenlernen kannst.

Ich möchte dir auch die Schule zeigen. Habe ich dir schon mal erzählt, dass es hier auch Pferde gibt, die alle entweder Old Clem oder Young Clem heißen – ganz gleich, wie alt oder jung sie sind? Das ist eine Art Tradition, die ein Pferdepfleger eingeführt hatte, der früher hier arbeitete. Es gibt so viel, was ich dir zeigen möchte, bevor ich diesen Ort verlassen muss. Dann könnten wir gemeinsam für den Sommer nach Hause reisen. Das wäre ein großes Abenteuer!

Mutter, du sollst wissen, dass ich deine Brandnarben überhaupt nicht sehe. Das habe ich noch nie. Du bist einfach meine wunderbare Mutter, und jeder, den ich kenne, wird dich genauso sehen. Ich vermisse dich. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Bitte komm!

Drücke Portia ganz fest von mir. Ich kann es gar nicht erwarten, euch beide zu sehen.

Deine Bernadette

Der Brief wog schwer, wie er da offen auf meinem Schoß lag – schwerer, als ich es ertragen konnte. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen in der Hoffnung, dass der Schmerz in meiner Brust vergehen würde.

Bernadette, mein liebes Mädchen, könnte ich doch nur die Vergangenheit ungeschehen machen, ich würde keinen Augenblick zögern. Aber würde ich den Knoten der Vergangenheit lösen, wäre unser Leben nicht mehr das, was es vorher war. Und vielleicht würde es das auch nie wieder sein.

Sieht der Pavillon noch genauso aus? Unser Pavillon? Wie haben sich die Ladys von Lakeside verändert?

Stephen. Das letzte Mal, als wir uns im Pavillon trafen …

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SEPTEMBER 1917

Dorothy gab mir den Zettel, den Stephen nach Mrs Evans Entlassung gewagt hatte, ins Internat zu bringen. Ich sah es in Dots Blick, wie viel Überwindung es sie gekostet hatte, und sie tat mir leid. Aber ich wusste, dass Stephen sie nicht liebte, nicht so liebte, wie sie es sich erhoffte und erträumte. Er liebte mich. Und sollte ich die Liebe meines Lebens aufgeben, nur weil sie ihn auch wollte? Würde sie es nicht irgendwann schaffen, loszulassen und sich jemand anderem zuzuwenden, wenn diese Tür ihr verschlossen war?

Das waren Fragen, auf die ich keine Antworten hatte. Ich wusste nur, dass unsere Liebe über unserem jahrelangen Briefwechsel und dem Einander-Anteil-Geben gewachsen und gediehen war und dass ich Stephen mit jeder Faser meines Seins liebte.

Ich wartete bis Viertel vor zehn. Alle Türen waren schon abgeschlossen und die Lichter in den Schlafsälen ausgeschaltet. Ich schlich mich durch die hintere Küchentür hinaus, bedacht darauf, den Riegel offen zu lassen, um auf dem Rückweg keinen Lärm zu machen. Im Schein des Halbmonds ging ich den Hügel hinunter zum See. Ich konnte Stephens Gesicht nicht sehen, aber dort, im Schatten des Vordachs, eine Gestalt ausmachen.

»Addie?« In der Dunkelheit hörte ich ihn meinen Namen flüstern, eine so reine, zärtliche Einladung, dass ich in seine Arme lief.

Er erdrückte mich fast mit Küssen, seine Arme waren so fest um mich geschlungen, dass ich kaum atmen konnte. Er küsste mein Haar, meine Handgelenke, mein Gesicht, meinen Hals, und ich küsste ihn mit einer Leidenschaft zurück, die ich nicht in mir vermutet hätte. Wäre ich in diesem Moment gestorben, wäre ich in den siebten Himmel entschwebt.

Wie lange es dauerte, bis einer von uns beiden sprach, weiß ich nicht mehr. Oben auf dem Hügel schlug die Uhr im Schulturm zehn und dann Viertel nach zehn.

»Ich wusste nicht, ob du kommen würdest.« Er war ganz außer Atem.

»Hast du an mir gezweifelt?«

»Das nicht, aber … ich wusste nicht so genau, ob Dorothy dir meinen Zettel geben würde.«

Er weiß Bescheid. »Doch, das hat sie.«

Wir hielten uns eng umschlungen, schmiegten uns einfach aneinander und ruhten in den Armen des anderen. Ich fühlte mich lebendig, zufrieden, fröhlich, hoffnungsvoll und sicher.

»Ich habe mein juristisches Examen bestanden, Addie. Ich bin fertig.«

»Stephen!« Darauf hatte er seit Jahren hingearbeitet. »Herzlichen Glückwunsch! Ich bin so stolz auf dich! Wirst du hier in Farmington praktizieren?«, fragte ich zweifelnd und hoffnungsvoll zugleich. Das hatte er immer vorgehabt, aber jetzt …

»Nein.« Er trat einen Schritt zurück. »Wie die Dinge hier stehen und wie der Krieg läuft, nein. Ich muss erst meinen Militärdienst leisten.«

»Was?« Ich wusste, dass er eingezogen werden könnte, und hatte gehört, was Dorothy gesagt hatte, aber ich hätte nicht erwartet, dass er sich freiwillig melden würde. »Kannst du nicht warten, bis du einberufen wirst? Sie ziehen nicht jeden ein.«

»Du weißt, dass das nicht geht.«

»Warum nicht? Bitte, tu das nicht!«

»Du weißt, warum. Wenn ich mich nicht melde, werde ich für immer das Abzeichen der Schande tragen. Da könnte ich mir gleich ein Schild umhängen mit der Aufschrift: Feiger Deutscher, geh nach Hause. Wer würde schon die Dienste eines Anwalts mit einem solchen Aushängeschild in Anspruch nehmen?«

Ich ließ mich auf die Bank fallen. »Wir haben doch gerade erst … und jetzt gehst du weg.«

»Du gehst doch auch weg. Du hast geschrieben, dass du nach Halifax zurückkehrst.«

»Zur Geburt des Babys, ja, und noch ein paar Monate zum Helfen. Aber ich komme wieder.«

In seiner Stimme lag ein Lächeln durch die Dunkelheit hindurch. »Dann weiß ich ja, wo ich dich finde.« Er setzte sich neben mich. »Dieser Krieg kann nicht ewig dauern. Mithilfe der Amerikaner wird sich das Blatt bestimmt bald wenden.«

»Aber die Schützengräben …« Die Berichte, die ich gelesen hatte, waren schrecklich … Schlamm, Ratten, Ruhr, wenn die Deutschen unsere Soldaten nicht gleich mit Maschinengewehrfeuer niedermähten, bei lebendigem Leib mit Flammenwerfern verbrannten oder mit Senfgas vergifteten und ihnen das Augenlicht nahmen.

»Wir können nicht wissen, wohin sie mich schicken. Ich spreche fließend Deutsch, das kann nützlich sein. Vielleicht ist es weniger schlimm, als hier zu leben.«

»Wann wirst du gehen?« Mit dem Kloß in meinem Hals konnte ich kaum sprechen.

»Ich habe meinem alten Professor zugesagt, im November noch vor seiner Klasse zu sprechen, und hoffe dann, zu Thanksgiving rechtzeitig wieder zu Hause zu sein.«

»Ich reise noch vor Thanksgiving ab. Sehen wir uns noch einmal?« Mich im Dunkel der Nacht davonzustehlen, war eine Sache – das konnte ich nicht oft wagen –, aber wenn er an die Universität und ich nach Halifax zurückkehren und er dann nach Übersee gesandt werden würde …

»Es gibt noch etwas, was ich tun möchte, bevor ich zur Armee gehe und irgendwo anders hinmuss.« Er sprach ganz leise. »Ich würde gerne nach Halifax fahren. Was meinst du dazu? Würden sie mich dort haben wollen? Willst du?« Er griff nach meiner Hand.

»Was?« Ich versuchte, den Nebel in meinem Kopf zu lichten, aber er war zu trübe vor Sorge.

»Ich würde dich gerne in Halifax besuchen, Addie, deinen Bruder kennenlernen und mit ihm sprechen.«

»Mit Lemuel?«

Wieder hörte ich das Lächeln in Stephens Stimme. »So heißt er doch, oder?«

»Warum willst du …?«

»Ich möchte ihm eine sehr wichtige Frage stellen, eine, die ich eigentlich lieber deinem Vater gestellt hätte, wenn das noch möglich wäre.«

Ich setzte mich aufrechter hin.

»Wenn Lemuel mir grünes Licht gibt, dann würde ich die Frage gerne dir stellen … wenn du das willst.« Er streifte mir den Handschuh ab, nahm meine Hand in seine und streichelte mir über die Handfläche.

»Ja. Ja, ich will.« Meine Gedanken überschlugen sich, fast so schnell wie mein Herz schlug. »Wann? Wann kommst du?«

»Bald nach Thanksgiving. Ich bin es meinen Eltern schuldig, ein paar Tage hier bei ihnen zu bleiben. Sagen wir Anfang Dezember, bevor ich mich zur Armee melde. Ich möchte weggehen in dem Wissen, dass du auf mich wartest, und wenn ich nach Hause komme, so Gott will, dann können wir –«

»Ja!«

Er zog meine Hand an seine Schulter. »Dann sehen wir uns in Halifax. Sagen wir am Sonntag, dem 2. Dezember, der Anfang der Woche soll für uns der Beginn eines neuen Lebensabschnitts sein.«

»Du weißt sogar das Datum?«

»Ich kann kaum mehr etwas anderes denken, Addie; habe schon gemeint, der Zeitpunkt würde nie kommen. Ich kann es gar nicht erwarten.«

»Ich möchte dich aber nicht bei meinem Bruder treffen.« Ohne es richtig erklären zu können, wollte ich, dass der Moment, wenn Stephen um meine Hand anhielt, nur uns gehörte, wollte ihn nicht teilen mit einer Familie, zu der ich mich nicht ganz zugehörig fühlte. »Wie wäre es mit dem Pavillon … in den Public Gardens, gleich beim Victoria Park. Das ist mein liebster Ort in Halifax. Er erinnert mich immer ein wenig an den Pavillon hier.«

»An unseren Pavillon.« Wieder lag ein Lächeln in seiner Stimme. »Ich versuche, am Samstagabend in Halifax zu sein. Dann kann ich am Sonntag mit deinem Bruder sprechen. Das dürfte nicht lange dauern.«

»Nach der Kirche wird er zu Hause sein. Oder lieber nach dem Mittagessen.«

Stephen lachte. »Ja, ich glaube, ich frage ihn lieber nicht vor dem Essen. Mit leerem Magen könnte die Antwort anders ausfallen.«

Auch ich lächelte. »Ab halb zwei sollte er Zeit haben. Ich warte dann im Pavillon auf dich. Das ist vom Haus aus nur ein zehnminütiger Fußweg.«

»Treffen wir uns um zwei oder halb drei, je nachdem, wie sehr dein Bruder mich in die Mangel nimmt.«

»Ich werde da sein. Vierzehn Uhr … im Pavillon … in den Public Gardens.« Was könnte wunderbarer sein?

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MAI 1935

Über meinem Schwelgen in Erinnerungen war der Nachmittag wie im Flug vergangen. Ich faltete Bernadettes Brief mit ihrem Programm zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Vielleicht würde ich ihn Portia lieber doch nicht zu lesen geben. Ich würde ihn zu dem Päckchen mit Bernadettes anderen Briefen legen, die ich mit einer rosa Schleife zusammengebunden hatte. Jeden einzelnen Brief, jede einzelne Karte hatte ich aufbewahrt. Denn ich liebte Bernadette wie mein eigenes Leben. Sie war das Kind meines Herzens.

Ich wusste, dass ich mich nicht mehr lange davor drücken konnte, ihr die Wahrheit zu sagen. Noch nicht gleich, aber bald. Sie war jetzt in einem Alter, in dem ich sie nicht mehr einfach ablenken konnte, wenn sie mich mit ihren bohrenden Fragen immer hartnäckiger bedrängte. Früher war sie mit meinen Ausflüchten zufrieden gewesen, aber jetzt war sie siebzehn – keine zehn oder zwölf mehr.

Es gab wohl niemand anderen, der es ihr sagen würde – oder könnte. Aber Dorothys Andeutungen, dass Bernadette ihrer langjährigen Freundin ähnele, würden in dem Mädchen vielleicht mehr Fragen aufwerfen, als ich zu beantworten wagte, und könnten die Situation eskalieren lassen. Das durfte ich nicht riskieren. Trotzdem war ich nicht bereit, zur Abschlussfeier zu fahren und zuzusehen, wie Stephen an der Seite seiner Frau am Festzug teilnahm. Was sollte – was konnte – ich denn zu ihnen sagen?