22
Verlorenwasser, 2005
Nach seinem Bericht über die Ereignisse im Spreewald hatte Holland einen Moment geschwiegen. Jetzt sah er auf und betrachtete seine Kidnapperin, die mit dem schwarzen Kapuzenshirt und ihren dunklen Haaren beinahe mit dem Halblicht des Barackenganges verschmolz. Nur ihr Gesicht schimmerte fahl.
»Sie sind Lina, nicht wahr?«, sagte er leise. Das war der Name gewesen, den Alexej ihm damals genannt hatte. Zusammen mit der eindringlichen Bitte, seine Schwester zu finden.
»Eine Kurzform meines Vornamens. So wurde ich früher gerufen«, gab sie tonlos zurück. »Alexej hat mich nie anders genannt.«
Holland war noch immer über die Wirkung erschrocken, die seine Beschreibung der Geschehnisse in seiner Kidnapperin ausgelöst hatte. Als er an die Stelle gelangt war, an der sie Alexej Niroskin im Wald verhaftet hatten, war irgendetwas mit ihr passiert. Sie hatte plötzlich aufgeschluchzt und sich den Bauch gehalten, als würde sie von einem Krampf geschüttelt, und währenddessen war sie kreidebleich geworden. Die Gefühlswallung hatte kaum mehr als ein oder zwei Minuten gedauert, aber die Heftigkeit der Reaktion war Holland an die Nieren gegangen. Danach hatte er auch noch den Rest des Geschehens berichtet, doch Alina war den Ausführungen über Alexejs Befragung und seine Übergabe an Oberst Bolschakow nur noch unkonzentriert gefolgt. Als würde sie dieser Teil der Geschichte gar nicht mehr interessieren.
Einzig als Holland zuletzt das Medaillon erwähnt hatte, war ihr Kopf ruckartig nach oben gezuckt.
Nun starrte sie mit unbewegter Miene zu ihm herüber.
»Was haben Sie damals bloß angerichtet?«, flüsterte sie plötzlich.
»Wie bitte?« Holland zog verunsichert die Augenbrauen zusammen.
»Sie haben Alexej in einen Sumpf getrieben! Ahnen Sie überhaupt, was Sie ihm damit angetan haben?«
Holland wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Daher sagte er nur: »Ihrem Bruder ist nichts geschehen. Er hat bloß seinen Rucksack verloren. Dann ist er umgekehrt.«
»Es ist schon einmal passiert«, erwiderte Alina. Sie vermittelte den Eindruck, als wäre sie in Gedanken nicht hier in der Baracke, sondern ganz woanders.
»Was meinen Sie?«
»Er ist schon einmal in einen Sumpf geraten. Im Wald bei unserem Dorf. Alexej war erst sieben Jahre alt. Er wäre damals fast gestorben.« Alina sah auf den Boden. »Danach wurde er immer wieder von furchtbaren Angstträumen geplagt.«
»Das tut mir leid. Davon wusste ich nichts.« Holland erinnerte sich daran, wie sehr der Soldat nach seiner Gefangennahme gezittert hatte. Wie groß musste die Verzweiflung des Neunzehnjährigen gewesen sein, als er realisiert hatte, dass er zwischen dem Polizeikommando und dem Moor eingeschlossen war?
»Nichts tut Ihnen leid!«, brauste Alinas auf, und ihren Körper durchfuhr ein Beben. »Sie haben meinen Bruder gejagt, bis er nicht mehr weiterkonnte. Und dann haben Sie ihn erschossen wie einen Hund!«
»Unsinn!« Holland schnaubte. »Ich habe Ihnen erzählt, was passiert ist. Bis heute wusste ich nicht einmal, dass er ums Leben gekommen ist. Das können Sie mir jetzt glauben – oder Sie lassen es bleiben.«
»Genau das ist der Punkt. Ich glaube es Ihnen nicht!«
»Wieso sind Sie sich Ihrer Sache nur so verdammt sicher? Die Umstände von Alexejs Verhaftung haben Sie bis eben nicht gekannt. Der Wald, der Sumpf – das war Ihnen neu. Das hat Sie gerade kalt erwischt! Es war nicht zu übersehen. Daraus kann ich nur einen einzigen Schluss ziehen: Sie haben mir die ganze Zeit etwas vorgemacht. Sie haben keinen Schimmer, was damals wirklich geschehen ist.«
»Ich kenne das Ergebnis. Und darüber, Hauptmann Holland, gibt es keinerlei Zweifel.« Alina trat einen Schritt nach vorn. »Alexej hat den Ort seiner Festnahme als Leichnam verlassen. Ihr angebliches Verhör, die Übergabe an seinen Regimentskommandeur – das haben Sie sich alles nur ausgedacht, um Ihren eigenen Hals zu retten!«
»Und woher kenne ich dann die Details aus seinem Leben? Die Fakten, die mir Alexej bei seiner Vernehmung im Forstheim genannt hat? Nerownaja Poljana – sein Dorf. Lina – Ihren Kosenamen. Und wieso konnte ich Ihnen die Kinderfotos in dem Medaillon beschreiben?«
»Sein Wohnort stand in seinen Papieren. Meinen Kosenamen kann er Ihnen auch vor seiner Erschießung genannt haben. Vielleicht hat er in seiner Todesangst nach mir gerufen, bevor Sie ihn …« Alina stockte, aber sie hatte sich schnell wieder im Griff. »Und jeder weiß, dass die Leichen am Tatort durchsucht werden. Vermutlich haben Sie das Medaillon bei dieser Gelegenheit an sich genommen. Was ist übrigens damit geschehen?« Ihre Stimme bekam einen beißenden Unterton. »Haben Sie es verschwinden lassen? Oder wollten Sie es als Trophäe behalten?«
»Es wurde später konfisziert«, antwortete Holland mit trockener Stimme. »Von meinen Vorgesetzten.«
»Wie auch immer … Sie sind schuldig, Holland. Sie können nichts vorbringen, was Ihre Version der Ereignisse belegt!«
»Aber es gibt auch nichts, was dagegenspricht.«
»Oh doch! Sie ahnen gar nicht, wie viel es da gibt.«
»Schön! Das bringt unsere Unterhaltung an einen interessanten Punkt.« Holland trat ganz dicht an das Türgitter. »Bisher habe nur ich hier gesprochen. Jetzt sind Sie an der Reihe. Erzählen Sie Ihren Teil der Geschichte! Sagen Sie mir endlich, woher Sie die Vorwürfe gegen mich nehmen.« Er deutete auf die Pistole in Alinas Hand. »Oder ist die Jarygin Ihr einziges Argument?«
Alina verharrte für eine Weile still. Ein nachdenklicher Zug breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Schließlich hob sie den Kopf und meinte: »Gut, einverstanden. Ich werde es Ihnen sagen. Dann werden Sie sehen, dass jedes weitere Leugnen sinnlos ist.«
Mit einer entschiedenen Bewegung steckte sie die Waffe in ihren Hosenbund, achtete aber gleichzeitig darauf, einen sicheren Abstand zum Türgitter einzuhalten. Sie holte tief Luft, wie um sich noch einmal zu sammeln, dann begann sie zu erzählen.
»Alexej und ich, wir sind in Nerownaja Poljana bei unseren Großeltern aufgewachsen. Unsere Eltern sind bei einem Ernteunfall im Kolchos umgekommen, da war ich sieben und mein Bruder drei. Großvater und Großmutter haben all ihre Kraft darauf verwendet, uns trotzdem eine glückliche Kindheit zu schenken. Als Alexej sechzehn wurde, hat er eine Lehre als Fahrzeugmechaniker begonnen. Die Tätigkeit hat ihm gelegen, er gehörte zu den Besten in seinem Durchgang. Zwei Jahre später haben sie ihn zum Militärdienst eingezogen und nach Deutschland geschickt.«
Alina räusperte sich. Dann sprach sie weiter. »Anfangs hat er mir noch Briefe geschrieben, es schien ihm gut zu gehen, bis auf die üblichen Widrigkeiten, die man von der Armee so kennt. Aber nach vier Monaten blieben seine Briefe plötzlich aus. Zunächst habe ich mir nicht viel dabei gedacht; die militärische Post war ohnehin nicht die zuverlässigste. Doch dann erhielten wir eines Tages ein Telegramm von der Kommandantur, in dem man uns mitteilte, Alexej habe beim Dienstsport einen Zusammenbruch erlitten und sei noch auf dem Trainingsplatz gestorben. Zwei Wochen danach kam er in einem zugeschweißten Zinksarg nach Hause.«
Alina verstummte. In ihren Augen blitzten Tränen auf.
Holland fragte ungläubig nach: »Also … ist er beim Sport gestorben?«
»So hieß es zunächst. Auf dem Totenschein stand ›Herzversagen‹.«
»Wo wurde der ausgestellt?«
»In Deutschland. Von einem Militärarzt in seiner Garnison.«
»Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte …«
»Nein. Ist es nicht.« Alina wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Wir haben Alexej auf dem kleinen Friedhof von Nerownaja Poljana beerdigt und um ihn getrauert. Der Alltag im Haus meiner Großeltern war fortan niedergedrückt, aber es half nichts, wir mussten unser Leben irgendwie weiterführen. Ich habe damals in der Verwaltung von unserem Kolchos gearbeitet. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und zog weg. Nach Saratow, in unsere Bezirkshauptstadt. Dort nahm ich eine Stelle im Völkerkundemuseum an. Ganz langsam wurde der Schmerz weniger. Die Gedanken an Alexejs Tod wichen mehr und mehr der Erinnerung an sein Leben. Es begannen glücklichere Jahre. Ich konnte wieder unbeschwert sein.« Alina schluckte. »Bis die Briefe kamen.«
»Briefe? Von wem?«
»Von Alexej.«
»Was?« Holland hob verwundert die Augenbrauen. »Wie kann das sein?«
»Es waren Briefe, die er nie abgeschickt hatte. Ein deutscher Maurerlehrling hat sie 1996 bei Umbauarbeiten auf dem stillgelegten Militärgelände von Jüterbog zufällig gefunden. Sie waren in einer Mauernische an der Rückwand einer ehemaligen Panzerwerkstatt versteckt. Die Briefe trugen meinen Namen und die Anschrift unseres Dorfes. Der Junge hat sie alle in einen großen Umschlag gepackt und zur Post gebracht. Er hat es gut gemeint.«
»Und Ihre Großeltern haben sie Ihnen dann nach Saratow nachgesandt?«
»Ja. Damals lebten sie noch. Eine glückliche Fügung wollte es, dass sie vorher nicht selbst hineingeschaut haben. Es hätte ihnen das Herz gebrochen.«
Jetzt war es Holland, der tief Luft holte. Dann fragte er: »Was stand in den Briefen?«
»Alexej hat darin beschrieben, wie sie ihn in der Kaserne gequält haben. Seine eigenen Kameraden! Immer und immer wieder. Er muss durch die Hölle gegangen sein, und er war dabei ganz allein.« Alina ballte ihre grazilen Hände zu Fäusten. »Und dann hat der Anführer dieser elenden Banditen von ihm verlangt, bei einem Einbruch mitzumachen. Bei Deutschen. Mein Bruder wollte das nicht. Aber dieser Bastard hat gesagt, dass es ihm schlimm ergeht, wenn er sich weigert. Und dass er ihn umbringt, wenn er den Vorgesetzten etwas steckt. Alexej wusste sich nicht mehr zu helfen. Also hat er seine Flucht aus der Garnison geplant. Danach hören die Briefe auf.«
»Da haben Sie begonnen, an der offiziellen Todesursache zu zweifeln.«
»Ja. Auf einmal war alles wieder da. Die ganzen grausamen Erinnerungen. An die Ankunft des Sarges. Die Beerdigung. Die leeren Blicke von Großvater und Großmutter. Und diesmal kam noch etwas anderes dazu: die quälende Ungewissheit. Was war mit meinem Bruder wirklich passiert? Ich musste es wissen.«
»Was haben Sie unternommen?«
»Ich bin nach Moskau gefahren. Es gab damals eine Kommission, die widersprüchliche Todesfälle in der Armee zu Zeiten der Sowjetunion aufgearbeitet hat. Michail Gorbatschow hatte sie 1990 ins Leben gerufen. Daraufhin konnte man sich etwas erfolgversprechender nach dem Schicksal von Angehörigen erkundigen. Wenn man die nötige Geduld mitbrachte.«
»Und die hatten Sie.«
»Geduld vielleicht nicht. Aber eine unbändige Wut. Ich war mir sicher, dass sie den Herzinfarkt nur vorgeschoben hatten, um Alexejs Fahnenflucht zu verschleiern. Also bin ich in ein spartanisches Hotel gezogen und habe jeden Morgen aufs Neue in dem riesigen Gebäude des Verteidigungsministeriums an der Moskwa vorgesprochen. So lange, bis sie mich zu einem Offizier gebracht haben, der sich der Sache angenommen hat. Ich hatte Glück. Es war der Leiter der Nachforschungsstelle für die Landstreitkräfte. Ein ausgesprochen zuvorkommender Mann, der früher sogar einmal in Alexejs Garnison stationiert gewesen war. Er kannte Jüterbog, deshalb hat man ihm den Fall auch zugewiesen. Und er konnte mir tatsächlich helfen.«
»Weil er von den Ereignissen wusste?«
»Nein. Aber er hat für mich Erkundigungen eingezogen. Hat sich richtig ins Zeug gelegt. Und dann ist er fündig geworden. Irgendwo gab es wohl noch Alexejs alte Wehrdienstakte.«
»Und?«, fragte Holland vorsichtig. Jetzt war er wirklich gespannt. »Was stand drin in der Akte? Was hat der Mann gesagt?«
»Er hat bestätigt, dass Alexej keinen Herzinfarkt erlitten hat, sondern am 3. August 1986 von seiner Einheit desertiert ist. Und dass er vier Tage später, am 7. August, bei seiner Ergreifung erschossen wurde.«
»Erschossen – von wem?«
»Von der Volkspolizei der DDR!« Alinas Stimme hatte die Sanftheit und Verletzlichkeit, die sich während ihres Berichtes eingeschlichen hatte, mit einem Schlag wieder verloren.
In Hollands Magen breiteten sich heiße Wellen aus. »Das ist nicht möglich!«, entfuhr es ihm.
»Wieso sollte eine offizielle Militärakte lügen?«, gab Alina gereizt zurück.
»Und da stand mein Name?«, hakte Holland nach.
»Nein. Dort nicht.« Alina kam einen Schritt näher an die Gittertür. »Den habe ich erst vor drei Monaten herausbekommen. Durch einen Zufall. Ich denke, das Schicksal hat es einfach so gewollt. Nach meinem Besuch in Moskau wusste ich, was mit Alexej passiert war. Es war bitter, aber ich dachte, ich müsse sein Schicksal wohl nun so akzeptieren. Ich habe geheiratet, und als mein Mann vor zwei Jahren in die Botschaft nach Berlin versetzt wurde, bin ich mitgegangen. Am 8. Mai dieses Jahres ist es dann geschehen. An dem Tag, den Sie hier den ›Tag der Befreiung‹ nennen.«
»Was ist geschehen?«
»Ich war in meiner Funktion als Kulturvertreterin der Russischen Föderation zu einer Eröffnungsfeier eingeladen – in eine Ausstellung über den Alltag der sowjetischen Truppen in Ostdeutschland.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Ein Teil der Ausstellung widmete sich den Fahndungen nach desertierten Soldaten. Ahnen Sie etwas, Genosse Hauptmann?« Alina ließ eine Pause und sah Holland unverwandt an. Dann fuhr sie fort: »Sie können sich nicht vorstellen, wie schockiert ich war, als ich auf einer Schautafel plötzlich Alexejs Foto sah. Seine Flucht wurde als Beispiel angeführt. Die Ausstellungsmacher hatten den Fall in alten Polizeiakten der DDR gefunden.«
»Dann bin ich entlastet! Dort würde vermerkt sein, wenn ich Alexej erschossen hätte.« Holland atmete erleichtert aus. »Die Akten sind korrekt geführt worden.«
»Schön, dass wir uns diesbezüglich einig sind.« Alinas Augen flackerten triumphierend auf.
»Und? Was haben Sie denn nun in der Ausstellung so Tolles herausbekommen?«
»Dort wurde erklärt, dass in der Endphase der Fahndung nach Alexej eine geheime Spezialeinheit der Volkspolizei mit der Bezeichnung ›Diensteinheit IX‹ auf den Flüchtigen angesetzt war. Und dass ein gewisser Hauptmann Werner Holland das Kommando führte. Es war sogar ein Bild von Ihnen dabei, von Ihrer Ausbildung. Ich habe es in der Ausstellung gleich abfotografiert. Sie kennen den Schnappschuss ja schon.« Alina lächelte kalt und deutete zur Wand hinter Hollands Rücken. Dorthin, wo sein Porträt in Kampfmontur angepinnt war.
»Und? Was beweist das?«, fragte er gereizt.
»Das Foto beweist nichts. Aber der Einsatzbericht. Es ist übrigens Ihr eigener.« Alina zeigte erneut auf das Blatt an der Wand. »Ich habe ihn ebenfalls abfotografiert. Er ist auf der Rückseite.«
Holland durchmaß die Kammer, riss den Bogen mit seinem Foto von der Wand und drehte ihn um. Er blickte auf eine Kopie aus ihrem alten Dienstbuch. Eine handgeschriebene Tabelle. Zwischen den Linien fanden sich nur wenige Zeilen, und Holland erkannte darin seine ungelenke Handschrift. Hastig überflog er die alte Einsatznotiz:
Fahndung Soldat der SAR Niroskin, Alexej. Geb. 1967. Abgängig Garnison Jüterbog mit MPi AK-47 60 Patronen. Alarmierung der Diensteinheit 5. 8. 86 11:45 Verlorenwasser. Stärke 1:15. Soldat am 7. 8. 86 um 09:50 Uhr im Gelände bei Schlepzig durch Leiter DE IX Hptm. Holland gestellt.
Hollands Augen blieben an der Unterschrift hängen, die er damals an den Rand der Eintragung gekritzelt hatte. Ein flüchtiger Schriftzug, aber hinreichend leserlich. Ganz, wie es Vorschrift gewesen war.
»Nun, Hauptmann Holland? Wie war das, als Sie Alexej ›gestellt‹ haben?«, ertönte Alinas Stimme vom Gang. »War er gleich tot? Oder hat er geschrien, als ihn Ihre Kugeln getroffen haben?«
»Schwachsinn!«, brüllte Holland, knüllte das Blatt zusammen und ging auf Alina zu, bis ihn das Türgitter aufhielt. »Diese Notiz besagt lediglich, dass ich es war, der Alexej verhaftet hat. Aber das habe ich Ihnen auch ohne diesen Wisch schon erzählt.«
»Gestellt ist nicht verhaftet!«, fauchte Alina zurück.
»Hängen Sie sich jetzt an diesem einen Begriff auf? ›Gestellt‹ konnte alles Mögliche bedeuten. Verhaftung, Suizid, Anwendung der Schusswaffe … Das hieß lediglich, dass man des Täters habhaft geworden ist. Das war halt der Sprachgebrauch damals.«
»Eben. Es wurde bewusst unklar ausgedrückt. Warum wohl?«
»Was meinen Sie, was passiert wäre, wenn ich Ihren Bruder wirklich erschossen hätte! Da wäre ein riesiges Tamtam losgegangen. Und es hätte eine dicke Akte gegeben. Vernehmungen, Spurenbilder, Obduktionsbericht. Hingen die etwa auch in der Ausstellung?« Holland schlug mit der Faust gegen die Wand neben dem Gitter. »Nein! Weil ich Alexej lediglich verhaftet habe. Punkt!«
Alina schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Für sich genommen könnte ich Ihnen das vielleicht sogar abnehmen. Aber zusammen mit den Informationen aus Moskau ist das Bild schlüssig. Sie haben meinen Bruder liquidiert. Und dann wurde die Sache vertuscht. Das ist mir am 8. Mai klar geworden.«
»Und dann sind Sie nach Hause gegangen und haben einen geheimen Racheplan geschmiedet.«
»Ich habe erst noch ein wenig recherchiert. Über Sie, über die Diensteinheit IX. Dabei bin ich auf dieses nette Anwesen hier gestoßen. Ich war positiv überrascht. Es ist doch wie gemacht für unser Treffen, finden Sie nicht auch?«
Holland versuchte, Alinas Sarkasmus zu ignorieren. »Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte er.
»Jetzt machen wir eine Pause.« Und damit verschwand seine Kidnapperin in dem gegenüberliegenden Raum.
Holland legte seine Stirn erschöpft an das Gitter und sah, wie Alina in ihrem »Büro« zu einer Kühlbox ging und eine Plastikdose herausholte. Sie setzte sich mit dem Gesicht zu ihm an den Campingtisch und öffnete das Behältnis. Zum Vorschein kam ein Stapel eingeschweißter Sandwiches, die sie zuerst behutsam auswickelte und dann in scheinbarer Seelenruhe zu essen begann. Angesichts der Situation mutete Holland der Vorgang merkwürdig absurd an. Je länger er jedoch seine Kidnapperin beobachtete, desto mehr drang ihm sein eigener Hunger ins Bewusstsein – immerhin war es mittlerweile später Nachmittag, und er hatte seit dem Frühstück nichts Festes mehr zu sich genommen. Aber für ihn war offenbar keine Mahlzeit vorgesehen.
Holland ließ sich in die Knie sinken und angelte mit seinem Arm nach der Mineralwasserflasche, die ihm Alina nach ihrer Ankunft gnädigerweise überlassen hatte und die inzwischen fast leer war. Mit ein paar gierigen Zügen trank er den Rest der warm gewordenen Flüssigkeit aus, dann richtete er sich wieder auf und lehnte sich erneut gegen das Gitter.
In Gedanken rekapitulierte er die letzten Stunden, und er versuchte, seine Lage einzuschätzen. Obwohl er Alina die damaligen Ereignisse in aller Ausführlichkeit dargelegt hatte, schenkte sie seinen Worten offenbar keinen Glauben. Und das Tragische an der Sache war, dass er, wenn er für einen Moment ihre Perspektive einnahm, sie sogar verstehen konnte.
Unbändige Wut kochte in ihm hoch. Auf die verdammte Einsatznotiz in ihrem ehemaligen Dienstbuch. Und auf die ominöse Moskauer Akte, die der Volkspolizei die Verantwortung für den Tod Niroskins gab – und damit ihm persönlich, wenn man die Puzzleteile zusammenschob.
Gestellt durch den Leiter der DE IX Hptm. Holland.
Alina jetzt noch von seiner Unschuld zu überzeugen würde schwer werden. Die Frage war ohnehin, wie viel Zeit ihm überhaupt noch blieb, da Alexejs Schwester nun offenbar alle Einzelheiten der Tragödie zu kennen glaubte.
Durch das Fenster hinter Alinas Rücken drang das warme und freundliche Licht der Nachmittagssonne herein. Holland ließ seinen Blick nach draußen schweifen und versuchte, für einen Moment alle Gedanken an seine verfahrene Situation beiseitezuschieben. Er war ausgelaugt und müde. Das Schwelgen in der friedlichen Waldlandschaft wirkte beruhigend.
Aber plötzlich hatte er das Gefühl, dass in der Umgebung der Baracke etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Das einsame Reh, das sich auf der Wiese des Camps so lange Zeit gütlich getan hatte, war verschwunden. Dieser Umstand allein hätte seine Aufmerksamkeit nicht geweckt – wären da nicht die Vögel gewesen, die gerade in den Büschen hinter der Grundstücksgrenze wie panisch aufgestoben waren. Als hätte sie etwas verschreckt.
Oder jemand.
Holland blinzelte und suchte das Areal aufmerksam ab. Nein. Dort gab es nichts Auffälliges. Alles lag vor ihm wie bisher. Und doch rumorte diese Unruhe in seinem Hirn. Was hatte er übersehen?
Noch einmal ließ er den Blick schweifen.
Dann registrierte er es. Da flackerte ein Licht. Ganz hinten im Wald. Ein kleiner Punkt nur, aber scharf und hell. Und es war keine zufällige Reflexion. Das Flackern hatte einen bestimmten Rhythmus. Das waren Morsezeichen.
Hallo Keule!
Holland stockte. So hatten sie sich als Kinder immer genannt. Weil sie doch beste Kumpel gewesen waren. Er und … Silvio.
Und so hatten sie auch immer begonnen, wenn sie sich beim Spielen im Gelände mit Hilfe kleiner Spiegelscherben Licht-Nachrichten zugefunkt hatten.
Hallo Keule!
Immer wieder sendete der kleine Lichtpunkt jetzt im Wald von Verlorenwasser diese zwei Worte. Holland brauchte einen Augenblick, bis er die Konsequenz der Botschaft erfasste. Silvio war hier, und er ließ es ihn wissen.
Nachdem ihre Freundschaft vor vielen Jahren auf so enttäuschende Weise zerbrochen war, hatten sie sich weder gesehen noch angerufen. Aber Holland hatte von gemeinsamen Bekannten immer mal wieder etwas über seinen früheren Freund gehört. Demnach war Silvio nach der politischen Wende im Polizeidienst geblieben. Erst als Gruppenführer im neu gegründeten Spezialeinsatzkommando der Polizei in Potsdam, später in derselben Einheit als Leiter der Beratergruppe. Soweit Holland wusste, war Silvio bis heute im Geschäft. Und das konnte nur eines bedeuten: Da draußen im Wald steckte das SEK!
Holland wurde von einem hoffnungsvollen Rausch erfüllt. Dann hatten die beiden stromernden Kinder also doch weitergegeben, dass hier in der Baracke jemand mit einer Waffe bedroht wurde. Und die Polizei war so hellsichtig gewesen, gleich die Spezialisten ausrücken zu lassen. Ein Geiselbefreiungsteam aus Potsdam.
Holland schielte zu Alina. Seine Kidnapperin war noch immer mit ihren Sandwiches beschäftigt. Auch sie wirkte erschöpft, und soweit er es beurteilen konnte, zeigte sie keinerlei Interesse für Dinge, die sich außerhalb der Baracke abspielten. Anscheinend fühlte sie sich an diesem Ort absolut sicher.
Gut so!
Er sah wieder hinaus in den Wald. Der Rhythmus des blinkenden Lichts hatte sich mittlerweile verändert. Holland kniff die Augen zusammen und setzte im Kopf die unterschiedlich langen Leuchtzeichen zusammen. Dann hatte er die neue Botschaft entziffert:
Wir hören mit.
Noch eine gute Nachricht! Das hieß, dass die Aufklärer des SEK bereits eine Tonüberwachung der Baracke eingerichtet hatten, wahrscheinlich mit Lasermikrofonen, mit denen man auch über weite Distanzen Räume abhören konnte. Holland fragte sich, seit wann die Polizei schon vor Ort war und wie lange sie Alina und ihn bereits belauschte. Vermutlich erst seit Kurzem, denn er hatte den ganzen Nachmittag über regelmäßig aus dem Fenster geblickt und war sich fast sicher, dass die Lichtsignale erst in den letzten Minuten begonnen hatten.
Zumindest er selbst war inzwischen offenbar identifiziert worden, sonst hätte Silvio ihn nicht angemorst. Aber kannten sie da draußen auch Alinas Hintergrund?
Er musste ihnen helfen, musste sie mit so vielen Informationen wie möglich versorgen. Bedachtsam und unauffällig. So, dass seine Kidnapperin keinen Verdacht schöpfte …
Ein lautes Schaben riss Holland aus seinen Überlegungen. Alina hatte ihren Stuhl zurückgeschoben und war aufgestanden. Mit einer beiläufigen Geste stellte sie die leere Plastikdose beiseite, dann trat sie heraus in den düsteren Gang. Ihre Miene ließ keine Gefühlsregung erkennen.
»Hat’s geschmeckt?«, fragte Holland, und er konnte sich dabei einen bissigen Unterton nicht verkneifen.
Alina ging nicht darauf ein. »Sie schulden mir noch etwas«, sagte sie stattdessen.
»Ich schulde Ihnen nichts. Ich habe Ihnen alles erzählt, was passiert ist.«
»Und ich habe Ihnen gesagt, was in den Akten steht.« Alina zog die Pistole aus dem Hosenbund. »Demzufolge haben Sie das Wichtigste unterschlagen – Ihr Geständnis.«
»Auch wenn Sie hier mit Ihrer Jarygin-Pistole rumfuchteln und immer wieder drohen, mich zu erschießen – eine falsche Beichte werde ich nicht ablegen.«
»Warum sind Sie nur so arrogant und starrköpfig? Akzeptieren Sie endlich die Realität. Oder haben Sie mir vorhin nicht richtig zugehört?«
»Doch, das habe ich.« Holland nickte ernst. »Aber nun geht es mir wie Ihnen – ich glaube nicht, was ich da gehört habe!«
»Was?« Alina stieg Zornesröte ins Gesicht. »Wollen Sie etwa behaupten, ich hätte Sie angelogen?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt.«
»Ach nein? Sondern?«
»Ich denke, dass man Sie in die Irre geführt hat.«
»Das ist doch Unsinn!« Alina schnaufte. »Wer soll mich denn in die Irre geführt haben?«
»Dieser Offizier in Moskau. Der Leiter der Nachforschungsstelle. Bei Ihrem Besuch im Verteidigungsministerium.«
»Wieso hätte er das tun sollen?«
»Vielleicht, um Alexejs wahre Todesumstände zu verbergen?« Holland hielt den Kopf schräg. »Das Militär hat Sie schon einmal getäuscht, Alina, erinnern Sie sich? Alexejs Herzinfarkt beim Sport in der Kaserne. Der Totenschein – ein lupenreines Dokument … und trotzdem eine Lüge.«
»Klingt einleuchtend.« Alina sah auf. Dann erschien ein hintergründiges Lächeln auf ihrer Miene. »Ihre Theorie hat nur einen Haken. Der Moskauer Offizier genießt mein absolutes Vertrauen.«
»Wieso das? Weil er so zuvorkommend war? Oder weil er so eine schicke Uniform trug?«
»Nein«, entgegnete Alina unbeirrt. »Weil sein Name Grigorij Janow lautet. Und weil ich seit neun Jahren mit ihm verheiratet bin.«
Für einen Moment war Holland sprachlos. Alina ist im Ministerium ihrem zukünftigen Gatten begegnet. Dann war es klar, dass sie nichts auf ihn kommen ließ.
»Nur, damit ich das richtig begreife … Sie haben Ihren Ehemann Grigorij Janow, der jetzt stellvertretender Militärattaché in der russischen Botschaft in Berlin ist, in Moskau kennengelernt?«, fragte er etwas umständlich nach, auch, um die Informationen an das mithörende SEK weiterzugeben.
»So ist es.« Alina konnte nicht verbergen, dass sie Hollands Verblüffung genoss. »Das war damals eine sehr aufwühlende Zeit für mich. Grigorij war der Einzige, der mich mit meinen Fragen nach Alexejs Schicksal nicht alleingelassen hat. Er war ohne Zögern für mich da. Und wir haben uns ineinander verliebt.« Ein sanftes Strahlen überflog ihr Antlitz. »Unsere Hochzeit fand noch im selben Jahr statt.«
»Dann verstehe ich das Vertrauen, das Sie in ihn setzen«, meinte Holland. Er ließ eine kurze Pause, bevor er behutsam hinzufügte: »Aber Grigorij ist nicht nur Ihr Ehemann. Er ist auch Offizier – und damit weisungsgebunden. Das bringt ihn in eine besondere Lage. Glauben Sie mir, Alina, ich weiß, wovon ich spreche.« Holland zog seine Stirn in Falten. »Meinen Sie nicht, er könnte Alexejs Tod aus dienstlichen Gründen etwas anders dargestellt haben, als er sich in Wirklichkeit zugetragen hat?«
»Nein! Wie können Sie so unverfroren sein, meinen Mann der Lüge zu bezichtigen?«
»Ganz einfach.« Holland nahm Alina fest in den Blick. »Weil ich weiß, dass ich Alexej nicht erschossen habe.«
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen.
»Es wird Ihnen nicht gelingen, mich zu manipulieren«, sagte Alina dann frostig. »Ich vertraue Grigorij. Ohne jede Einschränkung.«
»Dann habe ich eine Frage an Sie. Als Sie am 8. Mai diese Ausstellung in Berlin besucht haben, war da Ihr Mann dabei?«
»Nein. Er hatte an dem Nachmittag einen anderen Termin.«
»Aber Sie haben ihm sicher später davon berichtet.«
»Natürlich. Noch am selben Abend.« Alina sah Holland misstrauisch an. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Was hat er dazu gesagt?«
»Nicht viel. Er hat mich in den Arm genommen. Und er hat gemeint, dass jetzt endlich alles vorbei sei.«
»Vorbei?«
»Abgeschlossen. Dass ich Alexej nun endgültig und in Frieden gehen lassen könnte.«
»Aber das war nicht Ihre Intention.« Holland hob die Hände. »Sonst stünden wir jetzt nicht hier.«
»Nein, das war sie nicht.«
»Hat Grigorij Ihnen nicht seine Unterstützung angeboten, um den Fall noch einmal aufzurollen? Zum Beispiel, damit zur Polizei zu gehen?«
»Nein. Er wollte, dass ich die Sache auf sich beruhen lasse. Die alten Wunden sollten nicht noch einmal aufreißen.«
»Fanden Sie das nicht merkwürdig?«
»Er wollte nur das Beste für mich.«
»Sind Sie da ganz sicher?«
Alina gab ihm keine Antwort.
»Vielleicht hatte er ja noch ein anderes Motiv«, brachte Holland hervor, nachdem er einige Sekunden abgewartet hatte. »Ich will Ihrem Mann nicht zu nahetreten. Ich möchte Sie nur bitten, wenigstens in Erwägung zu ziehen, dass es für den Tod Ihres Bruders auch eine andere Erklärung geben könnte.« Er nickte in Richtung von Alinas Pistole. »Bevor Sie vielleicht etwas tun, was Sie sich später vorwerfen.«
Holland beobachtete Alinas Züge. Er hatte sie nicht überzeugt, das konnte er ihr ansehen. Aber er spürte, dass in ihr ein kleiner Zweifel aufspross. Und er wusste, dass er dieses zarte, hoffnungsvolle Pflänzchen pflegen musste. Auch wenn nicht zu erwarten war, dass Alina ihr Unternehmen völlig aufgab. Dafür war sie schon viel zu weit gegangen. Aber vielleicht gelang es ihm, etwas mehr Zeit zu gewinnen. Zeit, die das SEK zur Vorbereitung seiner Befreiung dringend brauchen würde.
»Alina, geben Sie mir eine Chance! Jedem Angeklagten steht es zu, dass vor einer Verurteilung alle Argumente geprüft werden.« Er zwang sich, nicht zum Fenster zu sehen. »Sie verlieren dabei nichts.«
»Meinetwegen.« Alina hob trotzig den Kopf. »Nehmen wir nur mal einen Moment lang an, Ihre Geschichte wäre tatsächlich wahr: Sie haben Alexej verhaftet und ihn dann auf Befehl Ihres Chefs an seinen Regimentskommandeur übergeben. Was ist danach mit ihm passiert? Und warum haben Sie nicht nach mir gesucht, obwohl Alexej Sie darum angefleht hat? Warum haben Sie ihn im Stich gelassen?«
»Ich habe ihn nicht im Stich gelassen!« Holland atmete tief durch, und er spürte, wie ein lang unterdrückter Zorn Besitz von ihm ergriff. »Sie wissen nicht, was Sie da sagen! Und Sie haben keine Ahnung, wie weit ich gegangen bin, um Ihrem Bruder zu helfen!«