JULI 1935
Dorothy hatte noch ausreichend Zeit, sich mit den Frauen im Pavillon zu treffen – trotz ihrer Beteuerungen, wie beschäftigt sie sei, trotz des aufreibenden Gesprächs mit Stephen und Jonas am Vortag und trotz einer schlaflosen Nacht, nachdem ihr Mann, ohne ein Wort zu sagen, mit seinem Bettzeug aufs Wohnzimmersofa umgezogen war. Doch am liebsten hätte sie sich vor der Begegnung gedrückt; es graute ihr allein bei dem Gedanken, den Hügel hinunterzugehen.
Deshalb wartete sie an der Eingangstür des Internats und knetete nervös die Finger, bis Susannahs schwarze Limousine um Viertel vor zwei in den kreisförmigen Vorplatz einfuhr und eine immer noch wunderschöne Susannah aus der Beifahrertür stieg, die ihr Fahrer ihr offen hielt.
Dorothy strich ihr Kleid und ihr Haar glatt, befeuchtete die Lippen, straffte die Schultern und stand so aufrecht, wie sie und die Ladys von Lakeside es in ihrem ersten Benimmkurs gelernt hatten. Sie betastete Stephens Brief, den sie so schnell wie möglich loswerden wollte, darauf bedacht, ihn nicht vor lauter Nervosität zu zerknittern.
Das ist kein Exekutionskommando. Du tust, was du tun musst, Dorothy Meyer. Du hast jetzt schon mehr Gnade erfahren, als du verdienst. Stell dich dem, was kommt! Dorothy wiederholte diese Worte in ihrem Kopf wie ein Mantra, als sie durch die Tür trat und mit einem gezwungenen Lächeln über den Vorplatz in die weit ausgebreiteten Arme der vor Leben sprühenden Susannah lief.
»Es ist nur richtig, dass wir zuerst hier sind, um Addie zu begrüßen. Ruth sagt, sie sei in mancher Hinsicht verletzlich – in anderer Hinsicht aber auch richtig stark. Ich weiß nicht, was sie damit gemeint hat, aber du kennst ja Ruth, ganz die Psychologin, mit ihrer Sozialarbeit und allem. Was ich absolut nicht verstehe, ist, warum Addie jetzt einen anderen Namen trägt und uns nicht gesagt hat, dass sie noch am Leben ist. Wie kommt sie nur darauf, uns alle jahrelang glauben zu lassen, sie sei umgekommen! Ruth meint, sie schäme sich für ihre Brandnarben. Dachte sie vielleicht, wir würden uns mehr für ihre Narben interessieren als für sie selbst? Und weißt du eigentlich, was mit Bernadettes Vater passiert ist?«
Dorothy schüttelte den Kopf. Sie konnte Susannahs ausschweifendem Monolog nicht mehr folgen und wusste gar nichts.
»Ich habe die Jahre und Monate seit Bernadettes Geburt nachgerechnet, und irgendetwas passt da nicht, es sei denn – na ja, ich frage mich, ob das einer der Gründe für ihr ›Verschwinden‹ sein könnte. Aber das hätte ich wohl lieber nicht sagen sollen. Wer weiß, und wen interessiert es schon? Ich bin nur so überwältigt und glücklich, dass Addie noch lebt.« Susannah ergriff Dorothys Arm. »Schau, da kommen sie schon.«
Dorothy holte tief Luft. Selbst aus der Ferne und nach all den Jahren erkannte sie ihre Freundin – immer noch elegant und stilvoll – und die Jahre waren wie weggewischt. Nach Bernadettes Beschreibung hatte Dorothy sich Addie in altmodischer Kleidung mit dunklem Schleier über Gesicht und Schultern vorgestellt, das Haar nach vorne gezogen, um die Narben zu verdecken. Aber die Frau, die mit Ruth Schritt hielt, trug ein elegantes himmelblau-weißes Kostüm, schräg geschnitten und mit Gürtel – wie in einem Film von Claudette Colbert –, dazu einen schräg sitzenden Hut im Stil von Greta Garbo. Dichte, stufig geschnittene braune Locken umrahmten ihr Gesicht.
Erst als die beiden näher kamen, Ruth strahlend und Addies Blick unsicher, fiel Dorothy auf, dass Addies Gesicht auf einer Seite leicht vernarbt war und das Auge auf der gleichen Seite geradeaus starrte, ohne zu blinzeln, egal, wohin ihr anderes Auge wanderte. Das Make-up kaschierte perfekt die roten Stellen über dem Kragen.
Aber nichts konnte Dorothy die Liebe zu ihrer Freundin nehmen, nichts den Kummer über Addies Ängste und ihren eigenen Egoismus, der sie voneinander getrennt hatte. Den Tränen nahe öffnete sie die Arme und ging auf Addie zu, um ihre Freundin an sich zu drücken.
Addie schauderte, während Dorothy sie noch fester an sich zog. Wenn ich sie nicht loslasse, wird vielleicht alles Böse vergehen und nur die Liebe bleiben. »Es tut mir leid. So leid«, sagte Dorothy immer wieder und meinte es aus tiefstem Herzen.