MAI 1935
Es hatte für Dorothy fast etwas Heilsames, in der Morgendämmerung aufzustehen, während ihr Mann noch leise schnarchte, in der Kühle des späten Frühlingsmorgens zu Fuß zum Internat zu gehen und die Sonne über den Bäumen aufgehen zu sehen. Sie würde das Tagebuch aus ihrer Schreibtischschublade holen, in dem sie sich als junge Frau ihren Kummer von der Seele geschrieben und ihre Erfolge festgehalten hatte.
Aber auch diesem Buch hatte sie damals nicht alles anvertraut, was sie getan hatte. Natürlich hatte sie Andeutungen gemacht, aber die Angst, dass jemand es eines Tages doch finden könnte, hatte sie davon abgehalten, die ganze Geschichte niederzuschreiben. Diese Angst hatte sie auch bewogen, das Tagebuchschreiben irgendwann ganz aufzugeben, obwohl sie das Buch nie weggeworfen hatte.
Wie wäre es, jetzt alles aufzuschreiben, es als Geständnis zu Papier zu bringen? Könnte das helfen? Wäre es heilsam?
Aber Dorothy war klar, dass sie es nicht tun würde. Denn sie wusste aus eigener Erfahrung, dass manchmal Dinge geschahen – unerwartete, tragische Dinge –, die man nicht ungeschehen machen konnte. Der Gedanke, dass sie eines Tages von einer Katastrophe, einer plötzlichen Behinderung oder gar dem Tod eingeholt werden könnte, ohne das Tagebuch zuvor vernichtet zu haben, war ihr unerträglich. Denn dann würde womöglich ein geliebter Mensch es lesen und ihre Taten verurteilen; könnte sie dann vielleicht nicht mehr lieben, selbst wenn sie diese Erde schon verlassen hätte. Nein, aufschreiben konnte sie es nicht. Aber vergessen ebenso wenig.
Dorothy fühlte sich um Jahre zurückversetzt, sah sich wieder als die junge Frau Anfang Dezember 1917, die seit einer Stunde in der Kapelle mit ihrem Herzen rang, als diejenige, die auf ein Klopfen hin zwei Stunden nach Beginn der Nachtruhe die Eingangstür des Internats geöffnet hatte.
DEZEMBER 1917
»Stephen – du siehst ja halb erfroren aus. Was machst du denn hier?« Er stand auf der Türschwelle, sichtlich verstört, das Haar zerzaust, aber immer noch der attraktivste Mann, dem sie jemals begegnet war. Sie zog ihn aus der Kälte der Nacht herein ins Warme, obwohl sie wusste, dass sie ihn so spät nicht in eine Mädchenschule einlassen durfte. Doch gerade die späte Stunde, die Kälte und sein flehender Blick reizten sie ungemein.
»Es tut mir leid, dass ich so spät noch vorbeikomme, aber ich bin verzweifelt. Bitte, Dot, du musst mir helfen.«
»Ich würde alles für dich tun, das weißt du.«
»Ich wollte mich eigentlich mit Addie in Halifax treffen und bei ihrem Bruder um ihre Hand anhalten. Sie hat es dir bestimmt erzählt.«
Dorothy spürte, wie ihr ganzer Körper sich anspannte. Aber Stephen war hier. Er war nicht hingefahren. Das musste doch etwas zu bedeuten haben. »Ja.«
»Weißt du denn noch nicht? Vorgestern Nacht hat bei uns jemand Steine in die Fenster geworfen und den Stall angezündet.«
»Was?« Dorothy hatte nichts davon mitbekommen, aber sie hatte auch jeden Tag von morgens bis abends unterrichtet, und die Mädchen durften das Schulgelände momentan nicht einmal am Wochenende verlassen. Keine Zeitung war ihr in die Hände gefallen, kein Gerücht hatte sie erreicht.
»Mama wurde von einem Ziegelstein getroffen. Der Arzt spricht von einer Gehirnblutung. Sie hat seitdem die Augen nicht mehr aufgemacht und … wird es wohl nicht überleben.«
»Nein. Nein!« Dorothy konnte es nicht fassen. »Wer tut so etwas!«
Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wir wissen nicht, wer, aber wir wissen, warum. Die Behörden patrouillieren um unser Anwesen und bestehen darauf, dass wir zu Hause bleiben. Angeblich wollen sie damit weiterer Gewalt vorbeugen, aber es fühlt sich eher so an, als würden sie uns einsperren, als jemand anderen fernzuhalten.«
Es war so grausam. Ganz bestimmt hatte der Peiniger ihnen nur Angst machen und niemanden töten wollen.
»Jonas und ich haben heute unsere Einberufungsbefehle zum Militärdienst bekommen – Übersetzungsarbeit. Wir müssen uns diese Woche melden.«
»So bald schon?«
Stephen schüttelte den Kopf. »Offenbar kam der Brief verspätet an – oder der Termin wurde vorverlegt. Keine Ahnung, aber ich muss Addie Bescheid geben, dass ich unmöglich vor meiner Abreise noch zu ihr nach Halifax kommen kann. Ich habe versucht durchzusetzen, dass ich wegen Mama hierbleiben darf … aber sie lassen nicht mit sich reden. Wenn ich nicht freiwillig gehe, holen sie mich persönlich. Vielleicht tun sie das ohnehin. Ich weiß nicht einmal, ob Mama noch einen Tag durchhält.«
Die vielen Hiobsbotschaften raubten Dorothy den Atem.
»Unsere Telefonleitungen haben sie gekappt, sodass ich Addie nicht anrufen kann. Ich musste mich heimlich davonstehlen und muss zusehen, wie ich unbemerkt wieder zurückkomme. Sie haben unser Haus durchsucht und Briefe an Verwandte in Deutschland gefunden. Mutter und Vater wird Spionage vorgeworfen. Es geht das Gerücht um, dass Vater interniert werden soll, wegen der Briefe und weil er kein amerikanischer Staatsbürger ist. Kann ich euer Telefon benutzen? Bitte! Ich zahle für den Anruf nach Kanada.« Er holte ein paar Münzen aus der Hosentasche.
Dorothy blieb beinahe das Herz stehen. Sie würde alles für Stephen tun – aber das? »Die Schule hat nur ein Telefon. Es ist im Büro der Direktorin – und das ist abgeschlossen. Sie kommt erst morgen früh wieder.«
»Kommst du nicht rein? Hat denn niemand einen Schlüssel?« Stephen sah so aus, als würde er notfalls die Tür aufbrechen.
»Nein.« Dorothy tat es schrecklich leid, was mit Stephens Mutter geschehen war und dass er einberufen wurde. Aber sie würde nicht riskieren, ihre Stelle zu verlieren, um Addies Sorge um einen Tag zu verkürzen. »Du kannst morgen wiederkommen, aber ich kann dir nicht versprechen, dass sie dich das Telefon benutzen lässt. Geh doch zu meinen Eltern, da kannst du telefonieren. Sie haben bestimmt nichts dagegen.«
Stephen schüttelte den Kopf. »Ich habe es schon bei euch versucht, aber auch dort sind die Leitungen gekappt. Ihr habt uns alle die Treue gehalten, und dafür sind wir dankbar, aber es bringt deine Familie in Gefahr. Bitte, kannst du nicht versuchen, irgendwie in das Büro zu kommen?«
Dorothy holte tief Luft. Wie könnte sie es ihm abschlagen? »Komm mit, aber sei ganz leise.«
Bei aller Vorsicht knarrte trotzdem die eine oder andere Bodendiele, als sie sich gemeinsam zum Büro der Direktorin schlichen. Dorothy probierte den Türgriff, nur für den Fall, dass Miss Fullbright vergessen hätte, abzuschließen. Keine Chance. In seiner Verzweiflung riss Stephen an der Klinke und schüttelte den gesamten Türrahmen.
»Bitte!«, flehte Dorothy. »Bitte brich die Tür nicht auf. Sonst verliere ich meine Stelle!«
Stephen fuhr sich verzweifelt mit den Fingern durchs Haar. »Was soll ich denn machen?«
»Schreib ihr. Ein Brief braucht nur ein paar Tage, höchstens eine Woche, dann weiß sie Bescheid.«
Er ließ sich gegen den Türpfosten sinken. »Die lassen mich niemals zur Post gehen, um den Brief aufzugeben. Außerdem habe ich gar keine Briefmarken für Kanada.«
»Dann gib ihn mir. Ich gebe ihn für dich auf.« Dorothy wollte nicht, aber für Stephen würde sie es tun.
Der erste leise Hoffnungsschimmer blitzte in Stephens Augen auf. »Würdest du das wirklich tun? Danke. Danke, Dorothy.« Sein Lächeln schnitt Dorothy ins Herz. »Habt ihr Papier?«
Er nahm den Weg zurück, den sie gekommen waren, während sie hinauf in ihr Zimmer schlich, vorbei an Addies geschlossener Tür. Dorothy konnte kaum glauben, dass sie das tat und damit Addies Gefühle für Stephen bewahrte. Ich muss es für Stephen tun. Für Stephen, nicht für Addie.
Sie knickte in ihrem Tagebuch ein leeres Blatt ganz nah am hinteren Einband und trennte es vorsichtig heraus. Dann kramte sie in ihrem Schreibtisch nach einem Stift und schlich auf Zehenspitzen die Treppe wieder hinunter. Stephen saß nach vorne gebeugt auf der Mahagonibank für Besucher im Foyer, den Kopf in die Hände gestützt. Wie gern hätte Dorothy sich zu ihm gesetzt, um ihn zu trösten – ihn zu halten! Als sie ihm Stift und Papier reichte, war es, als stieße sie sich selbst ein Messer ins Herz.
Er griff danach wie nach einer Rettungsleine, ging zum Fenster und kritzelte im Mondlicht etwas auf das Blatt. Als er fertig war, drückte er das Papier an sein Herz und atmete tief durch.
Jede Bewegung, jeder Atemzug rammte Dorothy das Messer tiefer in die Brust.
Als Stephen ihr den Zettel in die Hand drückte, stand er so nah neben ihr, dass Dorothy seinen Atem spüren und nicht mehr ausmachen konnte, ob das Hämmern in ihrer Brust von seinem oder ihrem Herzen kam.
»Gibst du den Brief morgen früh gleich auf? Versprichst du mir das?«
»Ja, natürlich.« Sie schluckte; ihre Kehle brannte wie Feuer. »Versprochen. Ich würde alles für dich tun.«
Er berührte ihre Stirn mit seiner. »Dot. Danke.«
Sie genoss die Wärme seiner Nähe in der Dunkelheit, traute ihrer eigenen Stimme aber nicht.
Dorothy schloss ihr Tagebuch. Dabei zog sie aus der hinteren Klappe des Leineneinbands das gefaltete, vom Alter leicht vergilbte Blatt Papier. Sie öffnete es, glättete den Falz mit beiden Händen, las die Worte, die sie schon in- und auswendig konnte, und fuhr mit den Fingern über Stephens Handschrift. Eigentlich hätte sie den Brief schon längst verbrennen sollen – und hätte es sicher auch getan, wenn Addie überlebt hätte. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Post verloren geht. Ganz besonders in Kriegszeiten. Das hatte Dorothy sich immer eingeredet und wäre auch bereit gewesen, es Stephen und wenn nötig sogar Addie gegenüber so zu sagen. Aber die Notwendigkeit hatte sich natürlich nicht ergeben. Also hatte Dorothy nie etwas gesagt, nicht einmal, als sie damals hörte, dass Addie in der Schule angerufen hatte, sicherlich, um etwas über den Verbleib von Stephen zu erfahren.