Beate Vogt wartete im Besucherraum des Jugendwerkhofs auf die Jugendliche Tanja Wolter. Außer einfachen Stühlen und Sprelacart-Tischen gab es nichts in dem Zimmer. Kein Bild, keine Topfpflanze, nur die nackten Wände.
Lehmann überließ es ihr, die Jugendlichen zu befragen. Nach wie vor hielt er an seiner Selbstmordthese fest. Auch glaubte er, dass die Insassen nichts vom Geschehen mitbekommen haben konnten, da sie ja Tag und Nacht eingeschlossen waren.
Das erste Gespräch mit dem sechzehnjährigen Maik Kerner war tatsächlich ergebnislos verlaufen.
Er hatte nur widerwillig auf ihre Fragen geantwortet und keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich über den Tod des Direktors freute. Als sie den Grund erfahren wollte, sagte er nur: »Schauen Sie sich doch einfach um, wie wir hier hausen müssen. Vielleicht geht Ihnen dann ein Licht auf.« Offenbar wollte er nicht deutlicher werden. Er wirkte nervös, blickte sich während des Gesprächs einige Male um. »Wir haben alle Angst vor ihm gehabt«, flüsterte er ihr auf einmal zu, schaute kurz zur Tür, als könnte der tote Direktor plötzlich in den Raum marschiert kommen. »Der hatte einfach die absolute Macht. Konnte tun und lassen, was er wollte. Verstehen Sie?«
Beate hatte nicht geantwortet. Nur registriert, dass sich die Härchen auf ihren Unterarmen vor Unbehagen aufrichteten. »Und Sie haben also nichts mitbekommen in der vergangenen Nacht? Nichts gesehen oder gehört? Keine besonderen Vorkommnisse?«
Der Junge lachte auf, und Beate Vogt musterte ihn irritiert. Er trug einen blauen Arbeitsanzug, war blass, hager, hatte schlechte Zähne und einen kurzen militärischen Haarschnitt, der nicht zu ihm zu passen schien.
Maik war plötzlich aufgesprungen und sie daraufhin erschrocken zusammengefahren. »Jugendlicher Kerner meldet: Keine besonderen Vorkommnisse, Frau Polizistin!«
Gerade als sie ihn ermahnen wollte, sich zu setzen, ließ er sich auch schon wieder auf seinen Holzstuhl fallen und grinste sie an. »So müssen wir uns melden, wenn wir einem Erzieher begegnen. Und wenn das auf dem Gang geschieht, muss man fragen, ob man vorbeigehen darf.«
»Jedes Mal?«
Maik hatte genickt. »Klar, jedes Mal.«
»Warum sind Sie in den geschlossenen Jugendwerkhof eingewiesen worden?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich hab mich eben nicht benommen. Nicht so, wie die Erzieher in Freital es wollten.«
»In Freital war der Jugendwerkhof, in dem Sie vorher gewesen sind?«
»Ja. Ein Werkhof nur für Jungen. Wir mussten da im Dreischichtsystem im Edelstahlwerk schuften.«
»Was meinen Sie damit, Sie hätten sich nicht benommen?«
»Hab meine Klappe nicht gehalten. Mich beschwert, wenn die uns schikaniert haben. Und bin ein paar Male aus dem Werkhof da weggelaufen. Das genügte schon, um hier zu landen.«
»Und wo sind Sie dann hin, wenn Sie entwichen sind?«
»Ich hatte eine Käte in Dresden. Also, das heißt auf Deutsch ’ne Freundin. Die Einrichtung in Freital war nicht besonders gut bewacht, und bis Dresden war es nicht weit.«
»Wie war Ihre Beziehung zu dem Direktor Zinkner?«
Maik hatte aufgelacht. »’ne Beziehung hatte ich zu dem nicht. Da fragen Sie den Falschen.«
»Ich meinte, wie das Verhältnis war zwischen den Jugendlichen und …«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt!«, unterbrach sie der Junge gereizt. »Alle hatten Schiss vor dem. Der konnte richtig fies werden. Und der Direktor Zinkner bestimmt komplett über den Laden. Bestimmte , besser gesagt.«
Beate hatte sich ein paar spärliche Notizen gemacht, sich schließlich erhoben und Maik die Hand gereicht. »Danke für Ihre Aussage. Falls Ihnen noch etwas einfällt …«
Der Junge zögerte, ihren Gruß zu erwidern, und als er es schließlich doch tat, spürte sie, dass seine Finger eiskalt waren. Mit einem erstaunten Ausdruck im Gesicht, der nicht zu übersehen war, hatte er kräftig zugedrückt und so schnell nicht losgelassen.
Kurz nachdem Maik von einem Erzieher abgeholt worden war, öffnete sich die Tür erneut, und eine große, kräftige Frau trat ein und schob ein Mädchen mit kurzen Haaren vor sich her, das ebenfalls blaue Arbeitskleidung trug.
»Tanja Wolter?«
Die Jugendliche nickte stumm.
»Setzen Sie sich bitte!«
»Sie brauchen mich nicht zu siezen«, sagte Tanja und lächelte plötzlich.
»Das entscheidet wohl die Polizistin selbst!«, zischte die Frau, die das Mädchen am Oberarm festhielt, als könnte sie in diesem vergitterten Bau weglaufen.
Tanja sagte nichts dazu, aber das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
»Verstanden, Jugendliche Wolter? Und jetzt setz dich gefälligst!«
Das Mädchen folgte dem Befehl und starrte vor sich hin auf die Tischplatte.
»Und Sie sind …?« Diesmal hatte Beate keine Lust, per Handschlag zu grüßen.
»Hildegard Hellermann. Erzieherin.« Einen Moment sah die Frau so aus, als wollte sie vor der Polizistin salutieren.
»Mein Kollege Lehmann und ich werden auch noch das Personal befragen. Jetzt können Sie bitte gehen.«
»Auf Anweisung des Genossen Direktors lassen wir die Jugendlichen nicht ohne Aufsicht mit den Besuchern. Schon gar nicht, wenn es Fremde sind.«
Beate unterdrückte ein Grinsen. »Wir sind nur keine Fremden. Wir sind die Kripo!«, sagte sie mit einem Anflug von Spott. »Die Befragungen sind vertraulich, verstehen Sie?«, fügte sie schnell hinzu.
Die Erzieherin sah plötzlich verwirrt aus.
»Eigentlich müsste … müsste ich … ihn fragen. Also, den Genossen Zinkner … Aber da er ja …«, stammelte sie. »Da er ja sozusagen nicht mehr unter uns weilt …« Das klang, als könnte sie das nicht glauben, als würde ihr jemand nur einen makabren Streich spielen. Die Frau wandte sich zum Gehen, ohne den Satz zu beenden.
Beate Vogt blickte ihr nach und wartete, bis sie die Tür mit einem lauten Rums hinter sich schloss. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Mädchen.
Tanja war kreideweiß geworden. Ihre dunklen Augen sahen groß und erschrocken aus.
»Ist er wirklich …?«, fragte sie. »Ist er wirklich tot ?«
Beate nickte. »Der Direktor, Herr Zinkner, ist letzte Nacht verstorben.«
»Das kann gar nicht sein«, murmelte Tanja. »Ich hab ihn gestern noch gesehen. Er saß da, wo Sie jetzt sitzen!«
»Ich verstehe, dass Sie …, dass du …«
»Ich glaub das nicht!«, schrie Tanja mit plötzlich veränderter Stimme und schüttelte energisch den Kopf. »Ist das wieder irgend so ein Trick? Steckt er dahinter? Will er mich testen? Sie sind gar keine Polizistin, oder?« Tanjas weit aufgerissene Augen starrten sie an, als versuchte sie zu ergründen, was Beate tatsächlich beabsichtigte.
»Doch, Tanja, tut mir leid, ich ermittle in dem Fall. Entschuldige, ich habe mich dir gegenüber noch gar nicht ausgewiesen …« Beate zog ihren Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn der Befragten unter die Nase. »Es ist kein Trick. Wie kommst du darauf?«
Tanja schwieg einen Moment. Dann holte sie tief Luft. »Das darf doch alles nicht wahr sein. Was ist passiert? Wieso ist er …«
»Das müssen wir erst noch herausfinden.«
Tanja fuhr sich fahrig über das Gesicht, rieb sich die Stirn und die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen.
Beate lehnte sich zurück und ließ dem Mädchen einen Moment Zeit, sich zu sammeln. Wieso reagierte sie so heftig auf die Todesnachricht? Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Warum hast du gedacht, dass der Direktor dich testen will?«, hakte sie schließlich nach.
Tanja senkte die Lider. »Nur so. Man wird doch ständig belogen … von den Erwachsenen.«
Sie sprach auf einmal leise und konzentriert. Sie ist jetzt auf der Hut, so schien es Beate. In den folgenden Minuten antwortete Tanja höflich, aber einsilbig auf die Fragen. Viel Neues erfuhr Beate nun nicht mehr.
»Wann und bei welcher Gelegenheit hast du den Direktor das letzte Mal gesehen?«
»Na, gestern. Meine Eltern haben mich besucht.«
»Und Herr Zinkner war dabei?«
Tanja nickte. »Er ist … ähm … war überall dabei, wo er dabei sein wollte. Jedenfalls bei mir.«
»Ist dir etwas an ihm aufgefallen? Hat er sich irgendwie anders verhalten als sonst?«
»Nein. Mir ist nichts aufgefallen.«
»Auch Kleinigkeiten könnten schon bedeutsam sein.«
Tanja saß einen Moment wie erstarrt da. »Ist er … hat ihn jemand … umgebracht ?«
»Wie kommst du darauf?«
Sie kaute eine Weile auf ihrer Unterlippe herum. »Na, weil Sie hier sind und Ihre Kollegen. Sie kommen ja wohl nicht zum Spaß.« Beim letzten Wort stiegen Tanja Tränen in die Augen und rannen über ihre Wangen. Sie versuchte nicht, sie wegzuwischen.
»Da hast du recht«, antwortete Beate und verbarg ihre Verwunderung über den Gefühlsausbruch, so gut sie konnte. »Wir ermitteln in alle Richtungen.«
Andreas Schwalbe, mit seinen gerade mal vierzehn Jahren der Jüngste und Kindlichste der drei Jugendlichen, steckte in seinem blauen Arbeitsoverall wie in einem Sack. Sein Haar wirkte frisch geschoren, seine leicht abstehenden Ohren leuchteten rot.
Beate bemühte sich, während sie mit ihm sprach, seinen Blick einzufangen. Aber er schaute stets auf seine Hände oder auf den Fußboden. Ihre Fragen beantwortete er mit einem Achselzucken oder so leise, dass sie nachfragen musste.
»Du magst wohl nicht mit mir reden?«, fragte sie schließlich.
»Sie sind doch Polizistin, oder?«
»Ja.«
»Na, ich hab schlechte Erfahrungen mit den Bullen gemacht.«
Beate zuckte zusammen. Dann bemühte sie sich um ein Lächeln. »Wenigstens bist du ehrlich. Aber ich bin nicht wegen dir hier, sondern um einen Fall aufzuklären. Es ist jemand gestorben. Und wir müssen herausfinden, wieso und was passiert ist.«
Andreas schwieg auch dazu. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er von dem Toten bereits wusste. Sonst hätte er doch bestimmt nachgefragt.
»Willst du nicht wissen, wer gestorben ist?«
Der Junge zuckte mit den Achseln und betrachtete ausgiebig seine Hände.
»Was machst du da eigentlich?«
»Die Fingernägel müssen sauber sein«, antwortete er. »Sie werden kontrolliert. Das ist sehr wichtig.«
»Wichtiger als ein Toter?«
Er schüttelte den Kopf. Aber er blickte immer noch nicht zu ihr auf.
»Herr Zinkner, der Direktor, ist letzte Nacht gestorben.«
Der Junge nickte und fummelte weiter an seinen Fingern herum. Offenbar erzählte sie ihm nichts Neues.
»Hat dir Maik schon mitgeteilt, was passiert ist?«
»Nee.«
»Er hat dir nichts gesagt?«, fragte sie erstaunt nach.
»Ging ja nicht. Er saß die letzten zwei Stunden in einer Zelle, ich in einer anderen. Damit wir nicht reden können, denk ich mal«, erklärte Andreas. »Also wegen Ihnen!« Auf einmal sah er sie bockig an.
Sein Blick machte sie nervös. Vierzehn, dachte sie. Er ist erst vierzehn. Und irgendwie wirkte er noch jünger. Er kam ihr vor wie ein einsamer Zwölfjähriger.
»Verstehe. Das tut mir leid, wirklich. Es wäre trotzdem schön, wenn du mit mir reden würdest.«
»Mach ich doch.«
»Na gut. Der Direktor: Was war er deiner Meinung nach für ein Mensch?«
»Weiß ich nicht. Hab ihn ja kaum gesehen. Nur beim Appell. Oder beim Antreten im Gang. Da stand er manchmal plötzlich hinter uns. Und am Anfang, als ich nach Torgau kam. Da musste ich zum Gespräch.«
»Worüber habt ihr geredet?«
»Ich hab gar nichts gesagt. Herr Zinkner hat gesagt, dass ich mich benehmen soll, und er hat mir Angst gemacht.«
»Angst gemacht?«
»Wenn ich mich nicht normgerecht verhalte, werde ich bestraft. Und muss länger bleiben als geplant.«
»Weswegen bist du hier?«
»Hab in meinem alten Werkhof gezündelt.«
»Was meinst du damit?«
Andreas seufzte und verdrehte die Augen. »Na, was angezündet.«
»Und was?«
»Eine Decke in der Arrestzelle. In meinem Stammjugendwerkhof. In Burg.«
Beate schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Das war sehr leichtsinnig. Du hast dich selbst und andere in Gefahr gebracht. Du hättest sterben können.«
Wieder zuckte Andreas mit den Schultern. Es wirkte durch und durch gleichgültig. »Mich vermisst doch sowieso keiner«, murmelte er.
Jetzt wusste Beate auf einmal nicht, wohin sie blicken sollte. Mist! So ein Mist! Sie musste aufpassen, dass sie professionell blieb, die Fragen stellte, die sie stellen sollte. Trotzdem fühlte sie Mitleid wie eine kurze kräftige Welle in sich hochschwappen. Mit vierzehn sollte man so einen Satz nicht sagen müssen. Sie räusperte sich.
»Hast du in der vergangenen Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt? Ich meine: komische Geräusche, Stimmen, Krach …«
»Ich weiß, was Sie meinen.«
»Schön. Dann erzähl mal.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du hast nichts bemerkt? Oder willst mir nichts sagen?«
»Beides.«
»Hm. Das ist schade. Du könntest uns vielleicht helfen herauszufinden, was passiert ist.«
»Selbst wenn es so wäre«, sagte Andreas plötzlich mit heller, fast schriller Stimme. »Dann spazieren Sie nachher raus, und ich bin immer noch hier drin!«
Beate schluckte. Womöglich hatte er recht. Wenn die Jugendlichen etwas ausplauderten, schwebten sie vielleicht in Gefahr. Ausschließen konnte sie es jedenfalls nicht.
»Ich werde natürlich niemandem etwas von unserem Gespräch erzählen«, sagte sie. Außer Lehmann und den Kollegen, und wer weiß, an wen die diese Informationen weitergeben, setzte sie in Gedanken hinzu.
»Vielleicht ist dir ja was aufgefallen? Etwas, das anders war als sonst?«
Andreas schwieg eine Weile. Er legte seine Hände auf den Tisch, als wollte er ihr zeigen, wie sauber seine Fingernägel waren.
»Meine Zellentür war aufgeschlossen«, sagte er schließlich leise. »Sie stand morgens ein Stück offen, obwohl sie wie immer verriegelt und zugeschlossen wurde, als sie mich da reingesteckt haben.«
Beate nickte ihm aufmunternd zu. »Das könnte ein wichtiger Hinweis sein. Wie läuft das denn normalerweise am frühen Morgen ab?«
»Ein Erzieher kommt, schließt auf, und man muss gerade stehen und Meldung machen.«
»Das war diesmal also anders?«
Andreas nickte.
»Was hast du getan, als du gemerkt hast, dass die Tür offen stand?«
»Nichts weiter«, sagte er schnell. »Rausgeschaut. Da war niemand. Jedenfalls hab ich keinen gesehen und mich wieder auf die Pritsche gelegt.«
»Weil du noch müde warst?«
»Genau.«
Beate blickte auf die Kinderhände auf dem Tisch. »Kann ich verstehen, Andreas. Ich bin auch oft müde, wenn ich früh aufstehen muss.«
In so einem Käfig zu leben würde jeden zermürben, dachte sie.
»Welche schlechten Erfahrungen mit der Polizei hast du denn gemacht?«, wollte sie zum Ende des Gesprächs wissen.
»Die haben mich hierhergebracht.«