MAI 1935
Dorothy war froh gewesen, das Auto an der Schule stehen zu lassen und mit ihrem Mann nach der Theateraufführung im Mondschein nach Hause zu spazieren. Am nächsten Morgen hatte sie es genossen, zu Fuß zur Schule zu gehen, um noch eine Weile ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Selbst jetzt, nach Tagen, erinnerte sie sich gern daran, wie ihr Mann auf dem Heimweg seinen starken Arm um sie gelegt und sie seine Nähe gespürt hatte. Jetzt erkannte sie, dass es dumm von ihr gewesen war, sich in ihre Sorge und ihren Zweifel hineinzusteigern. Er hatte ihr schon auf so vielfältige Weise seine Liebe gezeigt. Früher hatte sie geglaubt, die Erinnerung an Addie wegwischen zu können. Nur durch ihre eigene Dummheit hatte sie sie selbst am Leben erhalten. Höchste Zeit also, sich von ihren Gewissensbissen zu befreien. Doch seine Reaktion im Pavillon war Balsam für ihre Seele gewesen. Sie hatte die Worte aus seinem Mund hören müssen.
Auf dem Heimweg hatte er zweimal mit den Lippen ihr Haar gestreift. Sie schmunzelte beim Gedanken an seinen Gesichtsausdruck, als sie lächelnd zu ihm aufgesehen hatte, glücklich und zufrieden über den Augenblick.
Zu Hause waren sie nach all den Vorbereitungen und Feierlichkeiten so müde gewesen, dass sie es bei einem Gutenachtkuss beließen und sich Rücken an Rücken schlafen legten. Dorothy war schon fast eingedämmert, als er verschlafen sagte: »Hat Bernadette dich eigentlich heute an jemanden erinnert?«
Dorothy öffnete die Augen und entgegnete bemüht beiläufig: »Eigentlich nicht … Warum?«
»Ach nichts. Bestimmt nicht. Nur in der letzten Szene erinnerte sie uns an Addie – Addie MacNeill.«
Dorothy schluckte. Ihr Mund fühlte sich staubtrocken an. »Uns?«
Er schmunzelte. »Mich und den ›anderen‹ Meyer-Bruder.«
»Hm«, erwiderte sie. »Addie war doch Kanadierin, wie Bernadette. Vielleicht liegt es an ihrem Akzent.« Dabei wusste Dorothy genau, dass das nicht stimmte. Addie hatte ihren Akzent von der Prinz-Edward-Insel nie abgelegt. Bernadette hatte eher den Zungenschlag der Haligonianer.
Er seufzte. »Ich weiß nicht. Es war noch mehr als das. Bernadettes Gesichtsausdruck, ihr Profil – irgendwas – hat uns einfach an Addie erinnert. Witzig, weil wir beide den gleichen Gedanken hatten. Dabei hatte ich lange nicht an Addie gedacht.« Er rollte sich auf die Seite, kuschelte sich an seine Frau und liebkoste ihr Ohr.
»Hast du lange an sie gedacht? An Addie?«
»Nein.« Er lächelte – das hörte sie an seiner Stimme, die immer noch verschlafen war. »Nur weil sie so gerne bei der Frühjahrsaufführung Regie geführt hat … und bei Bernadettes Anblick heute musste ich an sie denken. Und jetzt schlaf, meine Dorothy. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.« Aber bei Dorothy war an Schlaf nicht zu denken gewesen. Irgendwann hatte sie es aufgegeben und sich ihren Erinnerungen hingegeben. Auch jetzt, nach Tagen, spielte sie in Gedanken jene Nacht und alles, was damals passiert war, immer wieder vor ihrem inneren Auge ab.
SEPTEMBER 1917
In der Nacht, in der Addie Stephen im Pavillon treffen sollte, ließ Dorothy ihre Tür einen Spalt offen stehen. Schon damals fragte sie sich, ob dahinter ein krankhaftes Verlangen stand, sich selbst zu quälen, oder ob sie im Stillen hoffte, dass Addie aus irgendeinem Grund enttäuscht, wütend oder weinend in ihr Zimmer auf der anderen Seite des Flurs zurückkehren würde; dass sie und Stephen sich streiten und ihre Beziehung beenden würden. Aber als sie Addie gegen Mitternacht hereinschleichen und leise ihre Tür hinter sich schließen hörte, war kein Schluchzen aus ihrem Zimmer zu vernehmen. Nur bei Dorothy flossen die Tränen.
Am nächsten Morgen strahlte Addie trotz ihres Schlafmangels. Dorothy wollte es eigentlich gar nicht wissen, und doch musste sie wissen, wie die Dinge standen.
Als sie nach dem Frühstück zur Morgenandacht gingen, holte Dorothy Addie ein. »Und, geht es Stephen gut?«
Addie lächelte, ohne Dorothy anzusehen. »Sehr gut. Er hat sein Examen als Anwalt bestanden. Wenn der Krieg vorbei ist, will er eine Kanzlei eröffnen oder sich einer bestehenden anschließen.«
»Das ist ja wunderbar. Das hatte er schon immer gewollt.«
»Ja.« Aber Addie strahlte nicht nur aus Freude über Stephens Erfolg.
»Und er musste sich mit dir in der Dunkelheit treffen, um dir das zu erzählen?«, bohrte Dorothy nach, wohl wissend, dass sie es bereuen würde.
Addie verlangsamte ihren Schritt und schaute nach rechts und links. Als die Mädchen alle weg waren, nahm sie Dorothy zur Seite. »Es ist noch ein Geheimnis, du darfst es also nicht weitersagen.«
Dorothy bemühte sich, den Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken.
»Er möchte bei Lemuel um meine Hand anhalten, Dot. Er will mir einen Heiratsantrag machen.« Addie zitterte beinahe vor Begeisterung – eine Begeisterung, die Dorothy nicht teilen konnte.
»Hat er das wirklich gesagt?«
»Nach dem Thanksgiving – Anfang Dezember, wenn ich in Halifax bin – will er kommen und mit Lemuel reden. Danach treffen wir uns in den Public Gardens, wo er mir … eine Frage stellen will. Die Frage.« Addies Atem kam in schnellen, kurzen Stößen. »Bitte freu dich mit mir, meine Liebe!«
Addies besorgter Blick war für Dorothy wie ein Dolchstoß mitten ins Herz. »Natürlich. Ich wünsche euch alles Gute.« Dorothy ging davon und eilte zu dem Raum, wo die Morgenandacht bereits begonnen hatte.
»Dot – Dorothy!«, flüsterte Addie, aber Dorothy konnte sich nicht umdrehen, konnte keinen klaren Gedanken fassen, und das sollte Addie auch nicht von ihr erwarten.
Sie musste es Addie hoch anrechnen, dass sie es ihr nicht ständig unter die Nase rieb, nicht pausenlos über Stephen oder ihre Hoffnungen und Träume sprach, wie es Dorothy vielleicht selbst getan hätte, wenn sie die Glückliche gewesen wäre. Eigentlich sprachen sie überhaupt sehr wenig miteinander, obwohl Addie es immer wieder versuchte.
Dorothy verhielt sich so höflich und zurückhaltend, wie weder sie selbst noch Addie es von ihr kannte. Ihre Stimmung glich einem kühlen Herbsttag, genau wie der, an dem Addie nach Halifax aufbrach.
In der Nacht vor Addies Abreise klopfte es an Dorothys Tür.
»Dot, darf ich bitte reinkommen?«
Zögern und widerstrebend öffnete Dot die Tür. »Was ist?« Am liebsten hätte sie gesagt: Was willst du eigentlich noch von mir?
Addie trat ein und zog sanft die Tür hinter sich zu. »Ich werde für ein paar Monate weg sein, Dot. Und ich würde gerne in dem Wissen gehen, dass zwischen dir und mir alles in Ordnung ist – dass nichts zwischen uns steht.«
»Was? Die Ladys von Lakeside und all das? Willst du darauf hinaus?«
»Ja. Schwestern auf ewig, wie wir es immer waren.«
»Ich glaube, das hast du selbst hinter dir gelassen, als du Stephen schöne Augen gemacht hast, obwohl du wusstest, dass ich ihn mag. Du hast dich dazwischengedrängt und ihn mir gestohlen, Addie.«
»Das stimmt nicht. Wir – wir lieben uns einfach. Das war nie gegen dich gerichtet; das weißt du genau.«
»Ach ja? Soll ich etwa sagen: ›Ach, es ist schon okay. Es macht mir nichts aus, dass du mir das Herz gebrochen hast.‹ Das wäre ein bisschen viel verlangt.«
Addie stand da und starrte Dorothy an, als hätte sie eine Tracht Prügel bezogen. Dorothy blickte über sie hinweg.
»Es tut mir leid«, flüsterte Addie, »so sehr leid, Dot. Ich wollte – wir wollten – dir niemals wehtun. Du bedeutest mir viel. Du bist die beste Freundin, die ich jemals hatte, und …«
Aber Dorothy drehte ihr den Rücken zu, schlang die Arme eng um sich und kämpfte gegen die Tränen an. »Bitte, Addie. Geh einfach.«
Es verstrich eine ganze Minute, bevor Dorothy hörte, wie Addie die Tür langsam schloss – der symbolische letzte Stein auf der meterhohen Wand zwischen ihnen.