Kapitel zweiundvierzig

JULI 1935

Ruth bestand darauf, dass wir mir für die Abschlussfeier ein neues Kleid und einen neuen Hut kauften. Nur widerwillig stimmte ich zu, auch wenn ich es mir durchaus leisten konnte. Ich verabscheute es, mich selbst im Spiegel zu betrachten, was beim Kleiderkauf nun einmal unvermeidlich war. Doch Ruth ließ kein Argument gelten.

»Einkaufen gehen ist eine gute Übung dafür, dich in der Öffentlichkeit zu zeigen.« Ruth öffnete die Tür der Boutique und schob mich hinein.

»Ich zeige mich doch in der Öffentlichkeit. Eine Einsiedlerin bin ich nicht.«

»Wirklich nicht?« Ruth hob die Brauen. »Na ja, ein neues, modernes Kostüm oder zwei werden Wunder wirken.« Sie führte mich in die Abteilung mit den Damenkostümen. »Schau mal, das blaue hier.« Sie nahm ein schön geschnittenes mit Gürtel von der Stange und zeigte es mir. »Der Farbton ist perfekt für dich. Er unterstreicht deine Augen und hebt die Farbe deiner Wangen hervor.«

»Meine Brandnarben?«

Ärgerlich ließ Ruth fast den Bügel fallen. »Addie, wir alle haben unsere ›Unvollkommenheiten‹, wenn du sie so nennen willst. Du siehst anscheinend wirklich nicht, was für ein Juwel du bist!«

»Hör auf, mich so zu nennen«, zischte ich.

»Was? Juwel?«

Ich funkelte sie an. Sie wusste ganz genau, was ich meinte.

»Soll ich dich vielleicht Tom nennen?« Ruth war so geradeheraus wie früher als junges Mädchen.

»Ich heiße Rosaline.«

»Ach, wirklich?«

»Ja, rechtlich gesehen. Das ist der Name, den ich seit 1917 führe.«

»Und du willst tatsächlich so genannt werden?«

Ich überlegte. »Ja. Ich habe mir mein Leben als Rosaline Murray aufgebaut.«

»Ich dachte, das sei dein Pseudonym. Rosaline. Rosamont. Du hattest schon immer ein Faible für Rosen.«

»Rosaline ist mein Name«, entgegnete ich hartnäckig, wenn auch nicht mehr ganz so überzeugend. »Rosamont ist das Haus, in dem ich lebe.«

»Dann trag deinen Namen auch mit Würde.«

»Tu ich doch.«

»Ich meine, leg ein bisschen mehr Selbstvertrauen an den Tag. Du bist Rosaline Murray, eine bekannte kanadische Autorin, Mutter der Abschiedsrednerin des Jahrgangs 1935 am Mädcheninternat Lakeside, um Himmels willen. Steh aufrecht! Lass die Schultern nicht hängen wie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose erwischt wurde.«

Während unserer Schulzeit in Lakeside hatte ich Ruths scharfe Zunge nie so zu spüren bekommen. Mittlerweile sagte sie noch unverblümter, was sie wirklich dachte. Nun, auch ich hatte mich verändert und musste mir das nicht gefallen lassen, schon gar nicht den Vergleich mit dem Kind und der Keksdose.

Ich griff nach dem Kostüm, ging damit in die Umkleidekabine und war tatsächlich etwas überrascht, wie gut es mir stand. Nur mein langes Haar wirkte in Verbindung mit einer so eleganten Kombination fehl am Platz, ein wenig verloren.

»Und, was hab ich dir gesagt?«, kommentierte Ruth sichtlich zufrieden.

Ich hob das Kinn. »Jetzt brauche ich noch einen Hut, Handschuhe, eine Handtasche und Schuhe in der gleichen, oder zumindest einer passenden Farbe.«

Ruth grinste. »Das ist die Add – die Rosaline, die ich kenne. Hier sind noch ein paar mehr Kleider, die du sicher gebrauchen kannst. Probier sie mal an. Und dann geht’s zum Friseur. Höchste Zeit, dass du die lange Mähne abschneiden lässt und in der heutigen Welt ankommst. Ein bisschen Make-up könnte auch nicht schaden.«

Das war die Ruth, die ich kannte.

.

Als Ruth nach dem Abendessen in ihr Hotel zurückgekehrt war, half Portia mir, Kleidung und Accessoires zusammenzustellen und meinen Koffer für die Reise nach Connecticut zu packen. Es war so lange her, dass ich mich nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Öffentlichkeit hatte sehen lassen, dass ich kaum wusste, was ich außer den neuen Kleidern, die Ruth mit mir ausgesucht hatte, mitnehmen und anziehen sollte.

»Das sind richtig schicke Sachen. In denen wirst du eine gute Figur machen.« Lächelnd hielt Portia die Kostüme und Kleider hoch. »Und übrigens, deine neue Frisur und dein Make-up gefallen mir. Genau richtig.«

»Ruth hat mir geholfen. Ach, Portia, tue ich das Richtige? Soll ich wirklich fahren? Soll ich es Bernadette wirklich erzählen? Danach wird nichts mehr sein, wie es war.«

»Manches muss sich ändern.«

Wir packten schweigend weiter und schlossen schließlich den Koffer. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer blieb Portia stehen und drehte sich noch einmal um, die Hand am Türrahmen. »Konzentriere dich einfach darauf, das zu tun, was du für richtig hältst, und nicht das, was diese anderen Frauen als das Beste für dich halten. Du und Bernadette, ihr seid diejenigen, die mit deinen Entscheidungen leben müssen.«

Ich nickte. »Ich kann an nichts anderes denken. Eigentlich will ich Adelaide MacNeill gar nicht wiederauferstehen lassen. Sie war ein trauriges, einsames Mädchen – voller Hoffnungen und unerfüllter Träume. Das bin ich nicht mehr. In so vielerlei Hinsicht ist sie bei der Explosion gestorben.«

»Und Gott erweckte Rosaline Murray zum Leben. Sie stand auf wie ein Phönix aus der Asche.«

Ich lächelte schwach. »So ähnlich. Sie stand auf, zwar nicht von heute auf morgen, aber mit der Zeit.«

»Warum lässt du Rosaline dann nicht leben? Wer außer diesen Ladys von Lakeside und Bernadette weiß es schon und wen sollte es kümmern?«

»MacNeill ist Bernadettes Geburtsname, das Erbe ihrer Eltern.«

»Meinst du, sie würde den Namen ändern wollen, den sie schon ihr ganzes Leben trägt?«

Das konnte ich nicht beantworten.

»Wohl kaum, wenn sie so stolz drauf ist, Rosaline Murrays Tochter zu sein. Und für wen sonst sollte es eine Rolle spielen?«

Für Stephen nicht. Nicht mehr. »Aber die Turnhalle, die sie bauen oder bauen wollen, im Gedenken an …«

»An Adelaide MacNeill, die bei der Explosion in Halifax am 6. Dezember 1917 umgekommen ist. Lass sie in Frieden ruhen, wenn du das wirklich willst. Gott hat dich in einen neuen Menschen verwandelt, in ihm bist du eine neue Kreatur. Willst du nicht feiern, was er für dich getan hat?«

»Ist es nicht falsch, so weiterzumachen?«

»Ist es das wirklich?« Portia legte nachdenklich den Kopf schräg. »Du hast den zweiten Scheck an die Schule geschickt, oder?«

»Ja, und später kann ich auch noch mehr schicken, aber das Geld ist nur für den Schulbetrieb bestimmt. Damit das Internat geöffnet bleiben kann. Und was hat das mit …«

»Da muss ich an Joseph aus der Bibel denken. Er landete irgendwann in Ägypten, weit weg von zu Hause. Dort arbeitete er hart, diente einem fremden Herrn, unter anderem Namen, mit anderer Kleidung, lebte ein ganz anderes Leben, und das alles wegen seiner Brüder. Er hatte alles verloren, und doch wurde er von Gott reich gesegnet, denn er war treu und gab bei allem sein Bestes. Der Pharao war so beeindruckt, dass er ihm einen neuen Namen gab, Zaphnath-Paaneah, und ihn sogar zum Statthalter von Ägypten machte. Viele Jahre später benutzte der Herr Joseph zum Segen für seine eigene Familie – für die, die ihn liebten wie keinen anderen, aber auch für die, die ihn missbraucht und verraten hatten und fürchteten, er könnte ihnen jetzt, wo sie in Not waren, übel gesinnt sein.

Ich glaube nicht, dass der Pharao seinen eingesetzten Statthalter plötzlich Joseph nannte, kaum dass seine Verwandten aufgetaucht waren, du vielleicht?«

Ich setzte mich auf den Bettrand und schüttelte den Kopf über diesen abwegigen Vergleich. Aber war er wirklich so abwegig?

»Ich schätze, Joseph tat einfach weiterhin das, was er all die Jahre getan hatte, die er für den Pharao arbeitete … so gut wie möglich. Währenddessen wurde er zum Segen für seine eigene Familie und sein eigenes Volk, er half ihnen zu überleben. Kommt dir das bekannt vor?«

Ich versuchte, es zu begreifen.

»Weißt du noch, was Joseph sagte? Er sagte seinen Brüdern, dass der Herr das Böse, das sie ihm zugedacht hatten, zum Guten genutzt hat. Mir scheint, dass viele von Adelaide MacNeills Träumen in Rosaline Murray in Erfüllung gegangen sind, und jetzt kann sie denen helfen, die früher für sie da waren …, aber auch denen, die sie verraten haben. Das ist keine Schande. Es ist viel Grund zur Dankbarkeit.«

Wenn mir Tränen in die Augen traten, dann von dem Funken Hoffnung, der in meinem Herzen aufflackerte.

»Schlaf gut, Rosaline Murray.« Lächelnd schloss Portia die Tür.

.

Ruth und ich nahmen ein Schiff nach Boston und fuhren anschließend mit dem Zug nach Hartford, Connecticut.

Während unserer ganzen Reise gingen Portias Worte mir nicht aus dem Kopf – egal, ob Ruth gerade sprach, schlief oder wir aßen. Lass Adelaide MacNeill in Frieden ruhen. Konnte ich das? War es das Richtige? Meine Namensänderung hatte mir ermöglicht, mich vor der Welt zu verstecken und für Bernadette und mich eine neue Existenz aufzubauen. Aber war ich nicht auch in diese Identität hineingewachsen? Rosaline Murray war für mich mehr als ein Pseudonym; es war die Frau, zu der ich geworden war – durch Gottes Gnade. Addie MacNeill wiederauferstehen zu lassen, wäre das nicht so, als würde ich wieder zum Kind werden? Zu der jungen Frau, die einen Mann geliebt hatte, der heute nicht mehr frei war? Der meine Liebe nicht mehr erwidern konnte, falls er mich überhaupt geliebt hatte?

Während der Zug Kilometer um Kilometer über die Gleise rumpelte, wurde mir immer mehr bewusst, dass es die junge Addie war, die den jungen Stephen geliebt hatte. Lächelnd schüttelte ich den Kopf über die traurige Ironie, jetzt etwas zu akzeptieren, weswegen ich mich jahrelang vergeblich gequält hatte.

Stephen ist nicht mehr dieser junge Mann, genauso wenig wie ich diese junge Frau bin. Wer ist er heute? Wer bin ich ohne die Schutzmauer, die ich um mich herum errichtet habe? Herr, ich habe in meiner Trauer über das Zerbrochene gar nicht gemerkt, wie du in mir eine neue Identität aufgebaut hast. Ich war überwältigt vor Staunen.

»Alles in Ordnung bei dir?« Ruth legte ihre Hand auf meine.

»Es wird schon werden.« Ich lächelte. »Euch nach so vielen Jahren alle wiederzusehen, wird sicher nicht einfach. Vielleicht ist die Furcht vor diesen Treffen und den nötigen Erklärungen schlimmer, als es dann tatsächlich wird, das hoffe ich zumindest. In vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden ist es vorbei, und das Leben geht weiter, wie auch immer.«

»Bernadette wird dich immer noch lieben, ganz bestimmt. Du bist ihre Mutter, egal, wie du heißt. Und Dot und Susannah werden genauso begeistert sein wie ich, dich wiederzusehen.« Sie drückte meine Hand und ließ sie los.

In diesem Moment kam der Fahrkartenkontrolleur. Ich wickelte meinen Schal enger um Hals und Gesicht.

»Wenn du dich nicht so bemühen würdest, deine Narben zu verstecken, dann würden die Leute wahrscheinlich gar nicht so genau hinschauen.«

Ich rutschte auf meinem Sitz herum. »Das Verstecken ist mir schon zur Gewohnheit geworden. Ich bin mir nicht so sicher, wie ich sonst – wie soll ich sagen? – leben sollte.«

»Vielleicht kann sich das ändern, jetzt, wo du aus deinem Schneckenhaus kommst. Wir alle haben Dinge, die wir am liebsten niemandem zeigen würden, und ich kann dir versichern, auch deine Freunde und Freundinnen sind älter geworden und haben sich verändert. Niemand von uns ist noch der Mensch, der er war.«

Ich lächelte. »Na ja, du kommst mir nicht so sehr verändert vor.«

Ruth lachte. Eine Minute später vertraute sie mir etwas an: »Dorothy ist mit den Jahren immer ängstlicher und besorgter geworden. Warum, weiß ich nicht. Ich glaube, sie ist glücklich verheiratet, aber es kommt einem so vor, als würde sie die Last der Welt auf ihren Schultern tragen. Ich hab mich oft gefragt, ob es daran liegt, dass sie keine Kinder bekommen kann, oder ob es die Sorge darum ist, das Internat am Laufen zu halten.

Susannah ist die Matriarchin geworden, zu der sie bestimmt gewesen war, also nimm es ihr nicht übel, wenn sie Dinge sagt, die ihrer Meinung nach alle Welt wissen sollte.«

»Das klingt wie Susannah in Reinkultur.« Wieder lächelte ich.

»Ich wollte es eigentlich gar nicht sagen, aber du wirst sehen, dass auch Stephen und Jonas sich verändert haben.«

»Was meinst du damit?«

Ruth seufzte. »Der Krieg. Jonas hinkte stark, als er zurückkam. Er hat einen Granatsplitter ins Bein bekommen und lag tagelang auf dem Schlachtfeld, bis Sanitäter ihn aus dem Niemandsland bergen konnten. Es ist jetzt nicht mehr so ausgeprägt, aber er kann mit dem Bein nicht mehr alles tun, was er gerne täte und früher gerne getan hat. Stephen hat einen Arm verloren.«

»Einen Arm?« Ich hatte mir Stephen niemals als Mann mittleren Alters mit nur einem Arm vorgestellt, der keine Kinder bekommen kann. Mein Herz schmerzte beim Gedanken an ihn und Dot, und zum ersten Mal waren meine Liebe und mein Mitgefühl ehrlich und von tiefstem Herzen.

»Stephen hat auch Verbrennungen durch Senfgas im Gesicht davongetragen und musste mehrmals operiert werden. Er sieht immer noch gut aus, aber über seine Wange zieht sich eine lange Narbe.

Der Krieg hat uns alle verändert, wirklich. Manche Narben tragen wir äußerlich, andere tief in uns. Beides kann zerstörerisch sein. Wir beherrschen es nur einfach besser, die inneren Narben vor der Welt zu verbergen.« Ruth schnaubte. »Letztlich wird der Schmerz durch das Versteckspiel nur tiefer und hält länger an.«

Das konnte ich gut verstehen. »Welche Narben hast du denn versteckt?«

Ruths Augen wurden feucht und ihr Mund verzog sich. »Es gab da jemanden … in Frankreich. Einen Arzt. Wenn du in einem Feldlazarett arbeitest, freundest du dich schnell mit Menschen an, mit denen du tagtäglich zusammenarbeitest – fast jeden Augenblick unter Lebensgefahr –, und du weiß nie, ob der Atemzug, den du gerade tust, dein letzter ist.«

»Was ist passiert?«, flüsterte ich.

»Der Krieg, der verdammte, sinnlose Krieg.« Ruth lehnte den Kopf an die Rückenlehne. »Unser Krankenhaus wurde ausgebombt. Jack war mitten in einer Operation … versuchte ein Menschenleben zu retten, während der Feind mit aller Macht versuchte, uns unser Leben zu nehmen. Ich hätte an dem Tag eigentlich mit ihm im OP stehen sollen, war nur gerade zum nächsten Stützpunkt gegangen, um Nachschub an Material zu besorgen.«

»Es tut mir leid, Ruth, so sehr leid.« Diesmal ergriff ich ihre Hand und wir saßen eine Weile schweigend da. So verschieden sind wir gar nicht, du und ich.

»Da wurde mir erst richtig bewusst, wie sinnlos das alles war. Nach dem Krieg konnte ich nicht wieder als Krankenschwester in der Chirurgie arbeiten. Deshalb habe ich umgesattelt und bin Sozialarbeiterin geworden. Nicht, dass das leicht wäre, aber ich konnte einfach nicht mehr zurück. Beim Händewaschen vor jeder Operation sah ich nicht nur die Hunderte von gebrochenen Männern vor mir, die ich bis in den Tod begleitet hatte, sondern ich sah ihn – sah Jack.«

Wir wussten beide nicht, was wir noch sagen sollten. Die letzten Kilometer saßen wir einfach da und hielten uns an der Hand. Jede von uns war mit ihrem eigenen innerlichen Kampf beschäftigt und bemüht darum, die Hoffnung nicht zu verlieren, das Gestern hinter sich zu lassen und im Heute weiterzuleben.

Während der Zug langsam in den Bahnhof rollte, musste ich unwillkürlich an Dot denken, als junges Mädchen und später als junge Frau. An Mr Potts und Old Clem – oder war es Young Clem gewesen, mit dem sie mich abgeholt hatten? – und daran, wie unerfahren, traurig und verunsichert ich mich damals gefühlt hatte.

Aber auch diese Erinnerungen traten in den Hintergrund, als der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam, denn am Bahnsteig stand, wie wild winkend, meine geliebte Tochter, meine Bernadette! Mir war in den Weihnachtsferien aufgefallen, dass Bernadette weiblicher, selbstbewusster und hübscher geworden war, aber als ich sie in diesem Moment vom Zugfenster aus erblickte, waren die Jahre wie weggefegt, und eine Zehnjährige mit Wollstrümpfen und dicken Haarschleifen hüpfte auf und ab vor Freude, ihre Mutter wiederzusehen.

»Mama! Mama!« Ich sah, wie ihr Mund die Worte formte, auch wenn die guten Manieren, die sie gelernt hatte, ihr verbieten würden, sie laut über den Bahnsteig zu rufen.

Was immer ich befürchtet hatte, verflog in dem Moment; Ängste, die ich jetzt, wo meine Tochter mich so anstrahlte, gar nicht mehr verstehen konnte. Und sie war meine Tochter, die ich mit Liebe und Leidenschaft großgezogen hatte.

»Sie ist so schön!«, flüsterte Ruth, als wir unser Gepäck zusammensuchten und durch den Gang zur Tür strebten.

»Das stimmt.« Ich lachte vor Freude – vor Freude, sie zu sehen, wie sie da stand, so ganz ohne Furcht. Weder ein Glasauge noch Verbrennungen, Hauttransplantationen oder ein deutliches Hinken hatten Bernadette aufhalten können. Und ich habe mich von meinen Ängsten bestimmen lassen. Wie viel habe ich dadurch verpasst! Vergib mir, Herr. Ich will keine Minute mehr verschwenden, komme, was wolle. Das verspreche ich.

.

Direkt auf dem Bahnsteig, wo jeder uns sehen konnte, begrüßte mich Bernadette mit einer so herzlichen, innigen Umarmung, dass es mir schier den Atem nahm. Ich löste mich als Erste von ihr, fest entschlossen, meine Gefühle zu kontrollieren.

»Mama«, wisperte sie. »Deine Frisur – die steht dir richtig gut! Ach, ich bin so froh, dass du gekommen bist.«

Seit Jahren hatte sie mich nicht mehr Mama genannt. »Ich auch, Liebes.«

Ruth, die danebenstand, hüstelte diskret.

»Verzeih mir, Ruth.« Ich schluckte und trat einen Schritt zurück, hielt Bernadette aber immer noch an der Hand. »Ruth, das ist meine Tochter, meine geliebte Tochter, Bernadette. Bernadette, das ist meine Freundin Ruth Hennessey – meine liebe, langjährige Freundin.«

»Und du hältst die Abschiedsrede an unserer alten Schule, habe ich gehört. Gratuliere, Bernadette! Ich freue mich, dich kennenzulernen!« Ruth strahlte und drückte Bernadette herzlich die Hand.

Bernadettes Lächeln verschwand für einen kleinen Augenblick. Verwirrung blitzte in ihren Augen auf, als sie mich fragend ansah.

»Oh.« Ruth holte Luft. »Ich habe mich unpassend ausgedrückt.« Es war das erste Mal, dass ich Ruth vor Verlegenheit rot werden sah.

»Es gibt so viel zu erzählen.« Ich hängte mich bei Bernadette ein und hoffte, Ruths voreilige Bemerkung beiseiteschieben zu können, um den Moment mit Bernadette auszukosten.

»Ich gehe einen Gepäckträger suchen und kümmere mich um unser Gepäck.« Ruth kramte in ihrer Handtasche nach den Gepäckscheinen, sichtlich bereit, uns allein zu lassen. »Wo treffen wir uns wieder?«

»Vor dem Bahnhof. Mrs Meyer hat einen Wagen geschickt.« Bernadette sprach ins Leere und schien mit den Gedanken weit weg zu sein.

»Wunderbar.« Ruth nickte und ging davon. Ich versuchte, Bernadette sanft weiterzuziehen, aber sie rührte sich nicht vom Fleck.

»Was hat sie damit gemeint: ›an unserer alten Schule‹? Ist Miss Hennessey eine Ehemalige von Lakeside?«

»Ja. Ach, das ist so lange her.« Ich zog Bernadette den Bahnsteig entlang, dorthin, wo früher der Warteraum für Damen war. Zeit für ein Geständnis. Ich holte tief Luft. »Um genau zu sein, Liebes: Wir sind beide hier zur Schule gegangen.«

Bernadette blieb stehen und entzog mir ihren Arm. »Was? Du warst in Lakeside? Du hast hier deinen Abschluss …«

»Es ist eine lange … und komplizierte Geschichte.«

»Eine, die du mir nie erzählt hast.« Bernadette lief rot an und in ihren Augen flackerte Schmerz, ja Verrat auf.

»Ich hätte es tun sollen. Jetzt werde ich sie dir endlich erzählen. Aber nicht hier.«

Bernadette ließ sich nun von mir den Bahnsteig entlangziehen, der renoviert worden war, seit ich 1917 den Zug zurück nach Halifax genommen hatte. So vieles hatte sich verändert, doch die Landschaft war immer noch die gleiche – mir war, als würde ich an Gespenstern vorbeigehen, die nur ich sehen konnte.

Natürlich gab es keinen separaten Warteraum für Damen mehr, und die Anbindevorrichtungen für Pferde und Vorrichtungen für Einspänner oder Kutschen waren einem Parkplatz für Autos und Busse gewichen. Wie gerne hätte ich jetzt in das lächelnde Gesicht von Mr Potts geschaut.

»Wo ist der Wagen, von dem du gesprochen hast?«

Bernadette sah mich etwas besorgt an, als würde sie mich gar nicht kennen, deutete aber vage in die Mitte des Parkplatzes.

»Vielleicht sollten wir hier auf Ruth warten, damit sie weiß, wo sie uns findet.«

»Mutter, ich verstehe das nicht. Wie konntest du mir etwas so Wichtiges verschweigen?«

»Weil … eines zum anderen geführt hat. Es gibt so vieles zu erklären.«

»Wann? Wann warst du hier?«

»Vor langer Zeit. Bevor du geboren wurdest.«

»Bevor ihr geheiratet habt, du und Vater?«

Ich biss mir auf die Lippe. Lügen über Lügen. Ich kann ihr nicht noch eine erzählen. »Bitte warte, bis wir allein sind und in Ruhe reden können. Dann erzähle ich dir alles. Versprochen.«

»Alles?«, fragte sie herausfordernd. »Weil du es bis jetzt noch nie getan hast?«

»Ja.« Ich sah ihr direkt in die Augen. Es war an der Zeit. »Alles, was du wissen willst.«