Warum? Warum war er hier? In dieser Zelle? In diesem Loch?
Es war dunkel und kalt. Hinter den Milchglasscheiben des Fensters lag die rabenschwarze Nacht. Die Heizung war ausgestellt. Andreas krümmte sich auf der Holzpritsche zusammen und zog die dünne Decke notdürftig über seinen frierenden Körper. Eine Weile nagte er an seinem Fingerknöchel, der schon ganz wund war.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn in den Arrest brachten. Jetzt noch. War nicht alles vorbei? Seit drei Tagen hatten sie hier, im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, fieberhaft damit begonnen, die Gitter von den Fenstern abzumontieren. Nur einige Zellen waren noch vergittert. Zum Beispiel diejenige, in der er jetzt war. Es roch wie immer hier. Als wäre nichts geschehen. Aus dem Eimer, der in der Ecke stand, kam dieser ekelerregende Dunst. Es stank nach Urin und Chlor. Er konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen. Ihm wurde übel davon.
Natürlich hatten die Erzieher nichts erklärt. Sie erklärten nie etwas. Aber da draußen musste was passiert sein. Fast alle Jugendlichen waren schon weg – auf Transport gegangen, wohin auch immer. Nur er, Maik und Tanja steckten noch in diesem grauen Haus fest. Aber es konnte nicht mehr lange dauern, oder? Höchstwahrscheinlich morgen oder übermorgen würde er hier rauskommen. In die sogenannte Freiheit oder, na ja, … zurück in den alten Jugendwerkhof nach Burg. Burg bei Magdeburg. Und von dort konnte er leicht wegrennen.
Irgendetwas klapperte – auf dem Gang oder in der Zelle nebenan. Ein metallisches Geräusch. Kam die Nachtwache mit dem schweren Schlüsselbund und kontrollierte den Zellentrakt der Jungen? Obwohl es nicht mehr viel zu kontrollieren gab. Der Jugendwerkhof Torgau wurde aufgelöst. Wer hätte das gedacht?
Konnte man die Hölle denn auflösen?
Andreas lauschte. Meist erkannte er schon am Klang der Schritte, wer kam. Stets war er gewappnet und vorgewarnt. In der Zelle gab es für ihn absolut nichts zu tun, und so achtete er auf jedes Geräusch.
Die Töne wurden lauter. Er hörte jetzt auch Stimmen. Einen Streit? Die Mauern waren zu dick, um auch nur hin und wieder ein Wort zu verstehen. Etwas knallte auf den steinernen Boden. Andreas zuckte zusammen. Jemand fluchte. Stöhnte. Vor Schmerz? Vielleicht arbeiteten sie ja auch nachts weiter, um möglichst schnell möglichst viele Spuren zu verwischen. Und jemandem war ein Werkzeug auf den Fuß gefallen? Andreas grinste nervös, als er sich das vorstellte.
Das Fluchen wurde lauter, aber es schienen nur Laute zu sein, keine Worte, und es verstummte bald. Eine Weile war nichts mehr zu hören. Dann sagte der Unbekannte etwas. Eine andere Stimme antwortete. Leise. Kurz. Bedrohlich. Es klang … eher wie ein Bellen, Knurren … dann wie ein Winseln. Aber nicht wie von einem Hund.
Andreas presste das Ohr jetzt an das kalte Gemäuer und lauschte angestrengt. Wieder Geräusche. Ein dumpfer Schlag. Etwas donnerte gegen die Wand. Oder? Das sind sicher nur die Bauarbeiter, versuchte er sich zu beruhigen. Vielleicht reißen die jetzt alles ab, auch die Mauern.
Aber sein Herz glaubte seinem Kopf nicht, schlug wie wild. Noch ein unterdrückter Schrei. Ein Ächzen, das irgendwie wütend klang. War das etwa Maik? Wehrte er sich gegen das Eingesperrt-Werden? Das wäre nicht das erste Mal. Aber es hörte sich nicht nach ihm an; seine Stimme würde er doch erkennen. Dann war es plötzlich still.
Der schnelle Herzschlag, seine Angst, ließen ihn nicht einschlafen. Was passierte da?
Als er sich ein Stück aufrichtete, bemerkte er, dass die Zellentür einen Spaltbreit offen war. Erstaunt schob er sich von der Pritsche. Stand der Erzieher draußen und wartete auf Andreas? War es vielleicht schon der nächste Morgen? Hatte er die üblichen Wecksignale überhört? Das Donnern mit dem Schlüsselbund gegen die Tür? Kaum möglich, dass einen dieser Lärm nicht aus dem Schlaf riss.
Er warf einen schnellen Blick durch den Schlitz.
Nichts. Alles schien ruhig. Seit die meisten weg waren, kam er sich noch verlassener vor.
Zögernd schlich er sich hinaus auf den Gang des Jungentraktes.
Niemand zu sehen. Keiner von der Wache oder vom sonstigen Personal. Wer hatte aufgeschlossen? Wieso kam kein Erzieher, der die übliche Meldung von ihm verlangte?
Andreas spürte etwas unter seinem Fuß, trat zurück und bückte sich. Stopfte das Fundstück blitzschnell in die Hosentasche.
Ein Feuerzeug, ausgerechnet, kein billiges, sondern so eins aus Metall. Wegen einem Feuer war er hier gelandet. Wenn sie ihn damit erwischten, kam er wieder in den Arrest. Andreas zuckte mit den Schultern. Und wenn schon.
Die Tür der Nachbarzelle stand ebenfalls weit offen. Eine Schildkrötenlampe verbreitete ihr matt düsteres Licht.
Komischerweise sah Andreas zuerst, dass oben das Gitter fehlte. Auch das Fenster selbst war weg. Etwas ragte in den Raum hinein. Ein Ding von draußen. Das Ende eines Bretts, auf dem normalerweise die Bauarbeiter entlangliefen. Eine Metallkonstruktion war darum herumgebaut. Wie dürre Arme aus Metall, die etwas festhielten. Etwas umklammerten, würgten … Sein Hirn suchte nach einer Erklärung. Nach einem Sinn hinter dem Bild, das er sah.
Doch er fand keinen. Eine Weile stand er einfach so da.
Er dachte das Wort Gerüst, als er den Mann musterte, der an der Stange hing. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, geschwollen; der Ausdruck darin kam Andreas irgendwie beschämt vor, der Kopf baumelte nach unten, als wollte der Leblose noch prüfen, ob seine Schnürsenkel ordentlich gebunden waren.
Die Schnürsenkel waren hier sehr wichtig. Sie mussten immer korrekt auf- und zugebunden werden. Nur in der Zelle hatte man keine. Damit man sich nicht erhängen konnte. Wenn die Traurigkeit in einem drin zu groß wurde. Wenn dieses Gefühl alles andere, die Seele und so weiter sprengen wollte.
Andreas senkte den Blick vor dem Toten und schlurfte in seinen schnürsenkellosen Schuhen weiter. Er musste Maik finden. Wahrscheinlich schlief er in einem der Doppelstockbetten des Gruppenschlafsaals oder hockte in einer der anderen Arrestzellen. Träumte von der Freiheit, die schon vor der eisernen Pforte stand. Irgendwo da draußen wartete ein anderes, nein, das richtige Leben auf sie.
Er musste Maik erzählen, was passiert war.
Wirklich wahr?, hörte er ihn schlaftrunken murmeln. Andreas würde beteuern müssen, dass er sich nicht irrte, dass er ihn wirklich gesehen hatte. Mit einem Seil um den Hals. Mausetot. Und dann würde Maik die Arme nach oben reißen, wie bei einem Fußballspiel, das sie nach vielen Niederlagen gewonnen hatten.
Andreas lächelte, aber seine Zähne klapperten dabei.
Als er den Gruppenraum beinahe erreicht hatte, sah er einen Schatten. Jemand lehnte dort an der Wand, als müsste er sich von einer anstrengenden Arbeit ausruhen. Dann löste sich der Schatten, wurde zu einer dunklen Gestalt, die sich auf die Tür zubewegte und durch das Guckloch in den Schlafsaal der Jungen starrte, in dem Maik höchstwahrscheinlich gerade schlief, bis er irgendwann aufwachte, sein Bett bauen würde: das Laken akkurat glatt ziehen, die Decke Kante auf Kante legen, so wie es hier Vorschrift war.
Andreas hielt den Atem an. Seinem Instinkt gehorchend, zog er sich die Schuhe von den Füßen, schlich auf Zehenspitzen zurück in seine Zelle. Zog die Tür vorsichtig hinter sich zu.
Als er auf der Pritsche lag und so tat, als würde er schlafen, hörte er Schritte.
Sie stoppten vor der Tür. Und er nahm dieses leise schabende Geräusch wahr, wenn jemand die Klappe des Spions beiseiteschob, um zu ihm hineinzuglotzen.
Er wusste, wer da draußen stand.